Es schreibt: Pavel Kosek

(E*forum, 25. 4. 2024)

2022 erschien im Universitätsverlag Winter in Heidelberg in der Reihe Slavica. Monographien, Hand-, Lehr- und Wörterbücher ein bemerkenswertes Werk, das der Geschichte der tschechischen Sprache der tschechischen Exilanten nach der Schlacht am Weißen Berg gewidmet ist. Sein vollständiger Titel, einschließlich des Untertitels, lautet: Sprachen der Exilgemeinde in Rixdorf (Berlin). Autorenidentifikation und linguistische Merkmale anhand von tschechischen Manuskripten aus dem 18./19. Jahrhundert. Es handelt sich um eine leicht überarbeitete Dissertation, die ihr Autor, Alexei Tikhonov, erfolgreich an der Humboldt-Universität Berlin verteidigt hat (betreut von Prof. Roland Meyer).

 

Wie der Titel der Arbeit andeutet, geht es um Handschriften, die im Umfeld der tschechischen Exilgemeinde in Berlin-Rixdorf im 18. und 19. Jahrhundert entstanden sind. Bevor wir mit der Besprechung dieses Buches beginnen, wollen wir kurz an die Erforschung der tschechischen Sprache im Exil nach der Schlacht am Weißen Berg erinnern, die vor dem Buch A. Tikhonovs publiziert worden war. Die Erforschung der Sprache des tschechischen nichtkatholischen Exils in der Barockzeit wurde in der historischen linguistischen Bohemistik lange Zeit vernachlässigt. Die Aufmerksamkeit richtete sich vor allem auf die Sprache der ersten Generation, und innerhalb dieser vor allem auf Johann Amos Comenius – hier sei etwa Kučeras Publikation Jazyk českých spisů J. A. Komenského (1980) erwähnt. Die Sprache der Angehörigen jüngerer Exilgenerationen stand am Rande des Interesses – in der Regel wurde behauptet, es handele sich um eine „Emigranten“-Sprache, die aus „mehr oder weniger vorgefertigten, von der Tradition und religiösen Inhalten getragenen Floskeln“ bestünde (Havránek 1980: 72). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts löste sich die historische Sprachwissenschaft allmählich von diesem wertenden Stereotyp und versuchte, durch die Analyse konkreter Texte ein genaueres Bild der sprachlichen Praxis zu gewinnen. Dabei konnte sie sich auf frühere historiographische und literaturgeschichtliche Forschungen stützen, die insbesondere von Winter (1954) und Škarka (z. B. 1942) durchgeführt wurden. Rösel (1961) war der erste, der diese systematische und unvoreingenommene Untersuchung vornahm und sein Augenmerk insbesondere auf die gedruckte literarische Produktion richtete, die von dem kulturellen Zentrum Halle an der Saale ausging und deren zentrale Figur Heinrich Milde war. Nach 1989, als die endgültigen Schranken für die Erforschung der Sprache des Barocks fielen, wurden weitere Teiluntersuchungen zur tschechischen Sprachproduktion veröffentlicht, die in Zittau, Leipzig und Łubno gedruckt wurde (für einen Überblick hierzu siehe Andrlová Fidlerová 2013).

 

Wie dem Titel der Arbeit zu entnehmen ist, konzentriert sich der Autor auf die Analyse handschriftlicher Texte aus der Umgebung der tschechischen Exilgemeinde in Berlin. Die Wahl des Themas ist in mehrfacher Hinsicht nutzbringend: 1. wie bereits erwähnt, beschäftigt sich der Autor mit einer bisher wenig untersuchten Phase der Entwicklung des Exil-Tschechischen, 2. konzentriert sich die Arbeit auf den Bereich der handschriftlichen Texte des 17. und 18. Jahrhunderts, wobei das Gesamtbild der tschechischen Manuskriptkultur des 17. und 18. Jahrhunderts sich uns immer noch entzieht, 3. wählt der Autor Texte einer Sprachgemeinschaft aus, die nicht nur sprachlich (tschechisch sprachige Menschen in einer mehrheitlich deutschsprachigen Umgebung), sondern auch konfessionell eine Minderheit darstellt (überwiegend Mitglieder der Böhmischen Brüder in einer mehrheitlich lutherischen Gemeinde).

