Es schreibt: Jan Budňák

(20. 2. 2019)

Den Blick – zum einen – auf die Moderne als „westliches“ Phänomen zu korrigieren und sie – zum anderen – in breitestmöglichen Zusammenhängen als „Wissensraum“ zu verstehen: Das sind die Aufgaben, die sich der Sammelband Laboratorien der Moderne auf die Fahnen geschrieben hat, der 2016 im prominenten, auf kulturwissenschaftliche Fachliteratur spezialisierten Wilhelm-Fink-Verlag herausgegeben wurde. Wilhelm Fink hat sich vor allem mit Autoren und Autorinnen des klassischen Poststrukturalismus (Jaques Derrida, Friedrich Kittler) profiliert, publizierte von 1964 bis 1998 allerdings auch Sammelbände der Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik, dank derer sich in den 1970er Jahren in der Literaturwissenschaft die sogenannte Konstanzer Rezeptionsästhetik (Hans Robert Jauß, Wolfgang Iser) etablierte. Aus der Konstanzer Schule ging auch der einflussreichste deutsche Zweig der Erinnerungsstudien (Jan Assmann, Aleida Assmann) hervor, die einmal mehr durch eine Finksche Reihe, Archäologie der literarischen Kommunikation, repräsentiert wird. Die bislang letzte Zusammenarbeit mit Fink auf dieser Achse (2010–2018), deren Produkt auch die rezensierte Publikation ist, kam durch das interdisziplinäre Exzellenzcluster Kulturelle Grundlagen von Integration zustande.

 

Der Erwartungshorizont (um in der Konstanzer Terminologie zu bleiben), den die Publikation erweckt, ist also nicht zu vernachlässigen. Die Gründe dafür liegen nicht nur im beschriebenen institutionellen Prestige oder in den bekannten Namen der AutorInnen (Peter Stachel, Moritz Csáky, Claus Zittel, Manfred Weinberg, Andrei Corbea-Hoisie, Schamma Schahadat usw.). Grundlegend ist vor allem das Bestreben, mit dem die HerausgeberInnen Bernd Stiegler und Sylwia Werner diese Publikation verbinden. Sie sehen sie als Versuch einer „Neukartierung der Moderne in Europa“ (S. 8). Die Innovation besteht in erster Linie im Blick „nach Osten“, in Opposition gegenüber dem – zumindest in Deutschland – üblichen Verständnis der Moderne als Phänomen des kulturell progressiven „Westens“. Gerade die mittel- und osteuropäischen Städte, deren spezifischen „modernen“ Konstellationen sich die einzelnen Studien widmen, verstehen Stiegler und Werner als die „Laboratorien der Moderne“ des Buchtitels. Sie betrachten sie als Orte, „die Konflikte und Kontroversen austrugen und dergestalt einen kulturellen Wandel einleiteten“ (S. 8). Diese Orte – in der Publikation sind es Prag, Czernowitz, Budapest, Breslau, Lemberg, Warschau oder Ljubljana – „leisten etwas, was andernorts nur ungleich schwerer zu realisieren war: Durch das enge Zusammenspiel von wissenschaftlichen Disziplinen und kulturellen Aktivitäten auf begrenztem Raum sind diese Städte regelrechte Experimentierfelder, auf denen neue epistemische Konstellationen erprobt werden konnten“ (ebda.). Die Publikation sieht also – beim Blick aus Deutschland wohlgemerkt – nicht nur auf eine bestimmte Seite der Welt, sondern versucht, die Interaktion zwischen „spezifischen intellektuellen, künstlerischen und sozialen Entwicklungen, die es am jeweiligen Ort gab und die als Moderne zu bezeichnen sind“ (ebda.), einzufangen. Ziel ist es, die Moderne als polizentrische und sozial-epistemische Formation zu beschreiben.

