Es schreibt Jörg Krappmann

(17. 3. 2014)

Nach einer langen Durststrecke entstanden in letzter Zeit gleich zwei Geschichten der österreichischen Literatur von österreichischen Germanisten: Wynfrid Kriegleder: Eine kurze Geschichte der Literatur in Österreich (Wien, Praesens 2011); Klaus Zeyringer/Helmut Gollner: Eine Literaturgeschichte: Österreich seit 1650 (Wien, Studienverlag 2012). Dieses „Echo“ ist keine verspätete Rezension, und es geht nicht um eine Einordnung dieser Literaturgeschichten als Ganzes, sondern lediglich um ihre Auswirkungen auf den Umgang mit der deutschsprachigen Literatur in den böhmischen Ländern. Um allerdings die grundsätzlich andere Perspektive dieser neuen österreichischen Literaturgeschichten zu verstehen, muss eben doch etwas weiter ausgeholt werden.

 

Zweifellos stand die österreichische Literatur lange Zeit im Schatten der deutschen Literaturgeschichtsschreibung. Vielmehr, sie wurde überlagert von einem deutschen Epochenschema, das auf die spezifischen Bedingungen des Kulturraums Habsburg bzw. der Ersten Republik Österreich keine Rücksicht nahm. Daraus resultierte nach der politischen Konsolidierung Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg eine heftige Diskussion über das „Wesen“ der österreichischen Literatur. Diese Auseinandersetzung wurde von Beginn an von sich widersprechenden Gruppen und Einzelpersönlichkeiten beherrscht, die ich der Einfachheit halber hier auf zwei personifizierte Parteien reduziere. Die Schmidt-Dengler-Gruppe (darin auch Zeyringer) war zunächst einmal an einer gründlichen theoretischen Basisarbeit interessiert. Sie suchte nach klaren Kriterien, um eine eigenständige österreichische Literatur neben der deutschen zu etablieren. Die methodologischen Probleme dabei liegen auf der Hand. Beide Literaturen sind in deutscher Sprache geschrieben, und die Schriftsteller beider Länder agierten weitgehend auf dem gleichen literarischen Feld. Erschwerend kommt hinzu, dass es Aussagen mehrerer österreichischer Autoren gibt, die sich dezidiert der deutschen Literatur in ihrer umfassenden Bedeutung zurechneten.

 

Die Zeman-Gruppe (darin auch Kriegleder) setzte sich in heuristischer Weise über die theoretischen Einwände hinweg. Die von Herbert Zeman in den 1980er Jahren konzipierte, allerdings nie vollständig erschienene, mehrbändige Literaturgeschichte bietet thematische Studien zur, aber kein Gesamtbild der österreichschen Literatur. Auch die einbändige Literaturgeschichte von 1996 zerfällt in einzelne Teile konzeptionell unterschiedlich arbeitender Verfasser. Der Vorwurf, der der Zeman-Gruppe von der anderen Seite gemacht wurde, lag in ihrer politischen Beurteilung des neuen Österreich. Während für die Schmidt-Dengler-Gruppe beide Weltkriege jeweils auch eine Veränderung in der geistigen Konzeption Österreichs mit sich brachten, eracheteten die Zeman-Anhänger auch jene geographischen Räume als integralen Bestandteil einer österreischischen Literatur und Kultur, die nach dem Zerfall der Habsburger Monarchie politisch nicht mehr zur Republik Österreich zählten. Die österreichische Germanistik blieb nach diesem Verständnis weiterhin das Refugium für die deutschgeschriebene Literatur aus Böhmen und Mähren.

 

Wegen dieser Schwierigkeiten blieb eine österreichische Literaturgeschichte lange Zeit ein Desiderat. Nun liegen aus beiden Lagern neue Arbeiten vor, die sich in ihrem Umgang mit der Literatur aus Böhmen und Mähren verblüffend ähneln. Kriegleder betont in seinem Vorwort, dass er von einem „finalen Österreich“ (S. 12) ausgeht, für ihn mithin Österreich das ist, was seit der Nachkriegszeit Österreich genannt wird. Damit gehört die deutschsprachige Literatur in Böhmen und Mähren, darunter freilich auch die Prager deutsche Literatur einschließlich Rilke und Kafka nicht mehr zu seinem Gegenstand. Ist allein dieser Verzicht schon ein rechter Drahtseilakt, drängen sich sogleich weitere Fragen auf. Etwa danach, ob die Anwendung eines staatspolitischen Kalküls der Gegenwart der höfisch strukturierten Literatur des Mittelalters gerecht wird. Damit nicht der Eindruck entsteht, es handele sich dabei um akademische Fragen, sei eine ganz praktische Überlegung angeschlossen: Wie schreibt man über die Wiener Moderne ohne Karl Kraus (geb. in Jičín) und Sigmund Freud (geb. in Příbor)? Das geht eben dann doch nicht, weswegen von Kriegleder all diejenigen, die einen längeren Zeitraum in Österreich verbracht haben und in den literarischen Betrieb eingebunden waren, wieder zu Österreichern deklariert werden, also neben Kraus und Freud auch die Autoren der Prager deutschen Literatur wie Leo Perutz, Franz Werfel und Gustav Meyrink. Nicht aber Max Brod, Paul Leppin und Hermann Ungar, die gemeinhin ebenfalls zur Prager deutschen Literatur gezählt werden, aber wohl zu wenig Österreichkontakte aufzuweisen haben. Ganz zu schweigen von den Autoren, die aufgrund ihrer nationalen Anschauung heute keiner mehr haben will, Karl Hans Strobl etwa oder Ottokar Stauf von der March, die den überwiegenden Teil ihres Lebens in Österreich verbrachten und den literarischen Betrieb ihrer Zeit weitgehend mitbestimmten.

