Es schreibt: Marie Brunová

(11. 1. 2024)

„Ein im jüdischen Milieu im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert geborener Intellektueller sah sich einem weitaus komplexeren Geflecht von Identitätsangeboten gegenüber als sein schreibender ,Mitjude‘ in Deutschland oder Frankreich. Das begann schon mit der Frage: wird er jiddisch, gar hebräisch, polnisch, tschechisch, deutsch, ungarisch, russisch oder … schreiben? Welches der zahlreichen Identitätsangebote wird er annehmen (es gab immer mehr als nur zwei), wieviel wird er, wenn er sich dafür entscheidet, in einer anderen Sprache als Jiddisch zu schreiben, von seiner jüdischen Welt mitnehmen, welche Mischung und Komplexität verschiedener Identitäten kann er sich aufnehmen und – vor allem zum Ausdruck bringen? (Hans Henning Hahn: Zur Problematik jüdischer Identitäten in Ostmitteleuropa. Eine Einführung, in: ders./Stüben, Jens (Hg.): Jüdische Autoren Ostmitteleuropas im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main: Lang 2000, 11–18, S. 16.) Diese aus der Feder von Hans Henning Hahn stammende Überlegung wäre auch auf den in Prostějov geborenen Schriftsteller und Dramatiker Max Zweig (1892–1992), den Vetter des bekannteren Stefan Zweig, gut anwendbar. Auch er konnte nämlich aus mehreren Identitäten wählen: er wurde noch während Österreich-Ungarn in die deutschsprachige Familie des reichen jüdischen Juristen Gustav Zweig geboren. Den ersten Teil seines produktiven Lebens verbrachte er in der multiethnischen Tschechoslowakei – mit Ausnahme von vierzehn Jahren, die er in Berlin verbrachte. Sein Schicksal wurde von den turbulenten Ereignissen des 20. Jahrhunderts geprägt. Noch vor dem zweiten Weltkrieg ist es ihm gelungen, nach Israel auszureisen und somit der Shoah zu entkommen. Hier verbrachte er den zweiten Teil seines Lebens. Es ist bemerkenswert, dass er auch hier seine Identität des deutschsprechenden Juden nicht ablegte, er gab seine Sprache nicht auf, lernte nie Hebräisch und verfasste seine Werke ausschließlich auf Deutsch. Dies hat ihn ähnlich wie in der Tschechoslowakei in die Gruppe der marginalisierten deutsch schreibenden Autor*innen gebracht, deren literarische Produktion lange Zeit unbemerkt blieb.

 

Max Zweig, sein bewegtes jüdisches Schicksal und sein dramatisches Werk bilden den Gegenstand der Monographie von Ivana Cahová, die 2021 im Verlag der Universität Olomouc veröffentlicht wurde. Dieses Buch ist nicht die erste Arbeit der Autorin über Max Zweig; Ivana Cahová beschäftigt sich seit vielen Jahren systematisch mit ihm und hat mehrere Teilstudien über ihn verfasst. Die Monographie ist jedoch ihr bisher umfangreichstes Werk; es handelt sich um eine überarbeitete Dissertation, die sie 2019 an der Universität Olomouc verteidigt hat. Darin zeichnet die Autorin nicht nur ein umfassendes Bild von Zweigs Leben, sondern stellt es auch in den breiteren Kontext jüdischer Existenz, zunächst im eskalierenden Konflikt zwischen Tschechen und Deutschen in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit, später als deutschsprachigen Überlebenden der Shoah im britischen Mandatsgebiet Palästina und dann in Israel. Dabei zeigt sie anhand der Mikrogeschichte des fast hundertjährigen Lebens dieses Schriftstellers die Makrogeschichte der Juden Mitteleuropas auf. Dabei stützt sie sich auf Zweigs Lebenserinnerungen (1987; tschechisch: Vzpomínky, 2004), seine Korrespondenz und die Ergebnisse ihrer eigenen umfangreichen Archivrecherchen.

 

Ein wesentlicher Teil der vorliegenden Monographie ist der Darstellung von Zweigs dramatischem, romanhaftem und essayistischem Werk gewidmet. Dabei lehnt es die Autorin ab, Zweigs Schaffen wie das Schaffen anderer deutschschreibender Schriftsteller*innen in Israel einer Exil- oder Migrationsliteratur zuzuordnen, sondern schlägt vor, es in Anlehnung an Joachim Schlör als hybride Literatur eines „Zwischenraums“ zu definieren, der anhand seiner klar definierten Grenzen zu erkunden ist. Schlör begreift den Zwischenraum nicht nur territorial, sondern global als eine Art Zwischendasein, z. B. als eine Existenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Durch das Prisma des „Zwischenraums“ betrachtet die Autorin nicht nur Zweigs Werk, sondern auch sein Leben, das zwischen dem Raum Europa und dem britischen Mandatsgebiet Palästina und später Israel oszilliert, oder seine politische Orientierung zwischen deutschem Liberalismus und Zionismus.

