Es schreibt: Ines Koeltzsch

(20. 11. 2019)

Das 2001 gegründete Centrum für Jüdische Studien der Karl-Franzens-Universität Graz (CJS) setzt sich seit seinem Beginn für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen LiteraturwissenschaftlerInnen und HistorikerInnen auf dem Gebiet der Jüdischen Studien ein. Die beiden hier vorgestellten Sammelbände – Jüdische Publizistik und Literatur im Zeichen des Ersten Weltkriegs (im Folgenden Jüdische Publizistik), herausgeben von Petra Ernst, der leider 2016 viel zu früh verstorbenen Mitbegründerin des CJS, und Eleonore Lappin-Eppel sowie Jewish Soldiers in the Collective Memory in Central Europe (im Folgenden Jewish Soldiers), herausgegeben von Gerald Lamprecht, Eleonore Lappin-Eppel und Ulrich Wyrwa – sind ein weiteres, wichtiges Ergebnis dieser Bemühungen des CJS. Beide Sammelbände gehen auf Forschungsprojekte des CJS zurück sowie auf Tagungen, an denen zahlreiche internationale KollegInnen teilnahmen und zu dem im letzten Jahrzehnt spürbar gestiegenem Forschungsinteresse der Jüdischen Studien am Ersten Weltkrieg als einem „turning point“ der europäisch-jüdischen Geschichte (Jewish Soldiers, S. 13) beitrugen. Im Mittelpunkt beider Bände steht der „Facettenreichtum jüdischen Selbstverständnisses“ – das gesamte Spektrum der Kategorien „Erwartung – Erfahrung – Erinnerung“ (Jüdische Publizistik, S. 8), das anhand in Vergessenheit geratener fiktionaler und dokumentarischer Texte und Bilder jüdischer AutorInnen Zentral- und Osteuropas während und nach dem Ersten Weltkrieg herausgearbeitet werden soll. Wie bei Sammelbänden üblich lösen nicht alle Beiträge den Anspruch der HerausgeberInnen ein. Wenn im Folgenden nur eine kleine Auswahl von Studien besprochen wird, dann geht es nicht primär um jene Beiträge, die die jüdischen Kriegserfahrungen und -erinnerungen in den böhmischen Ländern und der Tschechoslowakei zum Thema machen (u. a. Rozenblit, Pagi, Marková in Jüdische Publizistik sowie Kieval, Koeltzsch, Szabó, Szeghy-Gayer in Jewish Soldiers), sondern vor allem um jene, die konzeptionelle Anschlüsse für einen Dialog zwischen HistorikerInnen und LiteraturwissenschaftlerInnen und somit auch methodische Anregungen für die bohemistische Forschung bieten.

 

Madleen Podewski untersucht in ihrem Beitrag Krieg in ‚kleinen Archiven‘ (Jüdische Publizistik, S. 11-25) den Zusammenhang von Literatur und Zeitschrift. Ausgehend von ihrer Beobachtung, dass die Interpretation von Literatur in Zeitschriften entweder von ihrem medialen Erscheinungskontext völlig losgelöst wird oder aber auf der Annahme beruht, dass die Zeitschriften ein kohärentes Ganzes darstellen, schlägt sie das Konzept von Zeitschriften als „kleiner Archive“ vor, deren vielfältige und widersprüchliche Formen und Strukturen sowie spezifische Archivierungstechniken es zu erforschen gelte. Nur vor dem Hintergrund dieses „komplexen Gesamtgefüges“ ließe sich Podewski zufolge die Rolle der Literatur in einer Zeitschrift genauer bestimmen. Sie exemplifiziert es im Folgenden anhand des Kriegsjahrgangs 1915 der deutschsprachig-jüdischen Zeitschrift Ost und West, wobei es ihr vor allem um die Frage geht, wie „‚Judentum‘ […] zum Gegenstand medienspezifischer Verhandlungen wird – und dabei unter dem […] Einbezug ganz verschiedener, auch widersprüchlicher und vor allem nicht unter dem Zwang zu diskursiver Integration stehender Optionen und Darstellungsformen, die vom Essay über die Literatur bis hin zur Werbeanzeige reichen.“ (Jüdische Publizistik, S. 14, Hervorhebung im Original.) Sie identifiziert fünf Themengruppen, darunter die umfangreichste Textgruppe, in der die Konzepte von Nation, „Rasse“ und Religion sowie die Position jüdischer Differenz in diesen Konzepten diskutiert werden, desweiteren die praxisbezogene Textgruppe über soziale Fürsorge für osteuropäische Jüdinnen und Juden im Krieg, in der eingebettet in Konzepte der Menschlichkeit, des Fortschritts und der Kultur eine hierarchische und paternalistische Abgrenzung gegenüber den als passiv betrachteten Flüchtlingen vorgenommen wird, sowie die Gruppe der Werbeanzeigen, in denen nur selten explizit jüdische Bezugnahmen zu finden sind. Die Textgruppen stehen daher häufig nicht in einem diskursiven, dennoch aber in einem medialen Zusammenhang wie Podewski betont.