 

Diese Konzeption einer österreichischen Literatur geriert sich final, ist aber fatal. Denn hier wird der Kulturraum Böhmen und Mähren, der trotz seiner Vielschichtigkeit einer gemeinsamen kulturhistorischen Entwicklung verpflichtet ist, auseinander gerissen. Nun richtet sich Kriegleders Literaturgeschichte, so das Vorwort, nicht an Fachleute, sondern an Schüler und Studenten. Doch auch aus diesen werden manchmal germanistische Doktoranden, Assistenten und Dozenten, und es ist mehr als wahrscheinlich, dass die einmal angelernte Konzeption ihr weiteres Leben als Wissenschaftler beeinflussen wird.

 

Dagegen richtet sich Zeyringers voluminöser Band weit mehr an ein Fachpublikum. Auch ihm geht es um die Rehabilitierung der österreichischen Literatur, „die vom norddeutsch-preußisch geprägten Kanon ignoriert und in Vergessenheit gedrängt wurde“ (so Daniel Kehlmann im Klappentext). Als Gegengewicht erstellt Zeyringer ein österreichisches Epochenschema, das vermeintlich überflüssigen deutschen Ballast abwirft. So werden, siehe Romantik, siehe Naturalismus, ganze Epochen nicht reflektiert, weil sie angeblich keinen Widerhall in der österreichischen Literatur fanden. Daran wird deutlich, dass sich Zeyringer zwar nicht explizit auf ein finales Österreich bezieht, aber implizit ebenso an einem Kernösterreich orientiert ist. Sonst wäre ihm nicht entgangen, dass die Zeitschrift „Moderne Dichtung“ in Brünn unter dem Signum einer naturalistischen Literaturbetrachtung entstand und erst nach ihrem Umzug nach Wien zur ästhetischen Moderne wechselte. Die Zeit in der mährischen Hauptstadt genügte, um eine ganze Schar von Autoren zu beeinflussen, die wie Phillipp Langmann, Franz Adamus oder Rudolf Rittner in den Industriezentren Mährens auch thematischen Nährboden für ihre naturalistischen Dramen und Erzählungen fanden. Ähnliches ließe sich über die spätromantische Schule in Böhmen anmerken. Dadurch wird, um mit Kehlmann zu sprechen, die Literatur aus Böhmen und Mähren vom politisch korrekten österreichischen Kanon ignoriert und in die Vergessenheit gedrängt.

 

Der Naturalismus ist nur ein Beispiel für die Gesamtkonstruktion des Buches. In Bezug auf die böhmischen Länder werden lediglich die unumgänglichen Autoren berücksichtigt. Zeyringer greift also in der Prager deutschen Literatur auf Rilke, Kafka und Meyrink zurück, aber das weitere literarische Umfeld wird marginalisiert. Hier macht sich schmerzlich bemerkbar, dass Zeyringer die Arbeiten der tschechischen Germanistik nicht zur Kenntnis nimmt. Weder die Arbeiten von Goldstücker, Krolop und Demetz, noch die in den letzten zwei Jahrzehnten reichlich entstandenen Monografien und Studien jüngerer Kollegen werden im Literaturverzeichnis auch nur erwähnt (bei Kriegleder gestaltet sich das etwas besser). Hinsichtlich der neueren Ergebnisse und der Methodendiskussion zur böhmisch-mährischen Literatur nimmt sich Zeyringer also selbst in Isolationshaft und reproduziert vor Jahrzehnten vorgefertigtes Material.

