Es schreibt: Peter Becher

(24. 8. 2022)

Murray Hall, der 1947 in Winnipeg (Kanada) geboren wurde, kam als postgraduierter Student nach Wien, wo er 1975 promovierte und sich 1987 habilitierte. Als außerordentlicher Professor für Neuere Deutsche Literatur hat er sich dort ebenso einen Namen gemacht wie als ORF-Redakteur und Spezialist für die Geschichte des Buchhandels und der Verlage. Neben seinem zweibändigen Standardwerk Österreichische Verlagsgeschichte 19181938, das 1985 bei Böhlau erschien, hat er u. a. eine umfängliche Dokumentation des Paul Zsolnay Verlags erarbeitet und sich mit der Geschichte des Buchhandels in den Böhmischen Ländern im 19. und 20. Jahrhundert befasst (In: Mitteilungen der Gesellschaft für Buchforschung in Österreich, 2015– S. 7–21; vgl. u. a. auch Nĕmečtí nakladatelé v meziválečném Československu, příspĕvek k dĕjinám. [Deutsche Verlage in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit. Ein Beitrag zur Geschichte.] In: Nakladatelství 1918–1949, Literární archiv [Prag] Nr. 52–2020, S. 10–31.)

 

Sein neuestes Werk befasst sich mit einem bislang kaum beachteten Aspekt der NS-Kulturpolitik im Protektorat. Auf der Grundlage akribischer Archivarbeiten, die ihm ein Stipendium der Tschechischen Akademie der Wissenschaften im November 2019 ermöglichte, dokumentiert und analysiert Hall den Aufbau und die Politik des Volk und Reich Verlags, der im April 1940 als Niederlassung des gleichnamigen Berliner Verlags in Prag etabliert wurde und in kurzer Zeit eine dominierende Rolle im Verlagswesen des Protektorats spielte.

 

Als zentrale Figur agierte dabei Friedrich Heiß (1897–1970), der in Pilsen geboren wurde, in Wien und Berlin Germanistik und Kunstgeschichte studierte, ohne einen Abschluss zu erlangen, und 1925 die Zeitschrift Volk und Reich gründete, die sich „Fragen des Grenz- und Auslandsdeutschtums in Mitteleuropa“ widmete (S. 247). In enger Abstimmung mit Karl Hermann Frank, der ihn protegierte und für seine Politik einspannte, verfolgte Heiß die Absicht, alle größeren Buchhandlungen und Verlage in Prag und im Protektorat zu übernehmen und so eine „Monopolstellung“ (S. 18) aufzubauen.

 

Detailliert arbeitet Hall heraus, wie zunächst die Prager Buchhandlungen André, Neugebauer und Academia übernommen wurden, die im gemeinsamen Besitz von Max Bregha und Arthur Heller waren, juristisch aber als „drei selbständige Firmen“(S. 18) geführt wurden. Da Heller Jude war, erfolgte die Übernahme teilweise auf dem Weg der Arisierung, wobei Heiß nicht mit abfälligen Bemerkungen über die bisherigen Besitzer sparte: „Ein Jude und ein an ein gutes Leben gewöhnter Prager Deutscher“ hätten dem Unternehmen „Wesenszüge eingeprägt“, die den jetzigen Absichten „geradezu feindlich entgegenstanden.“ (S. 32). Die folgenden Um- und Ausbaumaßnahmen zogen sich dann jedoch monatelang hin und verschlangen Gelder, die nur durch Sonderbewilligungen K. H. Franks beglichen werden konnten, für den die Übernahme der Buchhandlung André ein „Prestigeobjekt“ war (S. 33).

 

Nicht überall ließ sich die Absicht realisieren. In Brünn und Pilsen scheiterte Heiß sogar, in Budweis war er nur teilweise erfolgreich. Während die Verlagsanstalt Moldavia übernommen wurde, wehrte sich die Buchhandlung Hansen erfolgreich dagegen, nicht zuletzt deshalb, weil Ludolf Hansen „SS-Mitglied, NSDAP-Mitglied sowie Oberleutnant der Luftwaffe“ war (S. 65).

 

Besondere Begehrlichkeiten erweckte die J.G. Calve’sche Universitätsbuchhandlung am kleinen Ring in Prag, deren Inhaber, Robert Lerche, nicht bereit war, sein Geschäft aufzugeben. Da er mit einer jüdischen (bereits verstorbenen) Frau verheiratet war, richteten sich die Maßnahmen gegen seine beiden Söhne, die allerdings nicht als Geschäftsführer belangt werden konnten, da sie nur als „Angestellte“ (S. 76) tätig waren. Es folgte eine „Art psychologischer Krieg“ (S. 78) gegen die Söhne, denen die 1939 bestätigte Volkszugehörigkeit im Frühjahr 1942 wieder aberkannt wurde. Die weiteren Schritte wiesen alle Zeichen einer „bürokratischen Posse“ (S. 79) auf, so wenn die verschiedenen Behörden mit größtem Ernst abwogen, ob die „Betätigung im Fußballklub ‚Deutsche Sportsbrüder‘“ als „Einsatz unter besonderen Opfern“ für die „deutsche Gesinnung“ gewertet werden müsse, ob die beiden Brüder gleich behandelt werden sollten usw. Allen Anfechtungen zum Trotz gelang es Robert Lerche sen., die Buchhandlung bis zum Kriegsende weiterzuführen. Enteignung und Konfiszierung seines Vermögens erlebte er erst danach, bevor er im Oktober 1945 starb. Robert Lerche jun. musste das Land verlassen und führte die Buchhandlung seines Vaters in München fort (wo ihn der Verfasser dieser Besprechung als Student noch kennenlernte).

