Es schreibt: Jozo Džambo

(9. 12. 2021)

Die am Anfang des 18. Jahrhunderts entstandene Steierische Völkertafel, ein Ölgemälde, auf dem europäische Völker mit ihren „Eigenschaften“ dargestellt werden, gilt als eine wichtige Quelle für historische-ethnische Stereotype. Der unbekannte Autor der Tafel listete tabellarisch Natur und Charakter, Eigenschaften, Vorlieben, Auftreten, Zeitvertreib u. a. einzelner Nationen auf und berücksichtigte dabei viele Völker, von den Spaniern und Italienern bis zu den Türken und Griechen, von den Deutschen und Schweden bis zu den Polen und Russen. Nach der Lektüre von Sarah Lemmens Tschechen auf Reisen hätte man sich auf der Tafel auch die Rubrik „Tschechen“ gewünscht, um zu erfahren, welche (Vor)urteile über dieses Volk damals geherrscht haben und ob und inwiefern diese auch drei Jahrhunderte später virulent geblieben sind. Denn das genannte Buch liefert reichlich Stoff nicht nur für Bilder und Vorstellungen, welche die Tschechen von sich hatten, sondern auch solche, die von ihnen weltweit existierten. Wobei über letzteres zu sagen wäre, dass sie und ihr Land selten auf dem Weltatlas zu finden waren oder aber falsch verortet wurden. Die Tschechoslowakei wurde in Albanien, Russland und Spanien oder gar weit außerhalb Europas vermutet. In den tschechischen Schulatlanten wiederum wurden Indien und Böhmen gleich große Landkarten gewidmet! Eine solche Visualisierung musste unbewusst auch die tschechische Weltwahrnehmung beeinflussen.

 

Die Tatsache, dass man „klein“ und doch bekannt und anerkannt war, hatte zur Folge, dass man sich von noch „Kleineren“ und weniger „Zivilisierten“ klar distanzieren wollte. František Foit formulierte das 1932 so: „In der Propagierung des guten tschechischen Namens ist noch viel nachzuholen, wenn wir erreichen wollen, dass wir nicht überall für einen balkanischen, unzivilisierten Staat und für Bohemien-Zigeuner gehalten werden.“

 

Die neu gegründete Tschechoslowakei war bestrebt, die Wichtigkeit ihrer außereuropäischen Beziehungen auch auf institutioneller Ebene zu belegen, dies vor allem mit der Gründung des Orientalischen Instituts (Orientální ústav, 1928) in Prag, für das sich besonders der Orientalist Alois Musil (1868–1944) einsetzte und dem verwandte Institute und Gesellschaften in Europa, aber vor allem das Wiener Orientalische Institut (gegr. 1886) als Vorbild dienten. Musil hob die wirtschaftlichen Aspekte dieses Vorhabens hervor und begründete dies zusätzlich damit, dass nur der Orient „die Kolonie ersetzen [könne], die wir nicht haben, obwohl wir sie benötigen“.

 

Apropos Kolonien: Es mangelte auch nicht an Überlegungen, ob und wie sich die Tschechoslowakei, wenn auch ganz am Rande, am Kolonialgeschehen beteiligen könnte. Als Vorteil wurde angeführt, dass dieser kleine Staat keine koloniale Vergangenheit, keine starke Armee und keine politischen oder religiösen Hintergedanken hätte und als solcher mit seiner „unbelasteten“ Vorgeschichte glaubwürdig auftreten könnte. Rudolf Cicvárek formulierte das 1929 folgendermaßen: „Alle europäischen Kolonien sind auf angriffslustiger, imperialistischer und großkapitalistischer Grundlage aufgebaut. Unsere Kolonie müsste das genaue Gegenteil davon sein.“ Es wurden vor allem überseeische Kolonien in Betracht gezogen, wohlgemerkt Kolonien als Statussymbol, das jedem „erwachsene[n] Staat zustehe“! Südamerika und Afrika gerieten dabei ins Blickfeld. Es wurde über eine Abtretung des afrikanischen Togo an die Tschechoslowakische Republik diskutiert, als mögliche Kolonisationsgebiete wurden auch Kamtschatka, Bolivien, „Tschechisch-Westafrika“, „Tschechisch-Neuguinea“, Teile Abessiniens usw., allesamt in bescheidenem Ausmaß, genannt. Die Kolonien wurden unter anderem als Lösung des „Bevölkerungsproblems“ (Überbevölkerung!) angesehen, aber die Weltwirtschaftskrise machte alle Pläne zunichte – die Tschechoslowakei blieb ein Staat ohne Kolonien.

