Es schreibt: Alfrun Kliems

(6. 9. 2023)

Gibt es spezifische Weisen, vom Kommunismus zu erzählen, vom Alltag im real existierenden Sozialismus, von seinen politischen Querelen und schließlich seinem Fall und Nachwirken? Dieser Frage geht Alena Heinritz nach in ihrem Buch Postkommunistische Schreibweisen. Formen der Darstellung des Kommunismus in Romanen zu Beginn des 21. Jahrhunderts – und kommt zu einer bejahenden Antwort. Konkret macht sie drei solche Modi aus: erstens die Groteske, zweitens das Dokumentarische und drittens die Satire.

 

Heinritz’ Monografie ist aus einer Dissertationsschrift an der Universität Salzburg hervorgegangen. Ihren Quellenkorpus bildet sie aus der postkommunistischen Prosa so unterschiedlicher Autoren und Autorinnen wie Svetlana Aleksievič, Viktor Erofeev, Paul Greveillac, Sergej Lebedev, Ol’ga Slavnikova, Jáchym Topol und Ilija Trojanow. Dabei korrespondiert der Wahl überwiegend prominenter Stimmen die das Erkenntnisinteresse leitende Vorannahme, dass literarischen Texten über ihre reflexiven Aspekte, ihre Ästhetik, gesellschaftsdiagnostischen Befunde oder das kritische Spiel mit abstrakten Weltentwürfen hinaus ein konstruktives Potenzial eignet: dass Erzählungen vom Kommunismus politische Diskurse beeinflussen, indem sie selbst (performativ) Wissen produzieren – eben Wissen über den historischen Kommunismus. Anders gewendet: Dass Literatur Geschichtsbilder setzt und durchsetzt.

 

Die beiden ersten Teile der Studie bieten eine einsichtsreiche terminologische und heuristische Hinführung, die freilich auch knapper hätte ausfallen dürfen. Neben dem Forschungsstand wird allgemein das Phänomen „Kommunismus“ als „Praktiken- und Diskurskomplex“ (S. 56) eingeordnet, aber auch der Titelbegriff der „Schreibweise“ als eine „Textpraktik“ (S. 35) diskutiert. Nicht alles davon, wie gesagt, führt voran. Manches wirkt ausgebreitet. Im dritten Teil etabliert Heinritz dann die genannten drei postkommunistischen Schreibweisen.

 

Mit der „Schreibweise des Grotesken“ verbindet sich namentlich das spektrale Moment, das dem „Gespenst des Kommunismus“ seit dem Marx-Engels-Manifest eingeschrieben ist. Hierher gehören insbesondere Erzählmodi des Dazwischen, die das Unbewusste, Verdrängte und Traumatische in die Gedächtnisprosa holen. Einschlägige Gewährsmänner dieser Kategorienbildung sind Jacques Derrida („Hauntologie“), Aleksander Etkind („Magischer Historismus“) oder Boris Groys („Postkommunistische Situation“) (S. 79–111), offensichtliche – und reizvolle – Anknüpfungspunkte stellen auch Erinnerungskonzepte wie haunting memory oder ghostly matters dar. Demgegenüber meint die „Schreibweise des Dokumentarischen“ eine narratologische Grundhaltung, die Möglichkeiten des Faktografischen auslotet, um Erinnerungspolitik und Prozesse der Mnemotechnik kreist – und in den ausgewählten Romanen selbst vor allem vom Kampf gegen repressive Vergegenwärtigungsregime handelt. Referenzen sind Aleida Assmanns Überlegungen zu Erinnerung und Vergessen sowie Varlam Šalamovs Poetik der Erinnerung. Auf gewisse Weise zwischen den beiden vorgenannten und über sie hinausweisend macht Heinritz schließlich eine „Schreibweise des Satirischen“ aus, die das Unheimliche lächerlich und das Faktische absurd erscheinen lässt, vielfach auf die Figuren des Pikaro und Tricksters setzt. Unter diesen Parametern analysiert der zentrale vierte als Hauptteil ausführlich literarische Darstellungsformen, Plotstrukturen, Mikronarrative, Motivkomplexe und Figurenkonstellationen in den ausgewählten Romanen. Dabei steht mit erfreulicher Disziplin die retrospektive Deutung des Kommunismus, das Wechselspiel fiktionaler Modi der Erinnerung an ihn, im Zentrum. Denn dass die eingeführten drei Kategorien nicht trennscharf nebeneinanderstehen, die Romane sich multipel zuordnen lassen, liegt auf der Hand. Alena Heinritz zeigt das etwas anhand von Slavnikovas Roman 2017, einer Dystopie, die zwischen Groteske und Satire changiert. Indem hier ein Reenactment zur Hundertjahrfeier der Oktoberrevolution, eine Art „Kostümrevolution“ außer Kontrolle gerät, bemächtigen die Gespenster der Vergangenheit sich der Gegenwart, ja langen in die Zukunft. Die Handlung hebelt zugleich die Wirklichkeit aus und ironisiert die Geschichtspolitik der Putin-Ära. Primär als Groteske liest Heinritz demgegenüber Lebedevs gleichfalls auf die russische Erinnerungskultur zielenden metahistorischen Roman Predel zabvenija (wörtl. Die Grenze des Vergessens, dt. Der Himmel auf ihren Schulteren), dessen Ich-Erzähler einen unheimlichen Kampf gegen das Vergessen ficht. Der Text evoziert Schauergeschichten, einschließlich der Verwandlung in einen Werwolf und übersinnlicher Interaktion mit den Toten. Ähnlich findet sich Topols Kloktat dehet (wörtl. Mit Teer gurgeln, dt. Zirkusszone) als Groteske eingeordnet, wobei die Autorin als Schlüsselkategorie das Karnevaleske benennt, Topols Behandlung von Ordnungszerfall, Zeitbruch und Chaos in die Pikaro-Tradition stellt. Analog übernimmt sie zwar den von Topol interviewweise benutzten Begriff des „Bastard-Genres“ (Andreas Bässler) selbst nicht, zitiert ihn aber mit Blick auf den als „Bastard“ (S. 222) markierten Protagonisten. Dabei verweist das Genre durchaus auf mehr als die Figur, nämlich auf den Schelmentext selbst und dessen bastardisierende Form aus gebrochenen Zeitverläufen und temporaler Unordnung, Doppelgänger-Figuration und Multiplikation der Erzählerstimme.

