Es schreibt: Mirek Němec

(28. 3. 2024)

„Die Zeiten sind immer seltsam. Kunst ist immer unpassend. Immer unnötig, wenn sie entsteht. Und später, wenn man zurückblickt, ist sie das Einzige, was wichtig war.“ (S. 366) Diese Sätze legt der österreichische, aber in Berlin lebende Autor Daniel Kehlmann dem Helden seines Romans Lichtspiel, dem Filmregisseur Georg Wilhelm Pabst, in den Mund. Wenige Seiten zuvor lässt er Pabsts Frau zum selben Thema zu Wort kommen, wenn auch in völlig widersprüchlicher Weise: „Ich habe eben nur genug von den Meisterwerken. Gäbe es eines weniger auf der Welt, mir würde nichts fehlen.“ (S. 338) Beide Aussagen sind nicht bloß Ausdruck familiärer Zwietracht, sie verweisen vielmehr auf die Spaltung, die in Kehlmanns biografischem Roman im Mittelpunkt steht: das Verhältnis zwischen dem kreativen Künstler, einem Filmemacher, und der totalitären politischen Macht.

 

Der deutsche Originaltitel des Romans Lichtspiel lässt sich als witziges Wortspiel lesen: In seiner ursprünglichen Bedeutung aus dem frühen 20. Jahrhundert bedeutete das Wort „Film“, es wurde jedoch auch als Bezeichnung für das Kino (in der Pluralform: Lichtspiele) verwendet; in seiner wörtlichen Übersetzung und der hier verwendeten Singularform kann es jedoch auch ein Spiel mit dem Licht bedeuten (was auch auf die Dunkelheit verweist). Die erwähnten Möglichkeiten entsprechen nicht nur thematisch, sondern auch formal dem vielschichtigen Werk Kehlmanns. Es handelt sich eigentlich um ein Drehbuch, das der zeitgenössischen Ästhetik der Avantgardefilme des Protagonisten verpflichtet ist, umrahmt von einer Geschichte, in der Pabsts ehemaliger Mitarbeiter die Hauptrolle spielt. Nach mehr als 30 Jahren soll Franz Wilzek rückblickend in einer Live-Sendung von ihrer gemeinsamen Vergangenheit im Dritten Reich erzählen. Doch der Zeitzeuge versagt total. Vor der Kamera kann oder will er die Fragen nach dem letzten Film, den er mit dem auf mysteriöse Weise verschwundenen Pabst gedreht hatte, kaum beantworten, genauso ist er unfähig, sein eigenes Schicksal, geschweige denn das des berühmteren Regisseurs, zu reflektieren. G. W. Pabst war einer der wichtigsten deutschen Filmregisseure der Zwischenkriegszeit, neben F. W. Murnau und vor allem dem heute viel bekannteren Fritz Lang. Sein Schicksal bleibt jedoch geheimnisumwittert.

 

In einer Struktur, die von realen und teilweise sogar mit Archivquellen belegbaren historischen Ereignissen aus Pabsts Leben bestimmt wird, ersinnt Kehlmann eine eigentümliche fiktionale Geschichte, die jedoch nicht den Anspruch hat, die bisher ausbleibende wissenschaftliche Biographie dieser Persönlichkeit der europäischen oder sogar Weltkinematographie zu ersetzen. Obwohl man die Bedenken der Nachkommen Pabsts nachvollziehen kann, die Kehlmann in den Schweizer Medien unmittelbar nach dem Erscheinen des Romans und den ersten positiven Reaktionen eine nicht objektive Perspektive auf ihren Großvater vorwarfen, scheint mir trotzdem nicht, dass es sich um einen Schlüsselroman handelt. In chronologischer Anordnung lässt der Autor vor Augen des Lesers viele spannende, tragische oder humorvolle Geschichten Revue passieren, deren Resultat eine originelle Geschichte eines Mannes ist, der sich auf ein unmenschliches Regime einließ. Dem um fast neunzig Jahre später geborenen Kehlmann (geb. 1975) geht es nicht um Verurteilung oder Anklage und schon gar nicht um persönliche Abrechnung, wie es Klaus Mann in seinem Roman Mephisto. Roman einer Karriere tat (1936). Der Roman ist auch kein weiterer Versuch, die Kollaboration der populären Nachkriegsfilmszene mit dem NS-Regime aufzuzeigen, wie es Elfriede Jelinek in ihrem Stück Burgtheather tut. Kehlmann geht es vielmehr darum, den Künstler in einer schwierigen Zeit zu zeigen und sich in ihn einzufühlen. Dabei entsteht nicht nur ein Buch über den Film und eine Künstlerbiographie von Pabst, sondern auch eine Reflexion über Schuld oder Unschuld. Das Buch lässt sich vielmehr als ein Versuch lesen, das tragische Schicksal des Protagonisten und der ihm Nahestehenden zu verstehen.