 

Für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Literatur der böhmischen Länder sind beide Literaturgeschichten äußerst problematisch. Da sie tatsächlich ein Desiderat in der österreichischen Kulturlandschaft beheben, ist ihnen eine weite Verbreitung in Lehre und Forschung sicher. Da sie aber eine historische Verantwortung für die Literatur aus den böhmischen Ländern ablehnen, zementieren sie ein Bild dieses Kulturraumes, das nicht den Tatsachen entspricht. Wer aber, wenn nicht die österreichische Literaturgeschichtsschreibung soll sich dieser Literatur annehmen? Die Bohemistik in der Tschechischen Republik wie im Ausland konzentriert sich traditionell weitgehend auf die tschechische Literatur und Germanisten in Deutschland schrecken vor einer eingehenden Behandlung dieser Region zurück, um nicht ins trübe Licht sudetendeutscher Kulturpolitik zu geraten. Wenn nun also die österreichische Germanistik den ungeschriebenen, aber bisher stets eingehaltenen Kontrakt aufkündigt, sich auch um die deutschgeschriebene Literatur in den Nachfolgestaaten ehemaliger Länder der Habsburger Monarchie zu sorgen, dann bleibt die tschechische Germanistik der letzte Hort der deutschen Literatur aus Böhmen und Mähren.

 

Fraglos ist diese regionale Literatur auch der angemessene Gegenstand für diese. Mit den zwei an Kafka und den Prager Frühling zugleich gebundenen Konferenzen in Liblice erreichte sie ihre größte internationale Aufmerksamkeit. Sogar in den Zeiten der Normalisierung, als dieses Thema den kommunistischen Machthabern besonders suspekt war, gab es einzelne Persönlichkeiten, die subversiv weiter über Themen der deutschsprachigen Literatur in Böhmen arbeiteten. Sie legten den Grundstein für die sanfte „Renaissance“ der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur in der internationalen Literaturwissenschaft seit Mitte der 1990er Jahre. Inzwischen liegen zahlreiche Lexika, Monografien und Konferenzbände zu dieser regionalen Literatur vor, an denen nun inzwischen auch schon jüngere Assistenten und Doktoranden beteiligt sind. An sich eine erfreuliche Entwicklung, die durch die beiden Literaturgeschichten erheblich gebremst, wenn nicht abgewürgt wird.

 

Eine direkte Einbindung dieser Literatur in die universitäre Lehre besteht bisher nur in Prag und Olomouc. Eine institutionelle Verankerung im Wissenschaftsbetrieb, wie die Arbeitsstelle für deutschmährische Literatur und das Österreich-Zentrum, existiert bisher nur in Olomouc. Hinzu kommen Projekte an der Akademie der Wissenschaften, wissenschaftliche Einzelkämpfer und der Plan für eine derartig thematisch gebundene wissenschaftliche Institution in Prag. Insgesamt eine zu kleine Basis, wenn ein Wissenschaftsbetrieb aufrecht erhalten werden soll, in dem die Beteiligten Reputation erreichen und in ausreichendem Maße publizieren können. Beides garantierten bisher internationale Konferenzen und Projekte. Erlahmt nun jedoch das Interesse an der regionalen Literatur Böhmens und Mährens im „finalen“ Österreich, bzw. konzentriert sich lediglich auf das Dreigestirn Rilke, Kafka, Werfel, dann wird auch das eben erwachte Interesse an der deutschgeschriebenen Regionalliteratur versiegen und der wissenschaftliche Nachwuchs sich denjenigen Themen, Motiven und Autoren zuwenden, die allgemein in Mode sind. Der Standortvorteil und das ist der einzige Vorteil, den ein Germanist in der Tschechischen Republik gegenüber muttersprachlichen Germanisten besitzt, wäre verspielt.

 

So verständlich es ist, dass die österreichische Germanistik die österreichische Literatur nun aus der Umklammerung durch die deutsche Literaturgeschichtsschreibung lösen möchte und eine eigenständige Perspektivierung unter den spezifisch österreichischen Kulturbedingungen erstrebt, so teuer ist diese Selbstständigkeit mit dem Verzicht auf weitere Darstellung und kritische Aufarbeitung des reichen Kulturraumes Böhmen – Mähren – Prag erkauft. Kann man ihnen zu Gute halten, dass sie aufgrund nationalen Eigeninteresses die weittragenden Folgen ihrer Publikationen anderswo nicht mitbedacht haben? Vielleicht. Der Forschung zu den inter- und intrakulturellen Bedingungen des Kulturraums Böhmen und Mähren, dem germanistischen Nachwuchs und wohl auch dem Kampf der schwindenden Germanistik innerhalb des Universitätssystems der tschechischen Republik haben Zeyringer und Kriegleder jedenfalls einen Bärendienst erwiesen. 

 


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