Es schreibt Miroslav Zumrík

(29. 12. 2022)

Das Gemeinschaftswerk mit dem Titel Arnošt Vilém Kraus (1850–1943) und dem Untertitel Wissenschaftler und Kulturpolitiker (herausgegeben von Helena Březinová, Steffen Höhne und Václav Petrbok) erschien 2021 als 18. Band in der Reihe Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert im Böhlau-Verlag. Diese bibliographische Angabe lässt sich auch dahingehend deuten, dass Prag als historisches und kulturelles Zentrum und Symbol auch weiterhin einen inspirierenden und unerschöpflichen Anlass für die Forschung, in diesem konkreten Fall v. a. für viele Literaturwissenschaftler, darstellt. Prag gehört somit – um mit Daniela Hodrová (1994) zu sprechen, zu den Städten, deren Geheimnis ununterbrochen gelüftet, jedoch nie gänzlich entblößt wird.

 

Das 322 Seiten lange Buch besteht aus einem kurzen Vorwort, 14 Beiträgen in deutscher und englischer Sprache, einer Auswahlbibliographie von Kraus‘ Werken (zusammengestellt vom Mitherausgeber der Publikation V. Petrbok), einem Bildanhang und nicht zuletzt aus einem Namens- und Ortsregister sowie kurzen Darstellungen über die Autoren der Publikation. Auch diese metatextuellen Informationen lassen sich als Zeichen lesen: Bereits der Umfang der Auswahlbibliographie führt uns die Fruchtbarkeit und ungeheure Tatkraft von A. V. Kraus, dem ersten tschechischen Germanisten und Literaturwissenschaftler, vor Augen. Wie der Bildteil der Publikation erahnen lässt, ging es den Autoren eben darum, diesen Forscher auch visuell zu präsentieren, um ihn wohl am besten dem Lesepublikum zu vergegenwärtigen, zumal Kraus – wie die Herausgeber nicht anzumerken vergessen – inzwischen in Vergessenheit geraten sein dürfte (S. 8). Wiederum mit Verweis auf Daniela Hodrová (2010) kann man sagen, dass es sich also um eine „Belebung“ seines Werks und seiner Gedanken handelt.

 

Die Herausgeber der vorliegenden Publikation knüpfen an die kommentierte Anthologie über Arnošt Vilém Kraus und die Anfänge der tschechischen Germanobohemistik von V. Petrbok (2016) an. Die Tatsache, dass die Aufmerksamkeit internationaler Wissenschaftler sich nach dem Erscheinen dieses umfangreichen Werks (das Buch hat etwa 540 Seiten) erneut auf das Thema A. V. Kraus und die Germanobohemistik konzentriert, bezeugt die Aktualität beider Themen in der heutigen zerfallenden oder bereits geteilten Welt. Es wird wohl kein Zufall sein, dass man in vielen Beiträgen der vorliegenden Publikation auf das Leitmotiv der Brücke als Symbol der Vernetzung von Orten, Menschen und Gedanken und auf deren bildhaften Gegenpol, die Mauer, stößt.

 

Die Publikation ist ein Sammelband von Beiträgen zu der Konferenz, die im Oktober 2017 an der Karlsuniversität veranstaltet wurde und die sich – wie die Herausgeber erwähnen (S. 8) – zum Ziel gesetzt hat, die Persönlichkeit von A. V. Kraus aus einer interdisziplinären Perspektive, d. h. von mehreren Seiten zugleich, zu beleuchten. Neben der Tatsache, dass Kraus als Germanist, Skandinavist sowie Kulturschaffender („Kulturpolitiker“) tätig war, werden in den Präsentationen auch Fakten aus seinem Leben und inspirative sowie tragische historische Ereignisse thematisiert, womit vor den Augen des Lesers ein kaleidoskopisches Panorama der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert entsteht. In Anbetracht der Vielfalt von Kraus‘ Tätigkeit erwies sich der interdisziplinäre Zugang als unumgänglich: Kraus war nicht nur Pädagoge an der Universität, Forscher, Übersetzer, Publizist und Theaterkritiker, sondern auch Reisender und Diplomat. Im Vordergrund der Publikation (siehe den Untertitel) steht jedoch seine wissenschaftliche und kulturpolitische Tätigkeit, d. h. die Erforschung vom Nebeneinander zweier Kulturen sowie das Thema der Kulturvermittlung.