 

Der Schwerpunkt der Arbeit liegt in den Kapiteln 2.–5. Im zweiten Kapitel, Historischer Hindergrund, stellt Aleksej Tikhonov die Geschichte der tschechischen Gemeinde Rixdorf ausführlich dar. Ohne den breiteren historischen Kontext zu vernachlässigen, geht er auf die Gesamtgeschichte des tschechischen nichtkatholischen Exils in der Lausitz, in Sachsen und Brandenburg ein. Ausgehend von der Großgeschichte widmet er sich der Mikrogeschichte der untersuchten Sprachgemeinschaft. Er analysiert die religiösen und nationalen Verhältnisse innerhalb der Rixdorfer Gemeinde, insbesondere die Zahl der Gläubigen, die sich zu den Böhmischen Brüdern, den Reformierten und der Lutherischen Kirchen bekennen. Besonders interessant sind die Abschnitte über die Beziehungen zwischen den kirchlichen Gemeinschaften von Herrnhut, Hall und Rixdorf, über den Einfluss des Grafen Zinzendorf auf die religiösen Verhältnisse und Praktiken der Religionsgemeinschaft sowie über die Entwicklung der Missionstätigkeit. Aber auch andere für die sprachwissenschaftliche Forschung relevante Aspekte bleiben nicht unberücksichtigt: die Entwicklung der Zahl der tschechischen und deutschen Gemeindemitglieder, wie lange es die tschechische Sprachtradition in der Rixdorfer Gemeinde gab, die Entwicklung des Bildungswesens, die Tätigkeit der Prediger in der tschechischen Gemeinde und deren Sprachkenntnisse und -praxis. Mit diesen Informationen bereitet der Autor sich ein Sprungbrett für eine linguistische Analyse, die insbesondere das Ausmaß der tschechisch-deutschen Zweisprachigkeit in dieser Gemeinde und deren Entwicklung aufzeigt. Aufgrund seines synthetischen Charakters geht diese Analyse jedoch über dieses utilitaristische Ziel hinaus und bietet einen nützlichen Überblick über die Geschichte des tschechischen nichtkatholischen Exils im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts.

 

Im nächsten Kapitel Forschungsstand konzentriert sich der Autor auf die Klassifizierung der tschechischen handschriftlichen Quellen, die innerhalb der Gemeinschaft entstanden sind. Er teilt diese Texte in drei Gruppen ein: 1. Lebensläufe, 2. Chorreden, 3. Andere Textarten. Da er sich bei seiner Analyse auf die Lebensläufe beschränkt, ist die Definition dieser Textgattung für den eigentlichen praktischen Teil seiner Arbeit von großer Bedeutung: Es soll sich (idealerweise) um eigenhändige Biographien handeln, die bei Beerdigungen verlesen wurden. Die Autoren der Biographien waren allesamt Mitglieder der Kirchengemeinde, d. h. Prediger, Lehrer, Bauern, Handwerker, Frauen, Männer sowie Kinder. Obwohl es Vorbilder für ihre Abfassung gab und sie in erster Linie die geistige Entwicklung des Biographen widerspiegeln sollten, war ihr Aufbau nicht sehr schematisch. Sie sind daher ein recht zuverlässiges Zeugnis für das authentische schriftliche Tschechisch der untersuchten Exilgemeinde. Ein wichtiger Aspekt dieser Biografien ist jedoch die Tatsache, dass sie in einigen Fällen nicht vom Protagonisten der Biografie (d. h. der betreffenden Person) verfasst wurden, insbesondere dann, wenn diese Person vorzeitig verstarb oder ihr Gesundheitszustand das Verfassen des Textes nicht zuließ. Die Biografien wurden dann auf der Grundlage des Diktats des Protagonisten oder des persönlichen Zeugnisses einer nahestehenden Person verfasst. Die Biographien haben sich in Form von zwei Konvoluten erhalten, die den Zeitraum von 1770 bis 1819 abdecken. Es ist klar, dass sie nur einen Bruchteil des ursprünglich größeren Textkorpus darstellen. Dies veranlasst den Autor, mit detektivischem Einfallsreichtum und Folgerichtigkeit dem historischen Schicksal der erhaltenen sowie nicht erhaltenen Konvolute einschließlich ihres zweiten Lebens nachzugehen (also den Fragen, wie groß ihr wahrscheinlicher Gesamtumfang war, wie viele Exemplare verloren gegangen sind, von wem und wie sie geändert wurden, wer die modernen Abschriften angefertigt hat, wo und von wem Teile von ihnen veröffentlicht wurden, wer sich mit ihrer historischen Analyse auseinandergesetzt hat usw.).

