Es schrieb Max Brod

(12. 5. 2014)

In der Sparte „Es schrieben“ stellen wir diesmal den Essay Der jüdische Dichter deutscher Zunge vor, den Max Brod zum Sammelband Vom Judentum (Leipzig, Kurt Wolff Verlag 1913, S. 261–263) beigetragen hat. Die Buchveröffentlichung wurde vom Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag initiiert, der spätestens mit der Einladung Martin Bubers zu jenen Vorträgen, die später in seinem berühmten Buch Drei Reden über das Judentum (Frankfurt am Main 1911) gesammelt publiziert wurden, Prag zu einem Zentrum der Renaissance des Judentums in Mitteleuropa machte.

 

So präsentierte beispielweise der Kritiker F. X. Šalda den Sammelband im Herbst 1913 als Komplement zu seinen kulturellen Sehnsüchten und Bestrebungen: „Ich kenne die zionistischen Bemühungen seit Jahren und schätze sie seit Jahren, doch kennte und schätzte ich sie früher nicht, so würdigte ich sie von diesem Buch an“ (Česká kultura [Tschechische Kultur] 1, 1912/1913, Nr. 23, 12. 11. 1913, S. 731–732). Šalda bemerkte auch die orientalistische Ausrichtung einiger Aufsätze, verstand das Buch allerdings vorrangig als sympathische Äußerung eines rasanten ideellen Austretens aus dem bislang dominanten liberal-rationalistischen Rahmen des Judentums, dessen typischen Vertreter er mit den Worten beschrieb: „Nationsloser und farbloser ,guter Europäer’, [...] ein praktischer Atheist, [...] eine zersplitterte, vereinsamte Einzelperson, [...] ein ironisches und skeptisches Individuum“.

 

Brods kurzer Text, der gemeinsam mit den Essays von Nathan Birnbaum, Gustav Landauer und Moritz Heimann in den Teil „Probleme der Gegenwart und der Zukunft“ eingeordnet wurde, mochte in der Stimmenvielfalt der abgedruckten Beiträge als Marginalie erscheinen. Hinsichtlich der Autorenzusammensetzung war der Sammelband ein Unterfangen von europäischem Rang und ambitiösen Ausblicken: Neben den sich zu Prag direkt bekennenden Akteuren (Hans Kohn, Hugo Bergmann, Wilhelm Stein, Robert Weltsch, Oskar Epstein, Hugo Herrmann und Max Brod) waren hier auch Autoren aus Wien, Berlin und anderen Städten des damaligen Preußen vertreten, und gemeinsam mit jenen z. B. auch Margarete Susman, im schweizer Rüschlikon lebend, oder Moses Calvary aus Crossen an der Oder (dem heutigen westpolnischen Krosno Odrzańskie).

 

Mit seinem Beitrag zum Sammelband Vom Judentumentwickelte der damals noch nicht dreißigjährige Brod freundschaftliche Kontakte zu den Prager Verfechtern der zionistischen Ideen. Mit seinem die Beziehung zwischen Sprache, nationaler Identität und literarischer Tradition thematisierenden Text versucht er die gefühlte Uneindeutigkeit seiner literarischen Existenz zu erläutern, für die er allerdings seit mehreren Jahren bereits in der deutschsprachigen literarischen Szene bekannt war. In Prag nahm er in bedeutender Weise an literarischen Unternehmungen teil, die aktuelle Arbeiten junger deutschsprachiger Künstler zugänglich machten („Herder-Blätter“, das Jahrbuch „Arkadia“; mehr dazu z. B. von Kurt Krolop in: Studien zur Prager deutschen Literatur, Wien 2005, S. 28–30); gleichzeitig propagierte er die Arbeiten der deutschen Literaten aus Böhmen im Ausland, vor allem in der preußischen Metropole Berlin, indem er mit den dortigen Redaktionen von Zeitschriften und Verlagen zusammenarbeite. Derart vernetzt, konnte Brod umso brisanter das Problem behandeln, das über ihn hinausging: Auch deshalb konnte Jahre später (im Juli 1935) und unter radikal veränderten Bedingungen der Münchner Germanist und Religionswissenschaftler Schalom Ben Chorin in der Monatszeitschrift „Der Morgen“ seine Betrachtungen im Text Der jüdische Dichter deutscher Zunge (Heft 4, S. 145–147) wieder aufgreifen.