 

Ein Ergebnis von Halls Recherchen ist auch die Klärung der Zusammenhänge zwischen dem Prager Tagblatt und dem Verlag Julius Kittl Nachfolger in Mährisch Ostrau. Wilhelm Mercy (1866–1914), dessen Firma Heinrich Mercy Sohn das Prager Tagblatt gehörte, vererbte die Firma seiner Frau Ottilie, die verfügte, die Zeitung von „langjährigen Mitarbeitern in unveränderter Weise fortführen zu lassen“ (S. 102): Herausgeber blieb Rudolf Keller, der zugleich auch die „Oberleitung der übrigen auswärtigen Blätter des Verlags Mercy“ (S. 103) behielt, wozu auch der Verlag Julius Kittl zählte. So kam im Firmenregister 1915 die Bezeichnung „Julius Kittl Nachf. Keller & Co.“ zustande (S. 103). Keller, der 1875 in Schlackenwerth bei Karlsbad geboren wurde und 1902 seinen Nachnamen von Kohn in Keller änderte (S. 101), schied zum 31. 12. 1938 aus dem Verlag Heinrich Mercy Sohn und damit auch als Herausgeber des Prager Tagblatts aus, zum selben Zeitpunkt, an dem die Deutsche Zeitung Bohemia und die Prager Presse ihr Erscheinen einstellten. Im folgenden Jahr emigrierte er mit seiner Frau über Großbritannien in die USA (S. 105).

 

Wie Hall belegt, war die Firma Kittl in den 20er und 30er Jahren „durchaus erfolgreich“ (S. 104) und 1922 sogar in der Lage, dem Rowohlt-Verlag aus seiner Finanzkrise zu helfen, indem sie „Hauptaktionär“ wurde (S. 104). Nach 1933 wurde sie im Reich „argwöhnisch beobachtet“ (S. 104), da sie jüdische Autoren wie Ludwig Winder, Ernst Weiß, Ernst Sommer und Friedrich Torberg, die im Reich nicht mehr publizieren konnten, in ihr Verlagsprogramm aufnahm (S. 104–105). Im Juli 1942 waren dann allerdings auch die Tage von Julius Kittl gezählt. Die Buchhandlung wurde von der Volk und Reich GmbH übernommen (S. 111).

 

Diese und viele weitere Aspekte der Verlagspolitik behandelt Hall mit einer Fülle von Details, darunter die Vorzeigezeitschrift Böhmen und Mähren, die der Volk und Reich Verlag als „Blatt des Reichsprotektors“ (S. 113 ff.) herausgab, den Adalbert-Stifter-Preis, den die Zeitschrift ausschrieb und dreimal vergab (S. 147 ff.), die Prager Feldpost-Bücherei (S. 138ff.), die Auseinandersetzung mit der Reinhard-Heydrich-Stiftung (S. 189ff.) und die Buchausstellungen, die immer wieder „als Instrument der Kulturpolitik“ (S. 235ff.) veranstaltet wurden.

 

Schließlich beleuchtet Hall die Nachkriegszeit, in der Heiß versuchte, sich als „unschuldig Verfolgten“ und als „Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime“ zu präsentieren (S. 249). Eine Vielzahl von Zeugen trug dazu bei, dass er als „minderbelastet“ (S. 278) eingestuft wurde, obwohl er nicht nur Mitglied der NSDAP, sondern auch „SS-Standartenführer“ (S. 251) war. Halls Recherchen bestätigen die Auffassung, dass Heiß „kein bloßer Handlanger“, sondern ein „aktiver Gestalter dieser Politik“ (S. 281) war.

 

Auch wenn die Arbeit keine „umfassende Geschichte […] des deutschen Buchhandels in Böhmen und Mähren“ darstellt (S. 282), sondern lediglich beispielhaft den Volk und Reich Verlag und sein Umfeld ausleuchtet, so vermittelt sie doch ein überaus detailreiches Bild, das weit über die bloße Politik dieses Verlags hinausreicht. An dieser Arbeit kommt in Zukunft niemand vorbei, der sich mit der Kulturpolitik des Protektorats Böhmen und Mähren befasst.

 

 

Murray G. Hall: Der Volk und Reich Verlag, Prag. Zur Geschichte des Buchhandels und Verlagswesens im Protektorat Böhmen und Mähren 19391945. Wien: Praesens Verlag 2021, 358 S.


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