Es schreibt: Zuzana Jürgens

(10. 7. 2019)

Seit Mitte des 17. Jahrhunderts findet in Leipzig die Buchmesse statt. Sie hat somit eine reiche, durch die jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Umstände beeinflusste Geschichte hinter sich, das Wissen um die Verbindung der Literatur mit den gesellschaftlichen Vorgängen spiegelt sich seit Jahren im Begleitprogramm. Das Buchmessegeschehen spielt sich auf dem Messegelände am Rande der Stadt ab. Durch das Projekt Leipzig liest expandiert jedoch die Literatur seit 1992 in die ganze Stadt. Lesungen und Diskussionen finden bis spät Abends an unterschiedlichen, unzähligen Orten statt. Literatur wird hier zu einem Event, die Literatur zu einem (medialen) Ereignis.

 

Immer wieder gibt es auf der Leipziger Buchmesse Gastlandauftritte: Dies trägt nicht nur dem Event-Charakter der Buchmesse bei, sondern bietet dem jeweiligen Gastland die Möglichkeit, die geballte Aufmerksamkeit der Medien, Verlage und Leser zugunsten der eigenen Literatur und Kultur zu nutzen. Ein Erfolg auf dem deutschen Buchmarkt gilt in der Fachwelt als das Eingangstor in die anderen Sprachräume, insb. in den englischen.

 

Auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse, die vom 20.–24. März statt fand, war Tschechien das Gastland. Aus der Presse sind inzwischen die Zahlen gut bekannt: Beinahe 60 Autor/innen kamen nach Leipzig, um an knapp 130 Veranstaltungen teilzunehmen. Es sind 70 Neuübersetzungen aller Genres aus dem Tschechischen erschienen, und es werden noch einige dazu kommen. Im Rahmen des sogenannten Tschechischen Jahres wird auch über die Buchmesse hinaus in allen deutschsprachigen Ländern die tschechische Literatur vorgestellt. Mehr Informationen dazu sind auf der eigens errichteten Website ahojleipzig2019.de zu finden.

 

Ihre Eindrücke aus Leipzig haben inzwischen einige Schriftsteller/innen, also diejenigen, um die es dort vor allem ging, veröffentlicht. Von den durchaus positiven Rückblicken von Jan Němec, Marek Toman oder Bianca Bellová, die nicht nur die Organisation, sondern auch die Atmosphäre in Leipzig und das tatsächlich überraschend große Publikumsinteresse loben, enthebt sich nur der Text von David Zábranský, der allerdings nicht den tschechischen Auftritt kritisiert, sondern die mangelnde Bereitschaft der deutschen Organisatoren, die Lesungen und Gespräche auf Englisch statt finden zu lassen.

 

Tschechische Literatur war insbesondere im Februar und März außergewöhnlich stark in den deutschen Medien präsent. Sie brachten nicht nur um mehr oder weniger abgewandelte Pressemeldungen als ein Ergebnis der Pressearbeit im Hintergrund, sondern einige grundlegende Beiträge und Buchbesprechungen. Ihre Übersicht findet man auf der Website des Gastlandauftritts, hier möchte ich nur auf einige von ihnen eingehen.

 

Die Aufmerksamkeit der Rezensent/innen konzentrierte sich auf die bereits vertrauten Namen: Jáchym Topol, Radka Denemarková, Kateřina Tučková und Jaroslav Rudiš (der durch die Nominierung seines auf Deutsch geschriebenen Romans Winterbergs letzte Reise für den Leipziger Buchpreis besonders im Vordergrund stand). Während J. Rudiš seit einigen Jahren mit seinen Büchern und anderen Aktivitäten in den deutschen Medien wahrscheinlich der bekannteste zeitgenössischer tschechischer Schriftsteller in Deutschland ist, verhält es sich bei den anderen drei anders. Bei J. Topol und R. Denemarková verliefen seit der letzten Übersetzung ins Deutsche (Teufelswerkstatt / Chladnou zemí, bzw. Ein herrlicher Flecken Erde / Peníze od Hitlera, beide 2009 in Übertragung von Eva Profousová) ganze zehn Jahre. Und Gerta. Das deutsche Mädchen / Vyhnání Gerty Schnirch von K. Tučková erschien acht Jahre nach der tschechischen Erstveröffentlichung im Herbst 2018, übersetzt von Iris Milde.

 

Einen Beitrag zur Geschichte der Freude / Příspěvek k dějinám radosti von R. Denemarková (2014; Hofmann und Campe, 2019, übers. von E. Profousová) zählt die F.A.Z Literaturbeilage zu den sieben „wichtigsten Romanen des Frühjahrs“, die Autorin sei „radikal und politisch“. Von der Kritik wurde die Sprache des Romans, sowie die gelungene Verflechtung von Fakten und Fiktion geschätzt.

 

Jáchym Topol wird mit seinem grotesken Road-Movie Ein empfindsamer Mensch / Citlivý člověk (Suhrkamp, 2019, übers. von E. Profousová) als „der mit Abstand interessanteste tschechische Autor dieser Jahre“ bewertet (Birthe Mühlhoff in der Süddeutschen Zeitung). Wobei solche Aussagen über den Autor und sein Werk herzlich wenig aussagen, die Leser aber vermutlich darin bestätigen, den betroffenen Roman in die Hand zu nehmen.