 

Im Falle von A. V. Kraus verlief der Kulturtransfer an der Achse Böhmen, Deutschland und Skandinavien (v. a. Dänemark). In seiner Tätigkeit als Wissenschaftler, Pädagoge und Vermittler konzentrierte er sich auf historische, soziale und kulturelle Einflüsse, Impulse und Querschnitte. Dänemark diente Kraus des Öfteren – wie man im Vorwort der Publikation lesen kann – als ein gewisses tertium comparationis, der philosophisch unvermeidbare dritte Referenzpunkt, der es dem Beobachter ermöglicht, in der Beziehung zweier Entitäten auf potenziell übersehene Momente aufmerksam zu werden, neue Bezugspunkte dazu zu entdecken, über diese Beziehung neu nachzudenken, und die zukünftige Gestaltung dieser Beziehung zu beeinflussen. Diese zwei verglichenen Entitäten sind bei Kraus die geschichtlich und politisch miteinander verwachsene tschechische und deutsche Kultur. Nicht nur im Untersuchungszeitraum wies diese historische und kulturelle Koexistenz Anzeichen von Spannung, Machtasymmetrie, von Konflikten und Zerspaltung auf, trotz – oder gerade infolge – der territorialen Nähe. Mit einem Verweis auf den Film des Österreichers Ulrich Seidl (1992) lässt sich im Zusammenhang mit den Motiven der Brücke und der Mauer, also im Allgemeinen im Kontext der Grenzen zwischen Nationen, einfach konstatieren, dass „mit Verlust zu rechnen ist“. Diese kulturelle Schnittstelle bedeutete für Arnošt Vilém Kraus zugleich einen Nährboden, der sein wissenschaftliches, diplomatisches und publizistisches Engagement inspirierte. Er wurde dabei stark vom Konzept der kleinen Staaten angesprochen (dem politischen Modell der Existenz dieser Staaten in einer sich wandelnden Welt und in einer Situation, in der große Akteure im europäischen und globalen Machtgerangel das Wort führen). Kraus stellte sich demnach die Frage, ob bzw. wie es möglich sei, nicht nur den intensiven Einflüssen zu trotzen, sondern auch in der Lage des „Kleineren“ (etwa in einer nicht so verbreiteten Sprache, wie z. B. das Tschechische im Vergleich mit dem Deutschen) eine bestimmte optimale Entfernung einzunehmen, die beiden Seiten zusagen würde, um somit den Raum zu finden, der eine Symbiose und Synergie gemeinsamer kultureller Einflüsse ermöglichte. Und bei dieser Suche und diesem Unterfangen kam ihm gerade das Beispiel von Dänemark gelegen.

 

Die Publikation widerspiegelt vielfältige Aspekte der Interessen von Kraus, zeigt ein buntes Kaleidoskop eines kreativen Menschenlebens und bringt es mit dem Zeitgeschehen und der ideellen Atmosphäre in Zusammenhang. Die einzelnen Beiträge rufen im Leser – jedes Mal von einer anderen Perspektive aus – diverse allgemeine Fragen hervor: Was ist ein Mensch, welche Taten und welches Bestreben prägen ihn, wie kreuzen, ergänzen und beeinflussen sie sich gegenseitig, wie schwingt all dies im Bewusstsein der Zeitgenossen und der Nachkommen mit? Es zeigt sich dabei, dass der Mensch nicht auf seinen Nachlass (auf sein wissenschaftliches oder künstlerisches Werk) zu reduzieren ist, da das menschliche Leben sich wie eine dynamische Straßenkreuzung von Beziehungen, Einflüssen und familiären sowie nationalen Schicksalen abspielt.

 

Wenn man den Themenreichtum der Beiträge betrachtet, kann man sich fragen, ob eine kollektive und ausschnittsweise Herangehensweise die Persönlichkeit von A. V. Kraus ausreichend plastisch und vollständig zu vergegenwärtigen vermag. Meiner Meinung nach ist es den Herausgebern sowie den Autoren der Beiträge gelungen, obwohl jedes individuelle Leben und das Schicksal jeder Stadt ihre Geheimnisse nie völlig lüften. Dem Leser zeigen sich bei der Lektüre außerdem die möglichen Richtungen der zukünftigen interdisziplinären oder monothematischen, komplexen Forschung, sei es auf dem Gebiet der Literaturgeschichte, Kulturologie, Übersetzungswissenschaft, Imagologie usw.

