Es schreibt: Marie Rakušanová

(17. 8. 2015)

In der tschechischen Kunstgeschichte gibt es Themen, die im Allgemeinen als fachlich erschöpft gelten. Eines davon ist zweifellos die Künstlergruppe Osma, die im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts moderne europäische Strömungen in die böhmische Kunstszene einführte. Die Bedeutung dieser Gruppierung wurde bereits von den wichtigsten Autoritäten des Faches bescheinigt. Miroslav Lamač, Jiří Padrta, Mahulena Nešlehová, Petr Wittlich, Vojtěch Lahoda, Karel Srp und viele weitere Kunsthistoriker haben Osma und ihren Mitgliedern eine Reihe von Texten gewidmet. Mit dem Buch Na cestě k modernosti. Umělecké sdružení Osma a jeho okruh v letech 1900–1910 ([Auf dem Weg zur Moderne. Die Künstlervereinigung Osma und ihr Umfeld in den Jahren 1900–1910] Prag, FF UK 2014) hat der amerikanische Kunsthistoriker und -theoretiker Nicholas Sawicki nun bewiesen, dass sich auch an einem scheinbar vollständig erforschten Thema etliche neue und faszinierende Momente entdecken lassen.

 

Sawicki ist Absolvent der New York University und der University of Pennsylvania. Mit der Problematik der modernen tschechischen Kunst machte er sich näher vertraut, als er in den Jahren 2000–2001 im Rahmen eines Fulbright-Hays-Stipendiums am Institut für Kunstgeschichte der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität Prag studierte. Seither hat er zu diesem Thema – meist auf Englisch – zahlreiche Studien publiziert. In Na cestě k modernosti stellt er seine Überlegungen zur modernen tschechischen Kunst nun auch einem tschechischen Lesepublikum vor, wobei er sowohl mit fachlich versierten Lesern als auch mit Laien rechnet. Der Text ist sehr lebendig geschrieben und skizziert die Problematik in ihrer ganzen Komplexität, doch auch mit größtmöglicher Übersichtlichkeit und maximalem Entgegenkommen für Uneingeweihte. Die Studie wurde von Sawicki ursprünglich als Dissertation auf Englisch verfasst und eine Spur dieser ursprünglichen Fassung ist ihr auf sympathische Weise erhalten geblieben – vielleicht auch dank der hervorragenden Übersetzung Pavla Machalíkovás. Eine Publikation des englischen Textes wäre dennoch in vielerlei Hinsicht wünschenswert. Für eine Popularisierung der modernen tschechischen Kunst jenseits der Landesgrenzen wäre ein solches Buch von außerordentlicher Bedeutung.

 

Am spannendsten sind die Passagen, in denen Sawicki mit der Wissbegier eines Ausländers historische Zusammenhänge des kulturellen Lebens in Prag und den böhmischen Ländern jener Zeit offenlegt, als die Künstler der Gruppe Osma die Szene betraten. Seine ausführlichen Analysen der kulturellen Beziehungen zwischen Tschechen, Deutschen und Juden schildern detailliert ein Milieu, zu dem das Neuerertum von Osma in scharfem Kontrast stand. Die tschechische Kunstgeschichtsforschung nimmt die Ergebnisse ähnlicher Analysen als etwas Selbstverständliches hin, Sawicki zeigt jedoch, dass es Sinn macht, herkömmliche Vorstellungen zu überprüfen.

 

Die tschechische Kunstgeschichtsschreibung hat bereits in der Vergangenheit betont, wie außergewöhnlich die nationale Heterogenität von Osma war. Während der Verein bildender Künstler Mánes noch immer von nationalen Kunstvorstellungen ausging und deutschsprachige Künstler aus Böhmen und Mähren in seinen Reihen eher eine Ausnahme bildeten, befreite sich Osma gleichsam ganz natürlich von allen nationalen Verpflichtungen und ihre Mitglieder verbanden sich spontan zu einer Fusion des deutschen, tschechischen und jüdischen schöpferischen Elements. Tschechischer Herkunft waren Emil Filla, Bohumil Kubišta, Antonín Procházka, Otakar Kubín, Emil Pittermann, Vincenc Beneš und Linka Scheithauerová. Aus jüdischen Familien, in denen deutsch gesprochen wurde, stammten Friedrich Feigl und Max Horb, aus einem deutschen Milieu Willi Nowak. Mit dem spezifischen multinationalen Charakter von Osma haben sich bereits zahlreiche Fachleute beschäftigt – insbesondere im Zuge des steigenden Interesses am Phänomen der deutschböhmischen Kunst, das vor allem durch die Ausstellung und gleichnamige Publikation Hana Rousovás Mezery v historii geweckt wurde (Ausstellungskatalog Mezery v historii 1890–1938. Polemický duch střední Evropy. Němci, Židé, Češi, Galerie hlavního města Prahy 1994, dt. u. d. T.: Lücken in der Geschichte 1890–1938: polemischer Geist Mitteleuropas – Deutsche, Juden, Tschechen). Sawicki führt jedoch anhand eingehender Analysen künstlerischer Werke wie auch zeitgenössischer Rezensionen und Polemiken anschaulich vor Augen, wie wenig selbstverständlich die deutsch-tschechisch-jüdische Gemeinschaft von Osma in der Prager Kulturszene des beginnenden 20. Jahrhunderts war.

