Es schreibt Ingeborg Fiala-Fürst

(14. 4. 2014)

Während in den deutschsprachigen Ländern das Werk Johannes Urzidils (1896–1970) Ende der 50er und in den 60er Jahren Konjunktur erreichte, da in deutschen, österreichischen und Schweizer Verlagen Sammlungen seiner im amerikanischen Exil entstandenen Erzählungen herausgegeben wurden (vgl. Gerhard Trapps Bibliographie der Veröffentlichungen von Johannes Urzidil, in: Böhmen ist überall, Linz, Edition Grenzgänger 1999, S. 189–254), konnte der tschechische Leser das Werk Urzidils erst 1985 kennenlernen, als im Prager Odeon Verlag, in der Reihe „Světová četba“,endlich eine Auswahl seiner Erzählungen unter dem Titel Hry a slzy (Spiele und Tränen) in tschechischer Übersetzung von František Marek erscheinen durfte (nachdem sie bereits jahrelang in der Schublade auf die Druckerlaubnis warten musste). Die Auswahl besorgte der hervorragende Kenner der Prager deutschen Literatur, Kurt Krolop; Jiří Veselý, eine weitere Koryphäe der Erforschung der Prager deutschen Literatur, führte sie ein. In seinem Vorwort unter dem Titel Hledání harmonie (Suche nach Harmonie)stellt Veselý den in Prag geborenen Johannes Urzidil als einen Autor vor, dessen Gesamtwerk sowohl thematisch als auch formal (durch dessen klassischen Stil) auf menschenfreundliche Harmonie und Humanität ausgerichtet ist.

 

Veselý führt die grundlegenden bio-bibliographischen Fakten auf; schreibt über Urzidils Vater, den der Schriftsteller als skurrile Figur voller unversöhnlicher und doch in einer Person vereinigter Gegensätze in seinen Memoiren Väterliches aus Prag und Handwerkliches aus New York (1969) verewigte, berichtet über Urzidils Schul- und Studienjahre am deutschen Graben-Gymnasium und der deutschen Universität in Prag, betont den enormen Einfluss seines Lehrers August Sauer auf die Entstehung von Urzidils großer kulturhistorischer Goethe-Studie (Goethe in Böhmen, 1932, zweite erweiterte Ausgabe 1962, tschechisch 2009 in der Übersetzung von Veronika Dudková und mit einem Nachwort von Václav Petrbok), erinnert an Urzidils Studium der Kunstgeschichte und der Slawistik, das ihn für seine späteren Übersetzungen tschechischer Lyrik (Otokar Březina) und seine Studien über die tschechische bildende Kunst (vornehmlich Jan Zrzavý) ausrüstete. Veselý setzt Urzidil in den Kontext des sog. „Prager Kreises“ der Autoren um Max Brod, Franz Werfel und Franz Kafka, erwähnt seine Ehe mit Gertrud Thieberger, der Tochter des Prager Rabbiners, erinnert an Urzidils hohe Position in der Freimaurerloge Harmonia und an seinen Beruf des Presseattachés der deutschen Botschaft in Prag, den er 1922 bis 1933 ausübte, und beschreibt schließlich die abenteuerliche und gefährliche Flucht Urzidils und seiner Frau aus dem bereits besetzten Protektorat im Juli 1939 und seine Exilschicksale in den Vereinigten Staaten, die zu Urzidils neuer Heimat wurden und wo sein reifes erzählendes Spätwerk entstand.

 

Erneut konnte der tschechische Leser etwas von Urzidil erst in den Zeiten nach 1989 in die Hand bekommen, als 1996 im Argo Verlag ein schmales Bändchen ausgewählter Erzählungen unter dem Titel Kde údolí končí (Wo das Tal endet) erschien und als ein Jahr darauf der Verlag Mladá fronta Urzidils Prager Triptychon in der Übersetzung von Božena Koseková und mit meinem Nachwort Domovské právo (Heimatrecht) heraugab. Etwa ab der Mitte der 90er Jahre erschienen einzelne Übersetzungen der Texte Urzidils auch in Zeitschriften und Anthologien (vgl. die bibliographische Seite der Johannes Urzidil Gesellschaft, die 2005 mit dem Ziel „das humanistische Vermächtnis des Schriftstellers Johannes Urzidil zu propagieren und zu verbreiten“ in Horní Planá/Oberplan gegründet wurde; die Bibliographie wird allerdings nur bis zum Jahre 2004 geführt).