 

mt, Übersetzung Daniela Pusch

 

 

Max Brod: Der jüdische Dichter deutscher Zunge

 

Ich möchte zu diesem schwierigen Thema einige noch sehr im Flusse befindliche Gedanken notieren, ohne die Prätention endgültiger Formulierung.

 

Die Fähigkeit zu großer dichterischer Gestaltung und zu naivem Gefühl wird von vielen modernen Theoretikern den Juden überhaupt abgesprochen. Schon dies veranlaßt vielleicht den Dichter, der sich als Jude fühlt, Beziehungen zu den Leistungen der jüdischen Literatur zu suchen. Denn allein mit seinen Werken wagt er der Schneide eines solchen Urteils gar nicht entgegenzutreten. Die Vertrautheit mit dem biblischen und nachbiblischen hebräischen Schrifttum belebt alle heroischen Kräfte im jüdischen Dichter. Daneben bleibt es ein ungeheures Erlebnis, mit der neuen jiddischen Literatur bekannt zu werden und zu sehen, daß dort, wo wir Volk sind, die volkstümliche Naivität allsobald sich einfindet. — Es bleibt von dem Urteil der oben erwähnten Theoretiker kein Hauch übrig.

 

Von biblischer Größe und ostjüdischer Einfachheit erschüttert, reiht sich der national empfindende jüdische Dichter in die jüdische Literatur ein. Ein Konflikt entsteht, wenn er sich in deutscher Sprache, mit dem von deutscher Gefühlsarbeit durchpulsten Wortschatz und im Ausschwingen einer deutschen Literaturbewegung schaffen sieht. Das Volk, an dessen Sprache ich weiterwebe, kann mir nicht fremd sein.

 

Eines ist sicher: Dieser Konflikt verschwindet nicht durch Bagatellisieren, Nicht-Beachtung.

 

Der Dichter kann sein Nationalgefühl ausstreichen. Aber nur um den Preis, in seiner ganzen Persönlichkeit ein unkompletter Mensch zu werden.

 

Der andere mögliche Weg scheint ehrlicher und schöner (denn der dritte einer assimilatorischen Erlangung deutscher Nationalität ist wohl überhaupt nicht vorhanden): durch Vertiefung des eigenen jüdischen Nationalgefühls wie von einer ungewollten, ungeahnten Seite her auch fremde nationale Begeisterung anderer Völker plötzlich zu verstehen. — Die Beziehung zur deutschen Literatur ist dann dadurch gegeben, daß der jüdische Dichter die einzelnen Persönlichkeiten der deutschen Literatur aus seiner allgemeinen Kunstliebe heraus erfaßt, daß er aber außerdem die innerlichste Einbettung dieser Großen in ihr Volksgefühl, gleichsam die Nährflüssigkeit um sie herum durch Analogie mit seinem eigenen Volksempfinden miterlebt.

 

Im einzelnen ergeben sich natürlich die seltsamsten Widerstände. — Die rein sprachlicheSeite schon. Nicht die geringste; – denn jedes Wort, jeder Teil der Form wird dem Dichter ernsthaftester Inhalt. Ist es nun möglich, daß ein Jude jemals die Sprachgewalt Gerhart Hauptmanns 0der Robert Walsers, die gegenwärtig wie an der Quelle deutscher Wortbildung zu sitzen scheinen, erlangt? Oder ist es für ihn anständiger, auf Archaismen und Neufindungen überhaupt zu verzichten, da es nicht das Erbe seiner Ahnen ist, das er verwaltet, sondern fremder Besitz? – Es ist meine Meinung, daß auf dem Wege tiefer jüdischer Nationalempfindung dem jüdischen Dichter deutscher Zunge zum erstenmal Zutritt zum wahren deutschen Volksgeist ermöglicht wird, daß er erst auf diesem Wege des Gewichtes nationaler Sprachwerte und der Verantwortlichkeit für ihren reinen Gebrauch sich voll bewußt wird. Die Freude am eigenen Volkstum ist der Freude an fremdem Volkstum verwandter als die versuchte Erschleichung fremden Volkstums. – Zwei Worte in neuer Richtung zusammenzusetzen, beispielsweise, diese echt deutsche Wortneubildung kann dem national-jüdisch empfindenden Dichter legitim gelingen; er wird auch aus der frischen Mundart, die ihn umgibt, glücklich entlehnen dürfen. Denner hat Volk in sich.

