Es schreibt Michal Topor

(3. 2. 2014)

Während das Werk und Nicht-Werk Franz Kafkas bereits sowohl eine präzise kritisch-editorische als auch Gesamtbearbeitung erfahren hat, blieb hingegen das textuelle Universum von Max Brod (1884–1968), Kafkas Freund, ergebener Interpret und Propagator, bislang von einer solchen Fürsorge „verschont“; nicht einmal diejenigen, die sich eingehender mit Brod beschäftigen wollen, können sich darauf beziehen. Trauriger Ausgangspunkt dieser Situation ist das Fehlen einer zuverlässigen Bibliographie zumindest der Texte, die Brod veröffentlicht hat. Als solche kann auch nicht die (ansonsten sehr hilfreiche) Zusammenstellung gelten, die in den Band Max Brod (hgg. von Werner Kayser und Horst Gronemeyer, Hamburg, Hans Christian Verlag 1972, S. 35–190) eingegangen ist: Diese ist erklärtermaßen ohne die „Artikel in Tageszeitungen und in Bühnen- und Opernzeitschriften“ (S. 35) zusammengestellt worden und hat somit freilich in bedeutendem Maße auch nachfolgende bibliographische Arbeitenbeeinflusst – so z. B. die Auflistung von Einzelbeiträgen unter dem Stichwort Max Brod im Lexikon deutsch-jüdischer Autoren (hg. von Renate Heuer, Bd. 4, München u. a., K. G. Saur Verlag 1996, S. 93–141).

 

Bis heute gibt es demnach – soweit mir bekannt ist – keinen Überblick über die gelegentlichen Beiträge für die Prager Tageszeitung „Bohemia“ vor dem Ersten Weltkrieg (vgl. u. a.: Betrachtungen, Bohemia, 13. 7. 1905, Beilage, S. 1, Höchste Kultur!, Bohemia, 25. 12. 1906, Weihnachtsbeilage, S. 5, oder die flaubertsche Skizze Besuch in Prag, Bohemia, 8. 10. 1909, S. 1–3). Dieser grundlegende Mangel macht es de facto unmöglich, sich das Werk Brods als Ganzes vor Augen zu führen, und hemmt von vornherein jegliche Überlegungen zu einer kritischen Ausgabe, die es möglich machen würde, Textvarianten und Lesartenzu berücksichtigen; dieser Zustandwirft seinen Schatten zwangsläufig auf jede „Auswahl“: Man bedient sich aus einem Œuvre,dessen definitive Parameter nicht bekannt sind, das Problem des Ausgangstextes bzw. der Druckvorlage kommt lieber gar nicht erst auf den Tisch. Der aktuelle Versuch, das Werk Brods zu vermitteln, ist auch mit Hinblick auf diese Einschränkungen zu betrachten.

 

Der Göttinger Verlag Wallstein kam dem Projekt der Germanisten Hans-Gerd Koch und Hans Dieter Zimmermann entgegen und hat 2013 damit begonnen, dem Leser das Werk Brods in der Reihe Ausgewählte Werke näher zu bringen, ferner sind Barbora Šrámková und Norbert Miller als Mitarbeiter angeführt. Im Laufe des Jahres 2013 erschienen die ersten folgenden vier Bände:

 

1) Jüdinnen. Roman und andere Prosa aus den Jahren 19061916 (enthält den Roman Jüdinnen /1911/ sowie die Novellen Indifferentismus /1906/ und Die erste Stunde nach dem Tode /1916/; Vorwort Alena Wagnerová, Nachwort Hans-Dieter Zimmermann),

 

2) Arnold Beer. Das Schicksal eines Juden. Roman und andere Prosa aus den Jahren 19091913 (enthält neben dem Roman Arnold Beer /1912/ auch den „kleinen Roman“ Ein tschechisches Dienstmädchen /1907 bzw. 1909/ sowie die Novelle Weiberwirtschaft /1913/; Vorwort Peter Demetz, Nachwort Barbora Šrámková),

 

3) Tycho Brahes Weg zu Gott. Roman (1915; als Vorwort dient der bereits 1927 zu diesem Zweck verwendete Essay von Stefan Zweig, das Nachwort ist von Roland Reuß),

 

4) Die Frau, nach der man sich sehnt. Roman (1927; als Vorwort wurde eine der damaligen Rezensionen, ein kurzer Text von Franz Hessel,  wiederabgedruckt, das Nachwort hat Hans-Gerd Koch verfasst).