 

1995 tagte in Prag eine internationale Konferenz zu Johannes Urzidil, an der Teilnehmer aus Österreich, Deutschland, den Vereinigten Staaten, der Schweiz und der Tschechischen Republik mitwirkten. Aus den Beiträgen der Konferenz entstand im Sammelband Böhmen ist überall (1999), das Bild Johannes Urzidils als einer vielseitigen künstlerischen Persönlichkeit, eines großen Erzählers, aber auch „barock-expressionistischen“ Lyrikers, eines berufenen Kenners der zeitgenössischen tschechischen Literatur und bildenden Kunst, eines politischen Publizisten, der sich nicht scheute, die Regierungen Masaryks und Benešs für deren tschecho- und pragozentrische Tendenzen und – in den 30er Jahren – die faschistische Diktatur in Deutschland zu kritisieren, das Bild schließlich eines Exulanten in Amerika, der tapfer versuchte, das Exil-Land als seine neue Heimat zu empfinden und in seinem Werk darzustellen, obwohl ihn das Herz – und die Muttersprache – stets zurück in die unwiderruflich verlorene Heimat zogen. Im Jahre 2011 wandte sich die tschechische Germanistik Urzidil erneut zu, als sie – wieder in Zusammenarbeit mit Kollegen aus Österreich, Deutschland, Polen, Frankreich, Italien und den Vereinigten Staaten – in der Universität Ústí nad Labem die Konferenz Johannes Urzidil, ein „hinternationaler“ Schriftsteller zwischen Böhmen und New York veranstaltete, deren Erträge im repräsentativen, sechshundert Seiten umfassenden gleichnamigen Sammelband der Herausgeber Steffen Höhne, Klaus Johann und Mirek Němec (Böhlau Verlag 2013) versammelt sind. (Diesem Sammelband wird ein selbständiges „Echo“ gewidmet.)

 

Im Bewusstsein des tschechischen Lesers figuriert also Johannes Urzidil vor allem als humanistisch denkender Prosaiker, Verkünder der Aussöhnung zwischen Tschechen und Deutschen, der seine eigene Position zwischen beiden nationalen Lagern in dem häufig zitierten Satz (aus der „Prager“ Erzählung Relief der Stadt, in ders.: Prager Triptychon, München, Langen-Müller 1960, S. 12): „ich bin hinternational“, ausdrückte, und als Troubadour des alten, längst untergegangenen tschechisch-deutschen literarischen Prags, dem er in seinen Erzählungen im Prager Triptychon (1960) und Der verlorenen Geliebten (1956), den Essays Da geht Kafka (1965, tschechisch 2010) und in unzähligen weiteren Texten ein großartiges Denkmal baute. Auch manche Erzählungen aus dem Böhmerwald, mit Böhmerwald-Kulisse und mit Stifter-Reminiszenzen, sind dem Leser in Tschechien bekannt. Das tschechische Publikum kennt somit Urzidil als Erzähler, Essayisten, Kulturhistoriker und Vermittler tschechischer Geschichte und bildender Kunst (auf Tschechisch erschienen sind z. B. seine Gespräche mit Ferdinand Peroutka, seine Studie über Goethe in Böhmen, seine Essays über die Problematik der böhmischen Geschichte, seine Korrespondenz mit Jan Zrzavý und Erinnerungen an Zrzavý und andere tschechische Maler). Das tschechische Publikum kennt demgegenüber nicht Urzidils „amerikanische“ Erzählungen, d. h. Erzählungen, die vor der Kulisse der Vereinigten Staaten spielen, sich allerdings mit allgemein menschlichen Fragen beschäftigen, vor allem dem großen Motiv der Sünde, und die eigentlich keine Verankerung im Lokalen brauchen. Das tschechische Publikum kennt Urzidil nicht als Lyriker, Romanschreiber und Dramatiker. Dies ist jedoch kein wirkliches Desiderat, denn Urzidils Lyrik, weder seine frühe expressionistische in der Sammlung Sturz der Verdammten (1919) noch die späte in der Sammlung Die Memnonsäule (1957), ist nicht so bemerkenswert, dass sie unbedingt übersetzt werden müsste – was bei aller Achtung auch für Urzidils einzigen Roman Das große Halleluja (1959) gilt. Und Dramen schrieb Urzidil nicht.