 

Eine logische Folge dieser Perspektive ist freilich die Schlussfolgerung, jedes der analysierten Kulturzentren habe im Grunde seine eigene Moderne. Diese Differenzierung impliziert auch die klassische deutschsprachige Literaturgeschichtsschreibung, die üblicherweise mit den Spezifika der Berliner, Wiener oder Münchner Moderne arbeitet. Die Gefahr einer solchen Differenzierung liegt darin, dass der Begriff als solcher an kulturhistorischer Nutzbarkeit verliert, wenn wir von einer Czernowitzer, Lemberger oder Laibacher Moderne sprechen (übrigens hat auch das deutschsprachige Brünn seine Moderne, vgl. Eugen Schick – Die mährische Moderne, 1906, die Schwierigkeiten beginnen jedoch, wenn wir versuchen, sie thematisch oder ästhetisch definieren zu wollen). Von den in den Laboratorien der Moderne enthaltenen Studien begegnet diesem Problem – am Beispiel von Prag – Manfred Weinberg am Schluss seines Beitrags Geteilte Kultur(en)? Prager Zwischenräume. In Anlehnung an den Begriff der Moderne als Ambivalenz, wie ihn Sabina Becker und Helmuth Kiesel formulieren (das Neben- und Gegeneinander, die Gleichzeitigkeit und Pluralität ästhetischer Konzepte bliebe das Kriterium der Moderne. Zweifelsohne bedeute Moderne Ambivalenz, S. 132), leitet Weinberg ab, dass gerade die Erforschung des „kommunikativen Netzes zwischen diesen verschiedenen Modernen“ (ebda.), nicht etwa ihre Homogenisierung Ziel der heutigen literaturwissenschaftlichen Forschung sein sollte. Auch die Prager Moderne (ebenso wie die bereits erwähnte Brünner Moderne) sei „sowohl in sozialer wie in literarischer Perspektive nicht radikal (oder programmatisch); vielmehr eine Moderne als Aushandlungsprozess von Ausdifferenzierung und Pluralisierung“ (ebda.). Eine spezifische Prager Moderne sieht Weinberg somit in der spezifischen Interkulturalität dieser Stadt. Damit beleuchtet er explizit den zentralen, wenn auch auf den ersten Blick vielleicht versteckten Aspekt des Publikationstitels: Es geht nicht um Laboratorien einer Moderne, sondern um Laboratorien verschiedener Formen von Moderne.

 

Dieses Konzept beinhaltet auch – um bei Weinbergs Studie zu bleiben – eine produktive Theorie des Transfers zwischen „nationalen“ Literaturen innerhalb eines „Wissensraums“. Weinberg erklärt mit ihrer Hilfe zum Beispiel die „sprunghafte Moderne“ in der Prager deutschen Literatur der Generation Brods, die auf den Liblice-Konferenzen diagnostiziert und als lebensstiftende Übernahme der „insularen“ Prager Deutschen aus der progressiven tschechischen Avantgarde erklärt wurden (mit gesundem, frischem ethischen Substrat). Weinberg begreift sie allerdings als einen unterschiedlichen Typ von Interkulturalität: Als einen Effekt von Lebensgemeinschaft in Zwischenräumen, der aber die damals bestehende Konfliktkonstellation überhaupt nicht ausschließt. Er empfiehlt „ein vorsätzlich Vergessen machen des Anderen in diesen gemeinsamen Räumen zu fokussieren, weil so das Fremde und Andere gleichwohl noch als anwesend vorauszusetzen sind.“ (S. 128)

 