 

Vergleichbare Elemente freilich finden sich in Aleksievičs Vremja sekondchėnd (dt. Secondhand-Zeit) und Trojanows Macht und Widerstand weniger, die hier gleichwohl für die dokumentarische Schreibweise stehen. Derweil nutzen sie zwar Polyphonie und Multiperspektivität, wahren indes zugleich eine ethische Eindeutigkeit und eine Beobachterfigur, die ihre eigene Stimme identifizierbar offenlegt. Die satirische Schreibweise schließlich wird durch Greveillac und Erofeev repräsentiert, deren Romane namentlich Zensur und Samizdat verhandeln, das Schreiben in einer Diktatur. Heinritz’ Betrachtungen dazu fallen gegenüber dem vorangehenden und vor allem dem ersten Komplex ab, geraten mitunter schematisch. So wäre zu fragen, ob sich das Satirische in Greveillacs Les mes rouges (Die roten Seelen) nicht vor allem auf die Redeweise des Erzählers beschränkt und sich nicht manche zitierte Passage auch anders denn „komisch“ lesen lässt. In Erofeevs Chorošij Stalin (dt. Der gute Stalin) wiederum wirkt die Ironie wie Attitüde inmitten von Klischees und Pathos, so dass sich von Satire allenfalls der Intention nach sprechen lässt, wenn überhaupt. Kurz, das grundsätzlich erhellende analytische Schema erweist sich stellenweise als Prokrustesbett, zum Schaden der sonst erfrischenden und genauen Beobachtung. Umso überzeugender gelingt dann wieder die abschließende, konzise Zusammenfassung, in der Heinritz ihre Thesen und Befunde pointiert aufeinander zu beziehen vermag.

 

Insgesamt weist die Studie die angelegte Spannung zwischen der bereichernden Weite und stets drohenden Überforderung komparatistischer Arbeiten auf. Von den sieben Romanen, die im Zentrum der Betrachtung stehen, sind vier russischsprachig; der gebürtige Bulgare Trojanow hat seinen Text auf Deutsch verfasst, Topol schreibt Tschechisch, Greveillac Französisch. Die Begründung für diese Gewichtung klingt durchaus schlüssig (S. 15): Während sich die russischsprachigen Texte mit der sowjetischen Vergangenheit und deren Nachhall als dem Epizentrum des (europäischen) Kommunismus befassen, für die auf Russisch schreibende Belarusin Svetlana Aleksievič dies geradezu die Sprache des Kommunismus und seines Diskurses sei, sollen Topol und Trojanow die „Satellitenstaaten“ vertreten, Greveillac für die Produktivität des Themas auch in „nicht-postsozialistischen Literatursystemen“ stehen.

 

Nichtsdestoweniger bleibt die Betrachtung von der sowjetischen Erfahrung bzw. Erinnerung und ihrer russischen Verarbeitung dominiert, erweist sich diese Perspektive noch über den Werkanteil hinaus privilegiert. Die überlange Eingangspassage zur sowjetischen/russischen Geschichte spricht hier für sich. Zahlreichen einsichtsvollen Exkursen in andere Literaturen steht nicht zuletzt ein unproportionales Übergewicht von Zitaten aus den Primärtexten gegenüber, die sich zudem teils wiederholen, ärgerliche Redundanzen erzeugen – allgemein hätte ein strafferes Lektorat dem Buch gutgetan. Vor allem jedoch reproduziert die Studie dergestalt unwillkürlich einen imperialen Habitus, gegen den auch die kritische russische Literatur nicht immer gefeit ist. Die Autorin zeigt sich des Problems bewusst (S. 32-34), schafft indes keinen Ausgleich. Es bleibt letztlich beim Vergleich als „Dampfer mit Beiboot(en)“. So hätte sich etwa ein polnischer Text angeboten oder ein ostdeutscher, die zudem in etlichen Fällen den Ereignisstrang in vorkommunistische Zeiten weiterverfolgen, um die repressiv selektive Erinnerungspraxis des Kommunismus ins Bild zu setzen. Allein, damit wäre im Zweifel die abschüssige Bahn in die oben angesprochene stets naheliegende Überforderung betreten.

 

Auch so ist das Buch reflektiert genug, um seinen Ungleichgewichten zum Trotz einen, mit der Komparatistin Susan Stanford Friedman gesprochen, parataktischen Vergleich zu leisten, der seine Gegenstände keiner starken Hierarchie preisgibt. Alena Heinritz hat vielmehr eine solide, informative und innovative Studie verfasst in der lohnenden Absicht, einen Interpretationsrahmen anzubieten, um den postkommunistischen Roman überhaupt als ein Genre zu erfassen und zu etablieren. Das ist der Autorin zweifelsohne geglückt.

 

 

Alena Heinritz: Postkommunistische Schreibweisen. Formen der Darstellung des Kommunismus in Romanen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Heidelberg: Universitätsverlag WINTER, 2021, 391 S.


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