 

Und trotzdem ist es eben die Theaterbühne, auf welcher sich die Renaissance des Urzidilschen Werkes in Tschechien aktuell abspielt: Bereits im Dezember 2009 inszenierte David Jařab im Prager „Komödie-Theater“ (Divadl0 Komedie) die zentrale Erzählung des Prager Triptychons, Weißenstein Karl, am 13. März 2014 führte dann die „Neue Szene“ des tschechischen Nationaltheaters Jařabs Inszenierung der Erzählung Letztes Läuten unter dem Titel Kvartýr auf. Die Prosa stammt aus dem Erzählungsband Bist du es, Ronald? (1968) und liegt seit 1996 auch in tschechischer Übersetzung vor (in dem Buch Kde údolí končí).

 

Ich bin nicht kompetent, mich zu theatralischen Aspekten der (beiden) Inszenierungen zu äußern. Als Laie stelle ich lediglich fest, dass mich beide Vorstellungen aus literaturhistorischen Gründen begeisterten – als Liebhaberin des Werkes Johannes Urzidils, die ich mich mit diesem Werk seit meiner Studienzeit beschäftige, freue ich mich, dass Urzidil dank David Jařab endlich das „Heimatrecht“ in der tschechischen Kulturwelt errungen hatte. Er selbst hätte sich sicher gefreut, dass seine Erzählung sogar im Prager „Nationaltheater“ gespielt wird und dass die zwei autobiographischen Figuren, also er selbst und seine Frau Gertrud, von zwei ausgezeichneten tschechischen Schauspielern, Jan Kačer a Jana Preissová, verkörpert wurden (übrigens prächtig verkörpert, ergreifend, sparsam, sich nur durch Gestik und Stimmmodulation mitteilend). Weiter stelle ich fest, dass ich mich durch beide Inszenierungen unterhalten fühlte, weil ich sie einfallsreich und atmosphärisch stimmig fand, mich von deren sich verdichtenden Spannung, dem Drang zur Pointe und dem unrealistischen Zug tragen ließ. Als Philologin war ich freilich vor allem auf die Verwandlung einer Gattung (Epik) in die andere (Dramatik) gespannt. Einer der Zuschauer beginnt seine kurze Glosse auf der Webseite „i-divadlo.cz“ mit der Beurteilung „die Erzählung eignet sich nicht für die Schaubühne“ – und hat vollkommen recht: Vor Jařabs Inszenierungen konnte ich mir weder Weißenstein noch Letztes Läuten als Theaterstücke vorstellen, denn beide Erzählungen bestehen vorwiegend aus inneren Monologen der Hauptfiguren. Vor allem diese inneren Monologe – nicht irgendein äußerliches Geschehen – bewegen die Geschichte nach vorne, wobei die eigentliche Geschichte nicht etwa Weißensteins Verrat an seinen Geliebten Vlasta und Philomene oder Marschkas unerwartetes Reich-Werden ist (ihr „unverdientes Glück, das mit der Zeit Horror-Ausmaße bekommt“ – vgl. die Annotation auf den Seiten des „Nationaltheaters“), sondern die eigentliche Geschichte ist eben die innere Entwicklung der Personen, die sich vor dem Hintergrund der großen Geschichte und im Kontext des Sünde-Motivs abspielt. Deswegen habe ich gespannt Marschkas Monologe verfolgt (die übrigens recht witzig sind, obwohl aus ihnen freilich durch die Übersetzung der Reiz der Austriazismen, das Böhmakeln scharf an der Grenze zur leichten Vulgarität, das Verhöhnen des Reichsdeutschen und Urzidils typisches Spiel mit den zwei Ebenen einer Metapher verschwunden sind), fasziniert sah ich der Umwandlung eines epischen, teils sogar lyrischen Textes (die Sprache spielt eine enorm wichtige Rolle) in einen dramatischen zu.