 

Der Sammelband wird durch das Vorwort der Herausgeber eingeleitet, in dem die Bedeutung von Arnošt Vilém Kraus kurz skizziert wird, wobei er v. a. als Germanist und Vermittler präsentiert wird. Als eine Art Fortsetzung und Erweiterung des Vorworts lässt sich der Text von Steffen Höhne lesen, der die wichtigsten Bereiche thematisiert, in denen Kraus tätig war. Diese Aktivitäten sind im Allgemeinen mit der Prager Germanistik verbunden, bzw. mit den beiden Prager Germanistiken, die nach der Gründung der deutschen und tschechischen Universität in Prag entstanden sind. Beide Institute gründeten auf „intern konkurrierenden“ ideellen Einstellungen der Vertreter der einerseits deutschen, andererseits tschechischen Nation. Im Endeffekt kann man die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Germanistiken als einen institutionalisierten Kontakt unterschiedlicher Perspektiven und Akzentsetzungen in Bezug auf die tschechische und deutsche Kultur in ihrer gemeinsamen Rezeption verfolgen. Und gerade im Prozess dieser Kommunikation erfüllte Kraus eine bedeutende Vermittlerfunktion, indem er es u. a. für sehr wichtig hielt, die deutsche Öffentlichkeit (S. 11) durchgängig über die häufig unbekannte tschechische Kultur, Literatur und deren Realien und „Geisteskultur“ (S. 15) sowie über die tschechische Nationalaufklärung, deren Apologet er war (S. 22), zu informieren. Zugleich wird dann Kraus‘ Interesse an Goethes Werk akzentuiert (S. 16), ein Beleg für die Beidseitigkeit seines Vermittlerethos. In diesem Beitrag (genauso wie in vielen anderen Beiträgen auch) wird an Kraus‘ literaturtheoretische Ausgangsposition, d. h. den Positivismus, erinnert, die ihn die Literatur v. a. als eine Widerspiegelung der Gesellschaft wahrnehmen ließ. Abschließend wird hier konstatiert, dass man die beiden Prager Germanistiken auch trotz ihrer gegenseitigen Konkurrenz in einem gewissen Sinne als komplementär wahrnehmen darf (S. 27–28), was ich als Ausdruck eines epistemologischen Optimismus in der Sache der Verständigung auffasse, in diesem Fall als eine akademische Brücke zwischen Nationen. Die Beziehung der tschechischen und deutschen Literatur aus der Perspektive von deren Geschichte, das Konzept von einander überlappenden Literaturgeschichten, ist das Thema auch im Beitrag von Václav Smyčka, der neben der positivistischen Tradition bei Kraus (S. 34) auch auf ein ironisches Moment aufmerksam macht, das den Abstand vom erforschten Stoff illustriert (S. 38), zudem bringt er eine schematische Gliederung von möglichen Auffassungen der Literaturgeschichte. Neben dem bereits erwähnten satirischen und ironischen Ton lasse sich hier ferner eine romantische, komisch oder tragisch orientierte Sichtweise feststellen (S. 41). Die Literatur und die Literaturgeschichte stellen demnach keine direkte Spiegelung der abgebildeten Gesellschaft dar, sondern sind eher ein Konstrukt, das von dieser Gesellschaft indirekt Zeugnis ablegt, z. B. wenn man sich darauf konzentriert, was in dieser Literaturgeschichte umgangen oder ausgelassen werde (S. 44). Die Überzeugung, dass die Literaturgeschichte, bzw. die Diskussion über sie die Identität konstruiert, und dass man diese wieder analysieren kann (S. 50), halte ich für sehr anregend und modern, mit einer gewissen Vereinfachung erinnert diese Einstellung etwa an Gumbrechts Konzept des Post-Historismus (2012), auch wenn Kraus sich zugleich für historisch ältere, aufklärerische Ideen interessierte (S. 45). Auf Kraus‘ Fähigkeit, Abstand zu halten (z. B. in Form von Satire und Ironie) macht auch Václav Petrbok aufmerksam, wenn er Kraus als Kritiker und Polemiker thematisiert, dies an der Schnittstelle zwischen Philologie und Politik, und ihn gerade in der Schnittmenge des deutschen und slawischen Kulturlebens verortet (S. 53). Den „kritischen Geist“ (S. 55) von Kraus kann man auch anhand von dessen originalen Artikeln verfolgen, die im Anhang des Beitrags aufgelistet werden (S. 63–69). Krausʼ polemische Seite, am Beispiel der Beziehung zu P. Kisch konkretisiert (die Hintergründe der Auseinandersetzung werden hier auch erklärt), bespricht Michal Topor (S. 77). Er illustriert sie mit mehreren Beispielen von Kraus‘ brüskem Stil im damaligen Tschechisch (S. 85), was man meiner Ansicht nach auch als einen eigenartigen ästhetischen Wert auffassen könnte, ganz abgesehen von der sachlichen und argumentationstechnischen Ebene der Polemik. Mit der Frage einer ironisierenden Distanz gegenüber Menschen und einer polemischen Auseinandersetzung hängt auch die eher allgemeine Frage von Brücken und Mauern zwischen Menschen und größeren Entitäten, bis zum Moment des gegenseitigen Verständnisses zwischen Nationen, sowie das Thema der potentiellen Weltsprache (S. 110–111), zusammen. Die konzeptuellen Brücken- und Mauern-Metaphern sind das Thema des Beitrags von Lucie Merhautová, die sich dem Konzept der Kommunikationsvermittlung mit Hilfe von Zeitschriften