 

Das Leben und Werk eines Schriftstellers/einer Schriftstellerin vorzustellen, ist keine leichte Aufgabe. Ivana Cahová hat sich entschieden, einen hermeneutischen und biografischen Ansatz zu kombinieren. Bei der Interpretation der Texte stützt sie sich auf Zweigs Biographie, wobei sie sich deren Fiktionalität bewusst ist und ihnen eine Art Status als erzählerische Konstruktionen seiner eigenen Identität einräumt. Diese Methode scheint angesichts des von Zweig selbst postulierten Axioms, mit dem er seine gesamte menschliche Existenz auf das Schaffen reduziert, gerechtfertigt: „Ich habe keine Zweifel daran gelassen, daß ich in meinen Dramen den Ausdruck meines innersten Wesens erblicke, die Bestimmung und den Sinn meines Daseins, mein gesamtes Eigentum und Erbgut“ (Max Zweig: Dramen, in: Eva Reichmann /ed./, Autobiographie, Baracke 23, Novellen, Gedichte, Briefe, Das Shylock-Problem, Oldenbourgh, Igel Verlag 2002, S. 186). Zweigs Biografie hat Cahová auch geholfen, seine Schaffensmethode zu erkennen, bei der er von der Vorstellung, dass die Inspiration (durch Lesen, Studieren usw.) herbeigeführt werden kann, zu der Erkenntnis gelangte, dass der Beitrag des Autors zur Entstehung des Werks fast minimal war, dass der Autor nur eine Art „Zeuge“ seiner Geburt war. Bei der Darstellung von Zweigs Werk geht Ivana Cahová teils chronologisch, teils thematisch vor. Zunächst werden die Werke des Autors in den mit einem bestimmten Wohnort verbundenen Lebensphasen vorgestellt: Olmütz (1900–1909) und Jugendtexte, Olmütz (1914–1918) und Romane, Prostějov und Berlin (1918–1938) und (selbst-)reflexive Dramen, schließlich Tel Aviv und Jerusalem (1938–1992) und die sog. „politischen Stücke“, die sich inhaltlich gegen die nationalsozialistische und später die kommunistische Diktatur abgrenzen. Innerhalb dieser Etappen gliedert sie die Werke jedoch nach bestimmten Themen. Besonderes Augenmerk legt sie auf Zweigs frühe, fast unbekannte und nicht rezipierte Texte. Auch bei Zweigs Werk beschränkt sich die Autorin nicht auf das Werk selbst, sondern sucht nach einem breiteren Rahmen – sei es kulturell, politisch oder persönlich. Das ganze Buch hindurch wird versucht, Zweigs weltanschauliches Konzept zu erfassen, das durch den eigentümlichen Humanismus repräsentiert wird, aus dem seine Vorstellungen von moralischer und reiner Kunst erwachsen. Diese Auffassung hat ihre Wurzeln in seiner Zeit in der Tschechoslowakei und seiner aktiven Teilnahme am Kreis der Intellektuellen um den Architekten Paul Engelmann. Die Darstellung von Zweigs Werk in einem breiteren Kontext ist eine unbestreitbare Stärke dieses Werks, aber auch seine Schwäche, da sie mit einer gewissen Abkehr von den Texten selbst, ihrer Sprache oder Genese bezahlt wird. Eine solche Analyse würde jedoch den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen.

 

Wie die Autorin in der Einleitung ihres Buches schreibt, war es das Ziel ihrer Monographie, „die Texte und ihren Autor sichtbar zu machen und sie vor allem der tschechischen wissenschaftlichen Gemeinschaft und dem tschechischen Leser zugänglich zu machen“ (S. 16). Im Falle der vorliegenden Monographie ist ihr das zweifellos gelungen. Nicht nur das, sie hat es auch geschafft, die deutschsprachige Literatur in Israel in der tschechischen Öffentlichkeit bekannt zu machen.

 

 

Ivana Cahová: Dramatik Max Zweig – prorok nového humanismu. Olomouc: Univerzita Palackého v Olomouci, 2021 447 S.


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