 

Eine neue, detaillierte Lektüre von Brods berühmter Rezension zur ersten Ausstellung der Gruppe Osma (Max Brod, „Frühling in Prag“, Die Gegenwart 36, 18.5.1907, Nr. 20, S. 316–317) zeigt die überraschte Begeisterung eines Teils der Prager (deutsch schreibenden jüdischen) Intellektuellen über diese unverhoffte multinationale Verbindung schöpferischer Kräfte. Sawicki beleuchtet jedoch auch eingehend die gänzlich gegenteiligen Reaktionen der Prager tschechischen Mehrheitskritik, die den Einzug der modernen Kunst feindselig durch das Prisma von Chauvinismus und Rassismus interpretierte (z. B. Ingram [F. X. Harlas], „Zdravá soutěž. Výstava německých výtvarníků z Čech v Rudolfině“ [Gesunder Wettbewerb. Eine Ausstellung deutschböhmischer bildender Künstler im Rudolfinum], Rozhledy 18, 1908, S. 113). Vor diesem Hintergrund mutet die Existenz von Osma im zeitgeschichtlichen Kontext nahezu exzentrisch an. Ganz richtig bringt Sawicki jene Rhetorik tschechischer Theoretiker und Kritiker mit der allgemeinen europäischen Tendenz in Verbindung, den Modernismus einer Affinität zum Judentum zu bezichtigen. Tatsächlich sei es jedoch die Resignation der meisten Modernisten in Bezug auf nationale Fragen gewesen, die als provozierend empfunden wurde – das Infragestellen einer gängigen Meinung über die Beziehungen von Kunst, Kultur und nationaler Zugehörigkeit löste in Prag, einer Provinzstadt der österreichisch-ungarischen Monarchie, bei einem Großteil der Öffentlichkeit einen regelrechten Schock aus. Sawicki bringt das Erscheinen von Osma wie folgt auf den Punkt: „Hier war eine Alternative entstanden: eine neue, moderne Kunst, deren Urheber Künstler waren, welche sich selbst als ,Prager‘ mit ähnlichen künstlerischen Ansichten betrachteten, die jedoch kein einheitliches, klar formuliertes Nationalitätenkonzept verband“ (S. 112).

 

Sawicki konzentriert sich bei Weitem nicht nur auf Impulse, die Osma aus dem Milieu der deutschsprachigen jüdischen Prager empfing. Er betont auch die Unvoreingenommenheit und Offenheit der tschechischen Gruppenmitglieder gegenüber deutscher Kunst und Kultur. Deutschland spielte für das Interesse der Gruppe an moderner europäischer Kunst in der Anfangszeit eine grundlegende Vermittlerrolle, und es waren deutsche Galerien, Vereine und Gruppierungen, die den deutschböhmischen und tschechischen Mitgliedern von Osma erste Ausstellungsmöglichkeiten im Ausland boten.

 

Sehr plastisch wirkt in Sawickis Darstellung die Geschichte von der Erschließung Prags und seiner kulturellen Institutionen durch die vom Lande stammenden Gruppenmitglieder (Emil Filla, Antonín Procházka, Bohumil Kubišta, Otakar Kubín), die auf der Basis einer sorgfältigen topografischen Studie und gründlicher Archivrecherchen vermittelt wird. Auch hier erforscht Sawicki in sehr inspirierender Weise die damaligen Interaktionen zwischen dem tschechischen, jüdischen und deutschen Element, in diesem Falle trägt er jedoch Berührungsflächen, Durchdringungen und Grenzen direkt in eine Prag-Karte ein. Solcherlei Exkurse sind gewiss nicht nur aus der Perspektive des ausländischen Besuchers interessant – auch gebürtigen Pragern können sie zahlreiche anregende Beobachtungen bieten und auf bislang ungeahnte Zusammenhänge aufmerksam machen.

 

Obgleich die Publikation – auch aufgrund des verbindlichen Formats der Edition Mnemosyne – ihren Umfang bewusst begrenzt und sich zu einer Reihe von interessanten mit dem Thema verbundenen Problemen nicht äußert, gelingt es ihr, bekannte Tatsachen mit scharfem Auge zu prüfen und so etliche grundlegende, bislang übersehene Aspekte für die Diskussion über den frühen tschechischen Modernismus zu entdecken. Das Buch ist ausgewogen und ermöglicht eine Lektüre auf verschiedenen Ebenen. Fachleuten bietet es zahlreiche neue Erkenntnisse, die durch sorgfältige heuristische Forschung und durch tiefgreifende, zwischen Kulturgeschichte und formaler Analyse angesiedelte Interpretationen gewonnen wurden. Laien vermittelt es in übersichtlicher Gliederung und lebendiger Darstellung einen Überblick über die Anfänge der modernen Malerei in Böhmen und deren historischen und gesellschaftlichen Hintergrund.

 

In der Zeitschrift Umění (LXIII, 2015, Nr. 1–2) ist eine ausführlichere Rezension der Autorin zu dieser Publikation erschienen.

 

Übersetzung: Ilka Giertz


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