 

Im vierten Kapitel Analyse der Rixdorfer Handschriften nimmt Aleksej Tikhonov eine eigene sprachliche Analyse des untersuchten Materials vor. Dabei wählt er eine für die tschechische historische Linguistik ungewöhnliche, ja bahnbrechende Methodologie. Auf den Korpus der transliterierten Lebensläufe wendet er den Ansatz der quantitativen Textanalyse (Stilometrie und Bestimmung der Autorschaft) an. Er ist sich der Möglichkeiten und Grenzen dieser Methoden, deren Entstehung und Entwicklung er im Unterkapitel Stilometrie und quantitative Methoden ausführlich erläutert, zugleich gut bewusst. Er reflektiert ferner, dass die quantitative Analyse handschriftlicher Biographien deren Besonderheiten berücksichtigen muss: Zum einen hätten sie nämlich von einer zweiten Person verfasst, zum anderen von einer zweiten, dritten oder vierten Person abgeschrieben und bearbeitet worden sein. Zu diesem Zweck übernimmt er Laschs Heterobiographien-Konzept und erstellt seine eigene Rekonstruktion der Textgenese der untersuchten Biographien. Da der Autor oder Verfasser der untersuchten Texte auch eine andere Person sein könnte, bildet er zwei Gruppen von sprachlichen und grafischen Merkmalen der Texte, die zum Ausgangspunkt für die quantitativen Analysen werden: 1. sprachliche Phänomene (Textgrenzen, Satzlänge, ausgesuchte Verbformen, das Beispiel der Veränderung der Dativ- und Lokalendung -ovi> -oj, protetisches v-, Diphtongisierung ý >ej, Konkurrenz der Konjunktionen / Relativa když, kdež, kdiž, dyž usw.), 2. orthografische Phänomene (Korrekturen/Revisionen, Distribution von js- × s- in den Präsensformen des Verbs býti, Distribution von Großbuchstaben oder grafische Form der Toponyma). Der Autor verwendet einschlägige Sekundärliteratur und das diachrone Subkorpus DIAKORP des Tschechischen Nationalkorpus (Český národní korpus). Natürlich stellt sich die Frage, warum diese Phänomene ausgewählt wurden und nicht andere, oder ob die Bewertung der Phänomene angemessen sei. Da aber Umfang und Grad der Repräsentation einzelner Phänomene in allen Texten in gleicher Weise untersucht werden, bieten diese Analysen eine zuverlässige Grundlage für quantitative Analysen und Vergleiche einzelner Biographien. Die ermittelten Gruppen von sprachlichen und graphischen Merkmalen der Lebensläufe wurden dann zur Grundlage für die Berechnung der euklidischen Abstände zwischen den Texten benutzt, was wiederum zur Bestimmung der Nähe der untersuchten Texte führte, die im folgenden Kapitel vorgenommen wird.