Ein kleinerer Teil der Laboratorien der Moderne widmet sich, mehr als den spezifischen Modernen der mittel- und osteuropäischen kulturellen Zentren, dem zweiten zentralen Thema der Publikation: dem Zusammenspiel zwischen unterschiedlichen wissenschaftlichen Diskursen und Ästhetiken, die in den jeweiligen Städten gepflegt wurden. Ich erlaube mir – ebenso wie beim ersten Schwerpunkt des Buches – auch das zweite Schlüsselziel der Herausgeber synekdochisch zu behandeln, und zwar anhand einer Studie, die sich ebenfalls dem Prager Umfeld widmet. Es handelt sich um Claus Zittels Text Poetik der Verschwommenheit. Philosophische, psychologische und ästhetische Wahrnehmungskonzepte in der Prager Moderne. Zittel gewährt Einblick in die bislang erstaunlicherweise umgangenen Zusammenhänge zwischen der Ästhetik und Motivik in Brods und in Kafkas (insbesondere frühen) Texten und den damaligen (proto-)phänomenologischen Konzepten von Franz Brentano und vor allem Edmund Husserl und analysiert sie souverän. Im Gegensatz zur Mehrheit der kafkozentrischen Beschreibungen der Prager deutschen Literatur belegt er die Breite und Tiefe des Einflusses von Brentanos Erkenntniskritik auf Brods Umfeld und beschreibt detailliert Brods und Weltschs intensive Rezeption der damaligen Psychologie und Philosophie, aber auch etwa der Physik. Die Studie erhält obendrein einen regionalen Rahmen: Brentanos Einfluss erreichte Deutschland nicht, dafür ist Zittel aber in der Lage, Brods „Poetik der Verschwommenheit“ (in erster Linie abgeleitet aus der Schrift Anschauung und Begriff, 1913) nicht nur bei Kafka, sondern auch bei Paul Adler (Nämlich, 1915) oder später bei Hermann Grab zu belegen. Diese Form von „keinesfalls wirrem Erzählen, sondern von genauer Beschreibung einer wirren Wahrnehmung“ (S. 99) wird in Zittels Darlegung zu einem elementaren Zug des Prager, breit interdisziplinär begründeten modernen „Wissensraums“.

 

Die etwa dreihundert Seiten fassende Publikation kann nicht alle mittel- und osteuropäischen Modernen beinhalten, die sich in den jeweiligen, bislang mehr oder weniger – zumindest aus deutscher Perspektive – vernachlässigten kleinen, deutlich pluralistischen Zentren herauskristallisierten. Diese Absicht ist wegen ihrer breiten kulturwissenschaftlichen Ausrichtung doppelt unmöglich. In einem engeren, etwa einem germanobohemistischen Rahmen ergeben sich aus den Texten wie auch aus dem Konzept eines Laboratoriums der Moderne viele inspirierende und vor allem lösbare Fragen: Wie hängt beispielsweise Otokar Fischers, 1909 auf Tschechisch, 1910 auf Deutsch erschienene Studie O nevyslovitelném (Das Unnennbare), die mit ähnlichen Quellen arbeitet wie Brod und Weltsch (Hofmannsthal, Mauthner), mit Brods „Theorie des Verschwommenheit“ zusammen? Ist sie Ausdruck desselben „Wissensraums“, der eine örtlich-spezifische Form der Moderne darstellt? Die Laboratorien der Moderne geben auf diese Frage, die eine Frage nach interkulturellem Transfer im Rahmen des mitgeteilten Raumes ist, ausgenommen den erwähnten Beitrag von M. Weinberg, keine eindeutige Antwort. Den Begriff der Moderne verstehen Stiegler und Werner darüber hinaus noch immer nicht als riesengroße Vielzahl gleichzeitig stattfindender progressiver wie auch reaktiver und regressiver Tendenzen, sondern als Innovationen, Experimente, Avantgarden unterschiedlicher „Geschwindigkeiten“ (S. 8) in verschiedenen Zentren. Sie erwägen gar die Möglichkeit, „spezifischen intellektuellen, künstlerischen und sozialen Tendenzen in bestimmten Zentren“ (ebda.) die Zugehörigkeit zur Moderne abzusprechen. Diese Abhängigkeit, die Moderne als ästhetische oder eine andere Progressivität zu betrachten, bedarf doch gerade in Hinblick auf die „peripheren Zentren“ einer Neubewertung. Der „Wissensraum“ des Menschen zur Zeit der Moderne muss nicht immer der modernistischen „Poetologie des Wissens“ (Joseph Vogl) entsprechen: ganz im Gegenteil. Das Potenzial des Blicks auf die mehrsprachigen „peripheren Zentren“ durch das Prisma des beschriebenen Wissensraums der Akteure würde so in erster Linie nicht zu einer vermehrten Anzahl von „Modernen“ führen, sondern vor allem zu erweiterten Möglichkeiten, die Moderne als innerlich spannungsvolles Phänomen auf dem Feld der Sprachen, Disziplinen und Ästhetiken zu beschreiben.

 

Übersetzung: Daniela Pusch

 

 

Bernd Stiegler / Sylwia Werner (Hg.): Laboratorien der Moderne. Orte und Räume des Wissens in Mittel- und Osteuropa. Paderborn: Wilhelm Fink, 2016, 312 S.


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