beschäftigt, konkret am Beispiel der Zeitschriften Das Literarische Echo und Čechische Revue. Neben den literarischen Zentren (S. 89) thematisiert die Autorin die Versuche, die „deutsche Mauer“ zu überwinden, d. h. „das Ausland“, das über Böhmen nicht so viel weiß (S. 104–107). Mit der persönlichen Lebensweg von Kraus, seiner revidierten Beziehung zur eigenen jüdischen Herkunft (S. 122) und dann auch mit der Deportation und dem Umkommen im Konzentrationslager Theresienstadt (S. 129–130) beschäftigt sich Lenka Vodrážková in ihrem biographisch orientierten Beitrag. Spannend ist die Betätigung von Kraus als Autor von Theaterstücken für das Puppentheater; einem Moment, dem sich Ludger Udolph in seinem Beitrag widmet: Er hebt die charakteristischen Merkmale des parodistischen Stils (S. 140) und eines relativierenden Abstands auch im Falle von ernsten Themen, wie etwa Faust (S. 134), hervor. Die Theaterstücke werden vom Autor vor dem Hintergrund des Karneval-Konzepts behandelt und als symbolische Subversion, bildhafte Aufhebung von Hierarchien verstanden (S. 147). Kraus als Musikliebhaber (S. 155) wird im Beitrag von Olga Mojžíšová anhand von seinen Kommentaren und seinem Interesse an der sog. schwedischen Zeit im Leben und Werk von B. Smetana thematisiert (S. 154). Kraus sammelte in seiner positivistischen Begeisterung eine große Menge von Informationen über den Aufenthalt des tschechischen Komponisten in Schweden (S. 163–166); war sich allerdings der Tatsache bewusst, dass er kein Musikologe war. Die ironische und gleichzeitig demütige Distanz zur eigenen Person verbindet sich bei Kraus sehr sympathisch mit der Tatsache, dass man ihn als Begründer der Prager Skandinavistik ansehen darf, wie Martin Liška in seinem Beitrag darlegt. Kraus verdient diese Bezeichnung trotz der Tatsache, dass es bereits vor seiner Zeit Vorlesungen in Prag über skandinavistische Themen gegeben hatte (S. 171–173) und die Zahl von skandinavistischen Vorträgen, die Kraus hielt, u. a. infolge der historischen Umstände eingeschränkt war (S. 178). Auch dieser Beitrag ist reich an Informationen: Der umfangreiche Anhang bietet eine Übersicht über die damals ausgeschriebenen germanistischen und skandinavistischen Kurse an der Prager Universität, einschließlich der Namen der Vortragenden (S. 180). Krausʼ Interesse an der klassischen norwegischen Literatur (H. Ibsen, B. Bjørnson) kommentiert Martin Humpál in seinem Beitrag. Bei allem Respekt für Krausʼ Verdienste (S. 190–192), u. a. für seine Popularisierung der norwegischen Literatur, die Übersetzung der Klassiker und die Verbreitung eines Bewusstseins über die Literatur in beiden Richtungen (S. 189), deutet er jedoch die möglichen Grenzen der positivistischen Perspektive auf die Literatur an (S. 194). Den Beitrag von Helena Březinová finde ich wohl am spannendsten. Sie wendet mit umfangreichem Beweismaterial im Rücken das imagologische Konzept von Manfred S. Fischer konsequent auf Kraus‘ Position auf der imaginären Brücke zwischen Dänemark und Böhmen an, von der aus der Forscher Deutschland kritisch zu betrachten pflegte. In diesem Beitrag wird das oft besprochene, politisch-kulturelle Konzept der Kleinstaaten thematisiert (S. 199), die einander helfen oder als Ideal bzw. Vorbild dienen könnten. Kraus sah in diesem Falle Dänemark als Vorbild für die Tschechoslowakei (S. 200), was man in Bezug auf Fischers Theorie als Beispiel eines Heterobildes auffassen dürfte (S. 219), in dessen Rahmen Dänemark (als Sinnbild des Lichts) und Deutschland (als Sinnbild der Abenddämmerung) kontrastiert werden (S. 220–221). Imagologisch ausgerichtet ist ferner der Beitrag von Peter Bugge, der Krausʼ idealisiertes Dänemark-Bild (S. 136) als „kleine Nation“ (S. 230) aus der gegensätzlichen Perspektive – mit den Augen eines Skandinaviers – betrachtet und Krausʼ Faszination für dänische Realien, z. B. für die Landschaft, die Landwirtschaft oder aber für das inspirative Unterrichtskonzept an Schulen bespricht, das Theorie und Praxis verknüpfen lässt (S. 232–233). Jana Lainto verbindet in ihrem Beitrag unterschiedliche Perspektiven und geht auf den Blick des Ausländers ein: Sie präsentiert Kraus als „tschechischen Dänen in Prag“ und beschreibt die Geschichte der tschechischen Auseinandersetzung mit dem Raum Skandinaviens (S. 239), sei es aus der Sicht der Reisenden oder der Intelligenz (S. 240–241), oder aber in institutionalisierter Form der tschechoslowakisch-skandinavischen Organisationen in Prag (S. 245–249). Und auch Miluše Juříčková greift im letzten Beitrag des Sammelbandes die Imagologie und das Prisma-Motiv auf, d. h. die Blickweise, konkret hier den Blick nach Norden. Sie analysiert Kraus‘ späten Essay Řeč o věnci [Rede über den Kranz] (S. 255) und verweist am Schluss auf Krausʼ inspiratives Potenzial angesichts seiner Überlegungen über die zukünftige Entwicklung der europäischen Kultur und bei der Suche nach neuen Perspektiven auf sie (S. 260–261).