 

Heute ist es allerdings schwer nachzuvollziehen, warum Pabst – im Gegensatz zu vielen anderen deutschsprachigen Filmemachern – aus dem amerikanischen Hollywood zunächst nach Europa und dann, nach einem kurzen Zwischenspiel 1938 in Frankreich, in seine Heimat zurückkehrte. Hätte er ahnen können, was nach dem „Anschluss“ und der Erschaffung der so genannten „Ostmark“ Österreich geschah? Kehlmann schildert überzeugend, wie aus dem begehrten Hinterland der ehemaligen österreichischen Heimat ein geschlossener Käfig wurde. Bevor Pabst und seine Familie wieder in die Schweiz reisen können, teilen Hitler und Stalin Polen auf. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ist der Riegel endgültig zugeschlagen. Für Pabst, seine Frau und seinen schulpflichtigen Sohn bedeutet die Grenzschließung eine ungewollte Verlängerung ihres Aufenthalts in dem gleichgeschalteten totalitären Staat. Wenn der fiktive Pabst in der profitorientierten Welt Hollywoods aufgrund seiner mangelnden Englischkenntnisse zunächst machtlos und frustriert ist und letztlich scheitert, weist Kehlmann darauf hin, dass es immer noch schlimmer gehen könnte. Seine Ohnmacht wächst und gipfelt im Kontakt mit den Nazis, insbesondere mit den NS-Behörden. Der so genannte „Rote Pabst“, der vor dem Krieg in seinen Filmen soziale Probleme (Die freudlose Gasse, 1925) und Antimilitarismus (Die Westfront 1918, 1930) thematisiert hatte, verzichtete zwar unter der Nazi-Diktatur auf weitere Filmprojekte, im Prozess der „Verhandlung“ mit dem berüchtigten Propagandaminister kapitulierte er aber. In einer höchst suggestiven Szene konnte Kehlmann die Essenz des politischen Totalitarismus mit Bravour darstellen: Der gefeierte Künstler muss sich entscheiden, ob er als Held und potenzielles Opfer in einem Konzentrationslager möglicherweise totgeprügelt wird, oder ob er als Büßer seinen „Weg nach Canossa“ geht, sich entschuldigt und mit der versprochenen Unterstützung – und natürlich Kontrolle – seinen Ruf und seine unbestreitbaren kreativen Qualitäten zugunsten des Nazi-Regimes einsetzt. Dabei konzentriert sich Kehlmann nicht nur auf Pabst und seine „totale“ Herausforderung, sondern er verfolgt auch die Geschichten der Nebenfiguren, insbesondere seiner Frau und seines Sohnes Jacob, die ein wichtiges Kolorit der Handlung darstellen. Diese reagieren nämlich unterschiedlich auf die Situation, und es ist der künstlerisch begabte und einfühlsame Jacob, der zum tragischen Helden wird. In der Nazischule begreift er schnell, was die morschen Zeiten fordern. Er lässt sich von den Forderungen der Macht mitreißen und zerstört als überzeugter Nazi und Soldat seine mögliche künstlerische Karriere. Seine Eltern wählen Fluchtwege: die Mutter Trude wird zur Alkoholikerin und sein Vater wird arbeitssüchtig.

 

In diesem Panorama des Alltags kann der Leser verschiedene Verhaltensmuster erkennen, von fanatischen Anhängern des Regimes, profitgierigen Kollaborateuren, Opportunisten, die von den alliierten Militärbehörden während der Nachkriegsentnazifizierung als „Mitläufer“ bezeichnet wurden, bis hin zu Exilanten oder Opfern der Ideologie. Kehlmanns Protagonist lässt sich jedoch in keine dieser Kategorien hundertprozentig einordnen. Im Vergleich zu der im Roman sehr negativ dargestellten Leni Riefenstahl dreht er keine eindeutig nationalsozialistische Propaganda, er lässt sich nicht kaufen wie die opportunistischen populären Schauspieler Paula Wessely oder ihr Mann Attila Hörbiger, aber er ist auch kein Opfer, die Pabst um sich herum sieht, aber nicht wahrzunehmen scheint. In dem sehr engen Horizont, den die Besessenheit von der Arbeit vorgibt, verliert er seine moralische Integrität und schließlich seinen Ruf. Obwohl sein Paracelsus (1943) ein meisterhafter Film ist, vielleicht sogar eine versteckte Kritik am Nationalsozialismus, hat er sich in das kollektive Gedächtnis der Deutschen oder Österreicher, genauso wie sein Autor, nicht eingebrannt. Doch der Roman ist keineswegs so oberflächlich, dass er dem problematischen Künstler, der im Interesse des Nationalsozialismus tätig war, den sogenannten Persilschein ausstellen würde. Die lineare Erzählung, die sich mit der Nazi-Ideologie auseinandersetzt, ist nicht langweilig. Das Spiel mit dem Licht zwingt den Leser, über den Sinn der Kunst im Totalitarismus und über die Strategien nachzudenken, wie man in der Finsternis sein eigenes Gesicht bewahren kann und ob es überhaupt möglich ist.

 

Das Schicksal des Romanhelden und seiner Angehörigen zeigt, dass Ohnmacht noch lange keine Machtlosigkeit ist. Es scheint also besser zu sein, sein Talent und seine Kreativität (ganz oder nur zeitweise) aufzugeben, als zur Marionette eines unmenschlichen politischen Regimes zu werden. Die Taten der Machtlosen führen zwar nicht zwangsläufig zur Kollaboration, aber sie werden keineswegs mit einem glücklichen Familienleben oder dem Seelenfrieden einer sinnvollen künstlerischen Arbeit belohnt, die Erfüllung und Befriedigung bringt. Letztlich bleibt aber die Frage, ob und wie viel Macht die Machtlosen im Totalitarismus wirklich haben.

 

Das macht den Roman auch für Leser, die sich mit der jüngeren tschechischen Geschichte beschäftigen, zu einer attraktiven und anregenden Lektüre. Es dürfte ferner noch interessant sein, dass einer der Höhepunkte der spannenden Handlung während des Maiaufstandes 1945 in Prag stattfindet. Und schließlich auch die Tatsache, dass der realhistorische G. W. Pabst 1885 in Roudnice nad Labem geboren wurde und dass er mütterlicherseits aus einer sprachlich gemischten Familie stammte.

 

 

Daniel Kehlmann: Lichtspiel. Hamburg: Rowohlt Verlag, 2023, 478 S.


zurück | PDF