 

Die Studie Tschechen auf Reisen, die eine überarbeitete Wiener Dissertation (2015) darstellt, behandelt den Zeitraum von 1890 bis 1938, also knapp ein halbes Jahrhundert, in dem das Reisen, auch in ferne Länder immer leichter und demokratischer wurde und der Tourismus sich zu einem massenhaften Phänomen entwickelte. Das spiegelte sich in der Tschechoslowakei auch im Erscheinen mehrerer einschlägiger Zeitschriften und Reiseführer wider.

 

Mehrmals betont die Autorin die Zäsur, die das Jahr 1918 bildet und die in dieser Untersuchung von großer Bedeutung ist: Bis zu diesem Jahr befanden sich die Tschechen im Staatsgefüge der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Nach dessen Zerfall erhielten sie ihren eigenen Staat und damit europäische und globale Relationen, vor allem aber bekam das subjektive Erlebnis der eigenen Nationalität einen ganz neuen Stellenwert. In den Reiseberichten kommt dieser Wandel deutlich zum Ausdruck. Während die Tschechen vor 1918 mit österreichischen Reisepässen durch die Welt wandelten und nur als ein Mosaikstück der Monarchie galten, besaßen sie jetzt eigene Pässe und wurden dadurch auch im Ausland anders wahrgenommen. Diese Anerkennung gestaltete sich nicht einfach und nicht automatisch; im Gegenteil, sie brauchte ihre Zeit, und die Reisenden fühlten sich ihrerseits verpflichtet, bei diesem Prozess ihren Beitrag zu leisten. Die Diplomatie stand in Diensten des neu gegründeten Staates, in der Welt wusste man schon von den tschechischen Legionären, der Name Masaryk erlangte einen hohen Bekanntheitsgrad usw. Fast seismographisch registrierten die Reisenden alle Nachweise über Kenntnisse oder Unwissen über ihr Land. Entsprechend schwankten sie zwischen Begeisterung und Enttäuschung. Auch kleinste Anzeichen des tschechischen Namens in der Welt stilisierten sie zu wichtigen nationalen Merkmalen und unterbreiteten diese ihrem Lesepublikum. Sie triumphierten ob der Begegnung mit den Menschen, die Prag genau orten, Smetana richtig einordnen oder manches tschechische Wort korrekt aussprechen konnten. Nachdem sogar ein Postbeamter auf einer der westindischen Inseln die Tschechoslowakei richtig lokalisieren konnte, fühlte sich Zdeněk Němeček 1929 „als Sohn einer anerkannten Nation“ und frohlockte: „Wir existieren.“

 

So reisten die Tschechen durch die Welt und fühlten sich zumindest zeitweise als Weltbürger, Globetrotter eben, trugen im Gepäck aber stets die Heimat als Richtschnur, mit der sie die ferne weite Welt maßen und beurteilten. Sie „tschechisierten“ diese Welt, indem sie beispielsweise Kairo „wie unser Prag“ ansahen oder den japanischen Wald mit dem Böhmerwald verglichen; die japanischen Lampions kamen ihnen in ihren tschechischen Augen wie Bierfässer (!) vor, während ein Nebenarm des Nils sie an den westböhmischen Fluss Berounka erinnerte; schließlich war Biskra in Algerien für Josef Zdeněk Raušar gar das „nordafrikanische Karlsbad”! Aber auch sonst dienten die Vergleiche dazu, dem Lesepublikum die ferne Welt nahezubringen: In Tunis, Schanghai und Kairo wurden Pariser Züge erkannt, die chinesische Stadt Suzhou und Bangkok galten als Venedig, Kyoto als „japanisches Moskau“, Tokio als „japanisches Sankt Petersburg“ usw.