 

Wie man der Übersicht der behandelten Themen entnehmen darf, erfüllt die vorliegende Publikation das von den Herausgebern gesteckte Ziel hinreichend, nämlich, die vielfältige und inspirative Persönlichkeit von A. V. Kraus einerseits im Zeitkontext, andererseits dessen Nachwirkung in der Gegenwart vorzustellen. Der Leser, nicht nur der Literaturwissenschaftler, findet in diesem Buch eine große Reihe von Impulsen, die sowohl mit dem Privatleben von Kraus als auch mit seiner wissenschaftlichen und kulturellen Tätigkeit zu tun haben und die mit dem Bauen metaphorischer Brücken (im Zusammenhang mit seiner kulturellen Vermittlertätigkeit) sowie mit der Überwindung von Mauern (z. B. im Kontext mit seiner ironischen und polemischen Einstellung) zusammenhängen. Die breite Palette von Krausʼ Tätigkeiten zeugt ebenso von einer bestimmten Unbeugsamkeit sogar in historisch und politisch unerquicklichen Zeiten, und nicht zuletzt von seiner Offenheit gegenüber Kultur als Quelle der Schönheit und Belehrung: Damit meine ich sein Faible für die kandinavistik und insbesondere die dänische Literatur und Kultur. Der Leser findet hier also eine kaleidoskopische, ja eine kubistische Darstellung einer Persönlichkeit von mehreren Seiten. Der Charakter der Publikation (Sammelband) verrät, dass sie nicht als ein monographisches Werk angelegt wurde, weshalb sich manche Informationen (etwa biographischen oder historisch-kulturellen Charakters) sich in den Anfangspassagen der jeweiligen Texte öfter wiederholen. Den Schwerpunkt der Publikation bilden m. E. die Beiträge zum imagologischen Charakter von Krausʼ Kulturtätigkeit, d. h. die Texte, die sich damit auseinandersetzen, auf welche Weise er selbst den Norden wahrnahm und wie er ihn dann auch präsentierte. Diese diskursiv orientierte literaturwissenschaftliche Forschung finde ich auch angesichts der zukünftigen monographischen oder monothematischen Forschung interessant, wobei ich an dieser Stelle an die Studie zur Imagologie des Nordens in der Pressburger deutschsprachiger Publizistik der Zwischenkriegszeit von K. Motyková (2022) erinnern möchte. Die rezensierte Publikation macht dem Leser jedenfalls bewusst, dass jedes kreative Leben ein Weltall für sich bildet, das aus einem Netzwerk aus Beziehungen mit der Umgebung oder aus einem „Labyrinth“ besteht, das aus der Sicht der Phänomenologie des Raums einen „methodischen Vorteil“ besitzt (Nitsche 2016). Aus diesem Labyrinth erwachsen immer neue Aspekte und Impulse, und die bisherigen Antworten führen nur zu weiteren Fragen.

 

 

Helena Březinová – Steffen Höhne – Václav Petrbok (Hg.): Arnošt Vilém Kraus (1859–1943). Wissenschaftler und Kulturpolitiker. Köln: Böhlau, 2021, 322 S.


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