 

Im Mittelpunkteines jeden Bandes stehen also ausgewählte Texte Brods, bereichert durch einen einführenden Essay und eine kleine Studie als Nachwort. Eine kurze editorische Bemerkung weist auf vereinheitlichende orthographische Korrekturen hin und bestimmt die Druckvorlage; wiederholt wird eine übersichtlich gehaltene Zusammenfassung des Lebenswegs Brods präsentiert.

 

In ihrem Vorwort zum ersten Band drückt Alena Wagnerová die Hoffnung aus, dass die Auswahl zur Belebung des Interesses am Werk Brods beitrage, „weil sein Werk zu dem Franz Kafkas ein interessantes Pendant herstellt“ (S. 8). Gerade der Roman Jüdinnen ist ihrer Meinung nach ein gutes Beispiel für die konträre Veranlagung Brods: Im Unterschied zu Kafka finde Brod „die Tiefen auf der Oberfläche der gelebten Welt“ und gebe „damit Zeugnis über den Zustand des Menschen in seiner Zeit“ (S. 9). Der Kommentar zu den weiteren Prosatexten, die in den Band aufgenommen wurden, beschränkt sich auf einige interpretierende, ihren Bezug zum Leitroman jedoch wenig erklärendeZeilen.

 

Die Verfasser der Vor- und Nachworte zu den einzelnen Bänden der Neuausgabe haben eszuweilennicht vermieden, die Texte Brods unvorsichtig mimetisch als etwas Repräsentatives bzw. als Dokumentation von allgemein Faktischem zu lesen, wie etwa die gesellschaftlich-nationale „Situation in der Stadt“ in Ein tschechisches Dienstmädchen (H. D. Zimmermann, Bd. 1, S. 335),  was umso leichter ist, wennBrod als „ein psychologischer Realist erster Klasse“ (S. 336) aufgefasst wird, aufmerksam gegenüber den Details des Alltages. Auch in anderen Prosatexten ist das wahrheitsgetreue (quasi historiographische oder prophetische) Einfangen einer bestimmten Welt zu finden, so „die kleine Welt der Prager assimilierten Jeunesse dorée vor dem Ersten Weltkrieg“ (P. Demetz, Bd. 2, S. 11) oder „der provinzielle Charakter Prags in den letzten Jahren der Monarchie“  (B. Šrámková, Bd. 2, S. 344). Diese und weitere Vereinfachungen, zu denen beispielsweise auch die Feststellung von Hans-Gerd Koch gehört, dass „Liebesbeziehungen sowohl in seinem [Brods] Leben als auch in seinen Texten ein wichtiges Element“ darstellten (Bd. 4, S. 334), gehen wohl darauf zurück, dass Brods Ausgewählte Werke als eine leserorientierte Ausgabe gedacht sind und die damit verbundenen Ausführungen die vermuteten Erwartungen womöglich nicht untergraben sollen. Mit dieser Annahme scheint auch die anziehende fotografische Gestaltung des Buchumschlages mit Retro-Patina zu korrespondieren.