 

Einer der Ziele des Gastlandsauftritts war es, die im deutschsprachigen Raum bislang wenig bekannte Autor/innen vorzustellen, bzw. ihnen eine größere Aufmerksamkeit zu verschaffen. Dies gelang zumindest im Hinblick auf das Presseecho nur zum Teil, und betrifft vor allem den Dichter Petr Hruška: Die Auswahl aus seinen Gedichten Irgendwohin nach Haus (Edition Azur, 2019, übers. von Martina Lisa mit Kerstin Becker) kam im April auf die SWR Bestenliste. Die Gedichte von P. Hruška wurden darüber hinaus in einigen Sammelrezensionen hervorgehoben, genauso wie die Romane Berliner Notizbuch / Berlínské zápisky von Dora Kaprálová (Balaena, 2018, übers. von Ruben Höppner), Der Regenstab / Dešťová hůl von Jiří Hájíček (Karl Rauch Verlag, 2019, übers. von Kristina Kallert), Heute scheint es, als wäre nichts geschehen / Rubikova kostka von Vratislav Maňák (Karl Rauch Verlag, 2019, übers. von Lena Dorn) oder die Erzählungen Lido die Dante von Petr Borkovec (Edition Korrespondenzen, 2018, übers. von Christa Rothmeier).

 

In Anbetracht der Anzahl der Besprechungen kann wohl als die Entdeckung der aktuellen tschechischen Literatur Tereza Semotamová mit ihrem Debütroman Im Schrank / Ve skříni (Voland & Quist, 2019, übers. von Martina Lisa) gelten. Hervorgehoben wird dabei, dass die Frage danach, wie der Mensch als ein letztlich zerbrechliches Individuum in der heutigen komplexen Welt frei leben kann, in einer poetischen Sprache aufgegriffen wird. Julianne Bergmann (NDR Kultur), stellvertretend für alle anderen hier zitiert, schreibt dazu: „Das Unschöne derart schön in Worte gefasst, Ermattung, Verbitterung, schnödes Grau – all das bekommt in diesem Roman eine Poesie, die einen komplette Passagen immer und immer wieder lesen lässt.“ (Es ist übrigens bemerkenswert, dass seit Jahren der tschechischen Literatur ihre sprachlichen Qualitäten attestiert werden; ist es auch bei allen anderen fremdsprachlichen Literaturen so?)

 

Der Umfang der Neuübersetzungen ermöglichte es auch denjenigen, die der tschechischen Sprache nicht mächtig sind, sich einen Einblick über die zeitgenössische tschechische Literatur zu verschaffen. Tschechien wird dabei oft mit Mitteleuropa gleich gesetzt, was sich vor allem im den Titeln wie Sehnsucht nach Mitteleuropa, Zurück nach Mitteleuropa oder Wo bitte geht’s nach Mitteleuropa? spiegelt. Auch bei der Beschreibung der Tendenzen, die die heutige tschechische Literatur ausmachen, sind sich die meisten einig: Es ist die Zuwendung zur Geschichte und zugleich die Aufmerksamkeit gegenüber den gesellschaftlich relevanten Themen. Die tschechischen Autoren „zeigen vergessene Menschen am Rand der Gesellschaft und verdrängte Seiten einer schwierigen Vergangenheit. Was sie aber antreibt, das ist vor allem eine große Lust am Erzählen“, schreibt Holger Heimann im Deutschlandfunk Kultur. Und Tilman Spreckelsen in der F. A. Z. ergänzt: „Die tschechischen Autoren, die heute publizieren, sind zumeist Grenzgänger: zwischen Realität und Phantasma, zwischen Geschichte und Gegenwart und nicht zuletzt zwischen den Kulturen.“

 

Ein Artikel soll hier besonders hervorgehoben werden, Verlust und Wiedergewinnung der Mitte – die Tschechen entdecken ihr multikulturelles Erbe, das sie einst selbst ausgemerzt haben von Andreas Breitenstein (Neue Züricher Zeitung). A. Breitenstein gehört zu den Kennern der tschechischen und deutsch-böhmischen Literatur. Auch in dem aktuellen Text spannt er zuerst einen Bogen bis in die Geschichte, und stellt anhand einiger Beispiele noch mal fest, dass „mit dem epochalen Zerwürfnis von Tschechen und Deutschen eine Kultur der Grenzüberschreitung verloren gegangen [ist], die einst selbstverständlich war“. Auch für ihn spielen die historischen Themen eine wichtige Rolle, wobei „der jungen Generation die alten Komplexe fernstehen, sie hat keine Berührungsängste gegenüber der Tatsache, dass die Tschechen nicht nur Opfer waren und die Moral nicht immer auf ihrer Seite lag“. Betont aber zugleich, dass damit „natürlich der Themen- und Formenreichtum der tschechischen Literatur noch lange nicht erschöpft“ ist, und führt auch hier einige Beispiele auf. Sein Fazit lautet: „Eine Mitte, wenn sie denn etwas taugt, schwindet nie ganz. Sie ist unverwüstlich und unwiderstehlich – wie Tschechien heute, das nach schweren Zeiten der Welt in neuem Glanz offensteht.“ Man möchte sagen: Möge diese Prophezeiung in Erfüllung gehen! Und dem Autor für seine Optimismus dankbar sein.

 

Wie die tschechische Literatur im deutschsprachigen Buchmarkt in den nächsten Jahren präsent sein wird, ob die Verlage und die Kritiker/innen auch ohne den Anreiz des Gastlandauftritts weiterhin tschechischer Literatur ihre Aufmerksamkeit schenken werden, wird sich noch zeigen, es hängt von vielen Faktoren ab. Sicher hilfreich ist dabei nicht nur die „Beschaffenheit“ der Texte, sondern auch die Persönlichkeit der Autor/innen, Offenheit gegenüber den deutschen und europäischen Themen und nicht zuletzt auch aktive Kenntnis der deutschen Sprache.

 

Den Gastlandauftritt auf der Leipziger Buchmesse verantwortet die Mährische Landesbibliothek, die Programmkoordination hat Martin Krafl inne.

 


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