 

Neben Podewskis interessanten Ansatz der „kleinen Archive“ bietet Dieter Hechts Aufsatz über den Nachlass eines jüdischen Soldaten (Jüdische Publizistik, S. 145–166) eine anregende, interdisziplinäre Perspektive, Biografien aus „dinghistorischer“ Perspektive zu schreiben. Inspiriert von Daniel Millers Buch Der Trost der Dinge und Arnon Goldfingers Film Ha-Dira (Die Wohnung) versucht Hecht, den Dingen einer Jerusalemer Fünfzimmerwohnung auf die Spur zu kommen. Ihr Bewohner war der ehemalige k.u.k. Soldat Egon Michael Zweig aus Mähren, der seit seinem Jura-Studium 1895 in Wien und seit 1922 bis zu seinem Tod 1949 in Jerusalem lebte. Seine Wohnung blieb bis 2009 erhalten, und mit ihrem Verkauf wurde der gesamte Nachlass, einschließlich der Möbel, den er teilweise aus Europa mitgenommen hatte, aufgelöst und in großen Teilen einem Antiquariat in Jerusalem übergeben. Hecht zeichnet anhand zahlreicher Textdokumente wie Kriegsanleihen, Postkarten und Todesanzeigen, aber auch von Objekten wie Zinnsoldaten Zweigs Einstellung zum Krieg und seine militärische Laufbahn nach. Trotz einer Sehschwäche hatte sich Zweig seit 1915 bemüht, als Freiwilliger ins Militär einzutreten, was ihm schließlich Anfang 1917 gelang – zum Missfallen seines kleinen Sohnes, der seinen Vater nicht ziehen lassen wollte und Zweigs Erinnerungen zufolge zu Hause geschrien habe: „Der Vater gehört dem Pinkl und nicht dem Kaiser!“ (Jüdische Publizistik, S. 151.) Es ist eindrucksvoll, wie Hecht die zahlreichen Details aus Zweigs Nachlass zu einem Gesamtbild zusammenfügt, wenngleich man sich gewünscht hätte, dass er den dinghistorischen Ansatz noch stärker entfaltet und seine eigene Rolle in der „Neuordnung der [Zweigʼschen] Dinge“ deutlicher gemacht hätte.

 

Hervorzuheben sind auch die Beiträge der LiteraturwissenschaftlerInnen Caspar Battegay, Petra Ernst (beide in Jüdische Publizistik; S. 107–130 bzw. S. 307–327) und Olaf Terpitz (in Jewish Soldiers, S. 169–183). Während Battegay die faszinierenden, aber auch widersprüchlichen und teils abstrusen Spielarten der „utopischen ‚Austriaphilie‘“ bei Nathan und Uriel Birnbaum herausarbeitet und damit wichtige Anhaltspunkte für eine kritische Geschichte des „habsburgischen Mythos“ bietet, untersucht Petra Ernst den Zusammenhang zwischen dem Verschwinden des Genres der Ghettogeschichte und der „Erfindung des Ostjuden“, den sie auf den Ersten Weltkrieg und die Zerstörung osteuropäisch-jüdischer Lebenswelten zurückführt. Ihr Beitrag zeichnet sich hierbei besonders durch eine kritische Rekonstruktion der Genese des von Nathan Birnbaum geprägten und in der Geschichts- und Literaturwissenschaft häufig unreflektiert verwendeten „Ostjuden“-Begriffs aus. Terpitz widmet sich schließlich zwei Schlüsseltexten jüdischer Intellektueller über den Weltkrieg – Shimon An-Skis (alias Shloyme Zanvl Rapoport) togbukh fun khurbn, das erst seit kurzem in deutscher Übersetzung vorliegt und Simon Dubnovs Geschichte eines jüdischen Soldaten. Trotz der ästhetisch unterschiedlich angelegten Texte – Verwebung genereller historischer Betrachtungen und individueller (Kriegs-)Erfahrungen einerseits sowie Betrachtung des Krieges durch das Prisma eines Individuums andererseits – verbindet beide Texte unter anderem die „doppelte Kodierung“ als historisches Dokument und literarischer Text. An-Ski und Dubnov beschreiben den Krieg aus einer integrierten literarischen, ethnografischen und historischen Perspektive und machen ihren ethischen Anspruch, ihre moralische Verantwortung und ihre Pflicht zu erinnern, deutlich.

 

An-Skis und Dubnovs Texte könnten so als frühe Versuche einer Geschichte des Ersten Weltkrieges gelesen werden, die auf den „Erfahrungen und Erwartungen der handelnden oder leidenden Menschen“ gründet. Reinhart Kosellecks Postulat von der dialektischen Verbundenheit von Erfahrung und Erwartung als Grundbedingung historischen Schreibens greift Ulrich Wyrwa in seinem Beitrag auf (Jewish Soldiers, S. 43–66), um die Vielheit, transnationale Verflechtung und Widersprüchlichkeit jüdischer Erfahrungen und Erwartungen in Europa während und nach dem Ersten Weltkrieg zusammenzufassen. Kosellecks Konzept, erweitert um erinnerungstheoretische Fragestellungen, hätte durchaus als Klammer zwischen beiden Bänden fungieren können, die trotz einiger weniger Überschneidungen in der AutorInnenschaft unabhängig voneinander entstanden sind. Beide enthalten (nicht nur für die Jüdischen Studien) wertvolle Beiträge zur interdisziplinären Erforschung des Ersten Weltkrieges, die manchmal leider aufgrund der wachsende Publikationsfülle unterzugehen scheinen.

 

 

Petra Ernst / Eleonore Lappin-Eppel (Hg.): Jüdische Publizistik und Literatur im Zeichen des Ersten Weltkriegs. Innsbruck / Wien / Bozen: StudienVerlag (Schriftenreihe des Centrums für Jüdische Studien, Bd. 25), 2016, 332 S.

Gerald Lamprecht / Eleonore Lappin-Eppel / Ulrich Wyrwa (Hg.): Jewish Soldiers in the Collective Memory of Central Europe. The Remembrance of World War I from a Jewish Perspective. Innsbruck / Wien / Bozen: StudienVerlag (Schriftenreihe des Centrums für Jüdische Studien, Bd. 28), 2019, 377 S.


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