 

Damit sollen jedoch die Beiträge der Autoren nicht vollständig abgetan sein. In seinen Erläuterungen zu Brods „Indifferentismus“ entwickelt H. D. Zimmermann zweierlei Möglichkeiten der Auslegung jenes Begriffes: Zum einen im Hinblick auf die spezielle Situation des Judentums (und die Schwierigkeiten der Assimilation), zum anderen mit Augenmerk auf die Vorstellung der allgemeinen Auflösung oder des Verfalls der traditionellen Werte zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Innerhalb dieses Rahmens thematisiert er außerdem (wenn auch lediglich flüchtig) Brods Aufbruch zu einem neuen Selbstverständnis, hin zum Judentum, zum Zionismus. In diesem Spannungsfeld zwischenindifferentem Ästhetizismus und der Entdeckung des Judentums entwickelt auch Peter Demetz im Vorwort zum Band Arnold Beer seine Überlegungen. In diesem Zusammenhang ist sein Hinweis auf die Verbindung zwischen den Romanen Schloß Nornepygge (1908) und Arnold Beer, d. h. auf die gegenseitige Rückspiegelung zwischen Walder Nornepygge und Arnold (S. 11), interessant, Demetz betont die Bedeutung der Begegnung Arnolds mit der sterbenden Großmutter als Vertreterin des lebendigen Judentums (S. 13–14). Es ist bedauerlich, dass Schloß Nornepygge (an dessen Bedeutung für seine Zeit auch H. D. Zimmermann erinnert) – zumindest dem mir bekannten Editionsentwurf nach – innerhalb der vorbereiteten Reihe unberücksichtigt bleibt.

 

Auf die Evokation der Beziehungen zwischen Brod und der tschechischsprachigen kulturellen Szene gründet am ergiebigsten Barbora Šrámková ihren Kommentar, ihre Kenntnisse nutzend, die bereits in ihrer Dissertation Max Brod und die tschechische Kultur (Wuppertal, Arco Verlag, 2010) zur Geltung kamen. Sie erinnert an Brods Referat über die erste Ausstellung der Prager tschechisch-deutschen Künstlergruppe Osma (April–Mai 1907; der Text Frühling in Prag ist in der Zeitschrift „Die Gegenwart“ erschienen), an einen Brief an denRedakteur der Zeitschrift „Moderní revue“ Arnošt Procházka (1907) und gibt einen Überblick über die tschechischsprachige kritische Rezeption des Werkes Ein tschechisches Dienstmädchen. Diese Bezugsebene lassen die übrigen Autoren beinahe völlig beiseite. So arbeitet z. B. Roland Reuß im Nachwort zum Roman Tycho Brahes Weg zu Gott zwar mit der Interpretation, die dank Brods Memoiren überliefert ist, nicht jedoch mit dessen Brief an Adolf Wenig, der in tschechischer Übersetzung in Wenigs Vorwort zu seiner Übertragung des Romans erschienen ist (Prag, F. Topič1917). Reuß weist aufdie Umstände der Entstehung und Herausgabe des Romans hin (er erwähnt die Widmung an Kafka und dessen Reaktion), weiterhin die Basis-„Dialektik“ des Erzählten (Brahe/Kepler), jedoch ohne eine tiefgehende Interpretation zu bieten. Er kommentiert auch in keiner Weise den späteren Geleittext Stefan Zweigs, der so zum dekorativen Bonus ohne Kontext wird. Ebenso verhält es sich auch mit einigen Abschnitten, die Franz Hessel in der Zeitschrift „Die Literarische Welt“ dem Roman Brods Die Frau, nach der man sich sehnt (1927) widmete und die nun als „Vorwort“ beigefügt wurden.

 

Die vorstehend wiederholt geäußertenVorbehalte gegenüber einigen Passagen der Kommentare wollen das rein positive Ethos des neuen editorischen Unterfangens nicht schmälern, das in der belebenden synekdochischen Vermittlung eines Werkes besteht, dessen Erforschung lohnenswert ist. Für März dieses Jahres wurden zwei weitere Bände angekündigt: Zum einen nochmals Prosa, der Roman Stefan Rott oder Das Jahr der Entscheidung (1931), und zum anderen Brods Kunst- und Literaturkritiken, die unter dem Titel Über die Schönheit häßlicher Bilder erscheinen werden, wobei jedoch neben der gleichnamigen Essay-Sammlung aus dem Jahr 1913 auch weitere, zum Teil bislang nicht wieder veröffentlichte Texte, wie zum Beispiel aus dem „Prager Tagblatt“, enthalten sein werden.

 

Übersetzung Daniela Pusch


zurück | PDF