 

Eine der Techniken dieser Gattungsumwandlung, die Jařab in der Vergangenheit in seinen Regien im Divadlo Komedie bereits häufig benutzte, ist die Verdichtung der zeit-räumlichen Koordinaten, die Überlappung mehrerer Zeitebenen: Die äußeren Handlungseinheiten (die Emigration der Herrschaft, der Reichtum, der Marschka unerwartet in den Schoß fällt, das Herumschnüffeln der Geheimpolizisten, die Ankunft der Schwester Joschka, die Bekanntschaft mit den deutschen Besatzungssoldaten Gerstengranne und Flaschenkopf, die Prügelei in der Wirtschaft, das Hausieren Joschkas mit Flaschenkopf in der Wohnung, die Beseitigung des jüdischen Hausbesitzers Herzig und schließlich die Ermordung Joschkas) geschehen mehr oder weniger alle auf einmal, manchmal sogar in verkehrter Reihenfolge. Für Zuschauer, die Urzidils Erzählung kennen, ist diese „Unübersichtlichkeit“ (so „i-divadlo.cz“) freilich kein Problem, und auch diejenigen, die die Erzählung nicht im Voraus gelesen haben, verlieren sich – meines Erachtens – in der Handlung nicht. Es verliert sich allerdings etwas die Entwicklung der Hauptfigur Marschka – von einer etwas dümmlichen, naiven, trotzdem weltklugen Bauernmagd, welcher ihre Bäuerlichkeit auch in den im exklusivsten Prager Geschäft angeschafften Schuhen noch anzusehen ist, von einem genusssüchtigen, leicht unehrlichen, trotzdem in manchen Dingen sehr prinzipienfesten Weib, von einer apolitischen Person, die aber trotzdem sehr genau registriert, was um sie herum passiert, von einem lustigen, trotzdem häufig verheulten Mädchen, das witzig und scharf das Geschehen in der großen Welt kommentiert – in eine tragische Figur voll moralischer Kraft. Dank/wegen der Überlappung der Zeitebenen muss die Hauptdarstellerin alle diese Ausgestaltungen der Figur fast zugleich verkörpern und auch noch so, dass die Entwicklung trotzdem lesbar bleibt: Hut ab vor ihrer Leistung! Dass es ihr gelungen ist, belegt die bisher einzige Rezension der Inszenierung (die auch rein theatralische und theatrologische Überlegungen bietet).

 

Zugleich gestaltet sich in der Inszenierung die Beziehung zwischen dem Komischen und Tragischen etwas anders als in Urzidils Erzählung: Die Erzählung, die als hoch komische, hinreißende Burleske beginnt, spitzt sich erst nach und nach, gemächlich zur ernsten Tragödie zu. Jařabs Inszenierung – hiermit also eine klassische Tragikomödie – oszilliert von Anfang an zwischen den beiden Positionen, wobei (was für Jařab allerdings typisch ist) das Ernste, Dunkle, Tragische überwiegt. (Auch Weißenstein ist in Urzidils Original ursprünglich mehr oder weniger eine Humoreske.)

 

In Anbetracht der Hauptattraktion der Inszenierung, die ich – wie gesagt – in der Umwandlung der Gattungen sehe, überraschte und befremdete mich, dass die einzige wirklich dramatische Szene der Erzählung, die Prügelei in der Wirtschaft, als Teichoskopie inszeniert wurde.

 

Die Inszenierung bietet viele weitere Anhaltspunkte zum Nachdenken, Interpretieren, Kritisieren. Desto überraschender ist es, dass außer einiger Stegreif-Glossen auf den web-Portalen und der bereits erwähnten Rezension von Marie Třešňáková keine weiteren Rezensionen aus der Feder berufener tschechischer Theaterkritiker erschienen sind. Dies ist freilich eine Unterlassung, wenn man bedenkt, dass die Premiere – am 13. 3. 2014 – ja ein Gedenkakt zum 75. Jahrestag der Okkupation der Tschechoslowakei und der Errichtung des Protektorats war. Wie viele Erinnerungen dieses Jahrestages hat man im März 2014 in Tschechien überhaupt registriert? In dieser außer- und über-theatralischen Wirklichkeit ist Jařabs Inszenierung wahrlich eine revolutionäre Tat: Sie bringt auf die erste tschechische Bühne das Stück eines böhmisch-deutschen Autors (der vor 75 Jahren aus diesem Land verbannt wurde und sein ganzes Leben lang nicht zurückkehren durfte, dem das „Heimatrecht“ aberkannt wurde), sie behandelt ein immer noch explosives und deshalb tabuisiertes Thema (die Beziehung der Tschechen zu der Okkupationsarmee, zum Holocaust, deren Verhalten im Protektorat) und tut dies – geleitet durch Urzidils umsichtige Weisheit –, ohne plakativen Verflachungen und einfachen Schwarz-Weiß-Zeichnungen zu verfallen.

 

 


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