 

Nur allzu schnelle Verzweiflung wird das, was heute deutschschreibende Juden in Worte fassen, für puren Übergang, unorganische Arbeit halten, für Unika, deren jüdischer Geist erst in hebräischer Übersetzung aufleben würde, für künstliche Ge­bilde, deren Vorzug bestenfalls eine abstrakte unschöpferische Sprachrichtigkeit wäre.

 

Auch das Problem des Stoffesfür den deutschdichtenden Juden ist kompliziert. Die Beschränkung auf jüdische Stoffe wäre natürlich Mißverständnis. Ich glaube aber, daß der jüdische Dichter mit Selbstverständlichkeit in denjenigen Figuren, die er von innen erleuchtet, meist Juden darstellt. So auch der Lyriker im „Ich“ seiner Verse. Auch von außen her, also rein episch, treten an diesen Dichter nebst anderen zahllose jüdische Personen und Zustände heran, mit der Forderung, dargestellt zu werden. Es wäre klein, wollte man nur die Darstellung idealer jüdischer Zustände vom Nationalgefühl des Dichters erwarten, also etwa nur die Darstellung jüdischer Ekstase, oder nur jener Hauptprobleme, die als „Taufe“ oder „Zionismus“ oder „Assimilation“ auch dem Nicht-Juden sichtbar im Vordergrund des heutigen jüdischen Lebens stehen. Diese ganz krassen Konflikte interessieren dichterisch vornehmlich den, der in seinem jüdischen Nationalgefühl noch Neuling ist. Dem Eingeweihten eröffnen sich die tausend Schattierungen der Judenseele; er ist mit ihren Hauptkonturen so vertraut, daß er zartere Details formen kann, ohne die Hauptlinien zu stören. Das Gigantische der neuen Bewegung ist ihm selbstverständlich, weil er in ihrem Kern und nicht am Rande ist. Ein solcher Dichter hat sein zukunftsvolles Judentum so fest in sich, daß er sich nun auch zu gefährlichen Ghettotypen in Beziehung setzen kann. Auch der Galuth ist epischer Stoff, auch das bröckligste Westjudentum beschreibenswert. Man hat meine Romane „Jüdinnen“ und „Arnold Beer“ gerade in national jüdischen Kreisen vielfach so mißverstanden, als hätte ich keinen Blick für die höchsten Ziele der Renaissancebewegung, während mir scheint, daß ich in diesen Büchern gerade aus Zielfestigkeit die Diskussion über das Ziel ganz ausschalten und damit den echten jüdischen Roman, dessen Stärke nicht der Konflikt, sondern das Dichterische in ihm ist, mitbegründen konnte. Überflüssig zu sagen, daß ich auch die nationale Begeisterung, die mystische Versenkung in die Tiefen des Judentums für hervorragende dichterische Stoffe halte. Aber auch das unauffällige, gleichsam mittlere, schon halbverfälschte, bedauerliche Judenwesen kann dem liebenden Blicke aufblühen. Nicht nur das Judenproblem: der ganze Jude ist mir dichterisches Problem. Womit nicht geleugnet sein soll, daß für die Tat und Politik alles Zwischenstufenhafte und Zwittrige dem ganz großen Ideal des reinen Volkes ohne weiteres zu opfern ist.

 


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