 

Dass die Autoren in ihrem nationalen Eifer manchmal zu weit gingen, sollten wir nur als eine Anekdote registrieren und dem keine besondere Bedeutung beimessen: František Foit behauptete, dass man sich in ganz Afrika auf Tschechisch „mit ein wenig Kisuaheli und Arabisch verständigen“ könne, und lieferte dafür mehrere Beispiele. So wurde er auch in Alexandria nach allen möglichen Sprachversuchen erst dann verstanden, als er Tschechisch zu reden anfing. Obwohl die koketten Mädchen in einem Dorf unweit von Alexandria Arabisch redeten, sprach er Tschechisch mit ihnen – und so „verstanden wir uns gut“. Ein Pfingstwundererlebnis des Bildhauers Foit!

 

Einen symbolhaften Charakter hatte in allen Reiseberichten das tschechische Bier, das manchmal in den entlegensten Winkeln der Welt entdeckt wurde und somit als Bekanntheitsbarometer der tschechischen Nation und als Teil der tschechischen Nationalidentität galt. Hinzu kam das böhmische Essen und schließlich die Musik – alle drei „Merkmale“ des Tschechentums fanden die besondere Beachtung der Reisenden und wurden als Beweis dafür gedeutet, dass Tschechen und die Tschechoslowakei in der Welt „angekommen“ seien. In dieses Bild passten auch die eigenen Landsleute, die man mehr oder weniger zufällig traf. Wobei der Begriff Landsmann im Ausland recht breit aufgefasst wurde: Traf man beispielsweise einen „Jugoslawen“ oder „Dalmatiner“, so war dies kein gewöhnliches Ereignis, sondern eine stark emotionale Begegnung mit einem „slawischen Bruder“.

 

Den Umschlag des Buches Tschechen auf Reisen ziert eine Weltkarte mit der eingezeichneten Route der Reise, die Jan Antonín Baťa „für den Handel um die Welt“ 1937 unternahm. Andere Reisende „eroberten“ fremde Länder und Kontinente gemäß ihren Interessen und brachten dazu neue Erkenntnisse und Bilder nach Hause, Jan Antonín ging es um die Handelsbilanz bzw. um eine andere Art von „Expansion“. Er brachte es auf den Punkt, indem er verkündete: „Auf der Welt gibt es 1100 Millionen barfüßige Menschen – wir wollen in die Welt“. Dass seine Schuhe die Welt schon erobert hatten, bestätigten auch mehrere Reisende. Vor den ägyptischen Pyramiden stießen sie auf ein riesiges Baťa-Werbeschild und in Dakar oder Khartum auf seine Verkaufsfilialen. Bier, Musik und Glas waren also nicht die einzigen Produkte, auf die man manchmal in den entlegensten Ecken der Welt stoßen konnte, sondern eben auch Schuhwerk. In der Zwischenkriegszeit gehörte die Tschechoslowakei mit verschiedenen Produkten ihrer Rüstungs- und Maschinenbauindustrie zu den führenden Ländern in der Welt, demnach wäre zu erwarten, dass auch die Erzeugnisse der Zbrojovka Brno (Waffenwerke Brünn) in den Reiseberichten irgendeine Erwähnung finden; dies ist jedoch nicht der Fall oder die Autorin bringt keine Belege dafür; für die industrielle Leistung der Tschechoslowakei musste lediglich der Tatra herhalten.

 

Für ihre Arbeit hat Sarah Lemmen etwa 90 Reisebücher ausgewertet und im Anhang der Studie deren Verfasser, 53 an der Zahl, mit Kurzbiografien vorgestellt. In den tschechischen Standardlexika werden etliche von ihnen als „Reiseschriftsteller“ genannt, andere gehörten ganz verschiedenen Berufsgruppen an: Ärzten, Ethnografen, Geologen, Pädagogen, Juristen, Archäologen, Geografen, Missionaren, Diplomaten, Künstlern, Ingenieuren usw. Geistes- und Naturwissenschaftler waren am stärksten vertreten.