 

Die Ergebnisse der Analysen dieser Parameter werden dann im fünften Kapitel (Ergebnisse der Autoren-/Schreiberzuordnung) vorgestellt, das als Kernstück von Tikhonovs Buch angesehen werden kann. Auf der Grundlage der quantitativen Analyse erstellte der Autor Dendrogramme, Grafiken und Tabellen, die seine Berechnungen im Unterkapitel Vergleich linguistischer Merkmale zwecks der Autoren-/ Schreiberzuordnung veranschaulichen. Daraus leitet er ab, dass 26 Autoren und 12 Schreiber an dem Verfassen der Lebensläufe von 184 Protagonisten beteiligt waren. Seiner Analyse zufolge wurde der größte Teil der untersuchten Texte von nur wenigen Autoren verfasst und der größte Teil daraus wiederum von wenigen Schreibern abgeschrieben. Die Forschungen von Tikhonov haben auch gezeigt, dass die beiden untersuchten Konvolute keine geschlossenen Textkorpora bilden, sondern dass einige Texte, die in beiden Konvoluten enthalten sind, höchstwahrscheinlich denselben Autor oder Schreiber haben. Dieser quantitativen Analyse folgt eine qualitative Analyse (Unterkapitel Weitere sprachliche Faktoren), in der einige Aspekte der untersuchten Texte näher betrachtet werden: die Merkmale der männlichen und weiblichen Autoren aus der Sicht der Genderlinguistik, Zierinitialen, ausgelassene Passagen, der Einfluss des Deutschen auf das Tschechische und im Text enthaltene Korrekturen/Verbesserungen. In diesem Teil sucht Alexej Tikhonov auf geniale Weise nach sprachlichen, inhaltlichen und graphischen Hinweisen, die es ihm ermöglichen würden, konkrete historische Figuren, die mit der Gemeinde Rixdorf in Verbindung stehen, mit den abstrakten Autoren und Schreibern zu identifizieren, die auf der Grundlage quantitativer Analysen ermittelt wurden. Für die zeitgenössische tschechische historische Linguistik ist der bereits erwähnte Abschnitt Aspekte Gender und Genderlinguistik sehr anregend. Zum einen handelt es sich um ein vernachlässigtes Thema in der tschechischen historischen Linguistik, zum anderen basiert es auf einem ausführlichen Exkurs über die Rolle der Frauen im Leben der Berliner Exilgemeinde. Dann folgt ein sehr umfangreicher Abschnitt, der den Korrekturen/Verbesserungen/Revisionen (Revisionen) gewidmet ist, die sich in syntaktische, morphologische, orthographische und semantische Korrekturen der untersuchten Texte gliedern. Die untersuchten Revisionen weisen auf die Genese des Textes, die Zeit seiner Entstehung, Varianten in der orthographischen und grammatikalischen Struktur des Tschechischen des 18. Jahrhunderts hin und schließlich auf den Einfluss des Deutschen auf die Sprache der Mitglieder dieser Exilgemeinde.

 

Tikhonovs Publikation ist ein innovatives und in gewisser Weise bahnbrechendes Werk in der tschechischen historischen Linguistik. Ihre Bedeutung liegt in mehreren Aspekten: 1. sie versucht, die Methoden der quantitativen Linguistik auf spezifische ältere tschechische Texte anzuwenden (insbesondere die Bestimmung der Autorschaft und die Stilometrie), 2. sie behandelt ein bisher unerschlossenes Gebiet (die handschriftlichen tschechischen Texte der Exilgemeinde aus dem 18. und 19. Jahrhundert), 3. sie führt methodologische Impulse der zeitgenössischen Soziolinguistik und der Genderlinguistik in das Gebiet der tschechischen historischen Linguistik ein, was dazu beiträgt, dass Themen erschlossen werden, die bisher vernachlässigt wurden. Es ist zu begrüßen, dass es sich um ein Buch eines jungen Linguisten handelt, der erst in die Sprachwissenschaft einsteigt und hoffentlich weiterhin neue Themen erforschen und neue Ansätze der zeitgenössischen Linguistik auf die Erforschung der Entwicklung des Tschechischen anwenden wird.

 

 

Aleksej Tikhonov: Sprachen der Exilgemeinde in Rixdorf (Berlin). Autorenidentifikation und linguistische Merkmale anhand von tschechischen Manuskripten aus dem 18./19. Jahrhundert. Heidelberg: Universitätsverlag Winter Heidelberg, 2022, 334 S.


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