 

Das Reisen in ferne Länder war eine kostspielige Angelegenheit, somit stammten die Reisenden fast ausnahmslos aus besser gestellten Gesellschaftsschichten, Tomáš und Jan Antonín Baťa als Industrielle sogar aus der höchsten. Die Autorin führt die Reisekosten an, begnügt sich aber nicht mit den reinen Zahlen, sondern veranschaulicht durch Vergleiche mit Verdiensten und Lebenshaltungskosten, um welche Relationen es sich dabei handelte. Diese Gegenüberstellungen ergeben, dass die Tschechen insgesamt Reisende „zweiter Klasse“ waren, das bedeutet, dass sie sich dadurch sowohl von den „erstklassigen“ Kolonialherren als auch von den Einheimischen, die die billigsten Plätze und Unterkünfte buchten, unterschieden und auch unterscheiden wollten.

 

Einige der Reisenden hielten sich aus beruflichen oder anderen Gründen längere Zeit in der Ferne auf. Der Maler Jaroslav Hněvkovský blieb sogar mehrere Jahre in Indien, wo er die Bekanntschaft mit dem bengalischen Dichter und Nobelpreisträger Rabindranath Tagore machte. Verwiesen sei auch auf Otakar Pertold, der als erster tschechischer Indologe gilt und aus dem Bengalischen, Tamilischen und Burmesischen übersetzte. Alois Bohdan, dessen besonderes Interesse der islamischen Welt galt, konvertierte sogar zum Islam. Bunt war diese reisende und schreibende Gruppe in vielerlei Hinsicht.

 

Frauen gab es ganz wenige unter ihnen, Sarah Lemmen konnte nur fünf Reiseschriftstellerinnen ausmachen. Markéta Barbora Eliášová galt als „einzige tschechische unabhängige Reisende“. Die Lehrerin Ludmila Matiegková firmiert als Ägyptologin, während die politisch links angesiedelte Marie Majerová zur Nationalkünstlerin avancierte. Václav Archibald Novák reiste mit Frau und Sohn. Auch František V. Foit reiste mit seiner Frau durch Afrika; der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bewog sie, nicht in die Heimat zurückzukehren, sondern die nächsten drei Jahrzehnte in Nairobi zu verbringen. Der Zoologe Jiří Baum, der ebenfalls einige Reisen mit seiner Gattin unternahm, kehrte nur zwei (!) Tage vor der deutschen Besetzung des Landes nach Prag zurück, wo er infolge der Rassengesetze nach Theresienstadt und Auschwitz deportiert wurde und im Konzentrationslager Warschau 1944 den Tod fand.

 

Studien über Reiseliteratur gibt es zuhauf, auch solche, die sich speziell mit Reisen in außereuropäische Länder und Kontinente befassen, wobei in diesem Falle vorrangig Autoren aus jenen Nationen vertreten sind, die eine lange koloniale Tradition hatten und die Welt mit ihren „imperial eyes“ beschrieben. Die Tschechen gehörten zu den „nichtimperialen“ Nationen, folglich mussten ihre Augen die fremden Welten auch unweigerlich anders sehen. Das Verdienst der Studie von Sarah Lemmen besteht darin, dass sie eben diese andere Perspektive überzeugend, klar strukturiert, mit wissenschaftlicher Akribie und sehr lesbar ausgearbeitet hat. Die Arbeit, die in der Tat eine Lücke füllt, könnte mehreren Disziplinen zugeteilt werden, in jeder würde ihr eine hohe Qualität zugesprochen werden. Könnte der Rezensent Noten verteilen, würde er ohne Zögern für Tschechen auf Reisen ein summa cum laude vergeben.

 

 

Sarah Lemmen: Tschechen auf Reisen. Repräsentationen der außereuropäischen Welt und nationale Identität in Ostmitteleuropa 18901938. (Peripherien. Neue Beiträge zur Europäischen Geschichte, 2). Köln / Weimar / Wien: Böhlau, 2018, 358 S.


zurück | PDF