Es schreibt: Erkan Osmanović

(18. 10. 2023)

Mit dem Jahr 1911 lässt Alžběta Peštová die Moderne enden – zumindest die Mährische Moderne. Es sind Großstädte wie London, Wien, Paris oder Berlin, die den meisten Menschen einfallen, wenn sie an die Literatur der Jahrhundertwende oder Moderne denken. Moderne also nur in diesen Großstädten? Nein.

 

Für die Olmützer Literaturwissenschaftlerin ist die deutschsprachige Moderne keineswegs allein mit Wien, Berlin und München verbunden, sondern muss neben Prag auch die Region Mähren bzw. das mährische Brünn einbeziehen. Warum? Weil sich auch in Brünn im Zeitraum zwischen 1880 und 1910 eine lose Gruppe von Autoren identifizieren lässt, die Schreibweisen und Themen aufgreifen, die wir heute mit dem Etikett „Moderne“ versehen würden und die Peštová mit ihrer Monographie Mährische Moderne – 2022 im Peter Lang Verlag erschienen – untersucht. Der Namensgeber für eine literarische mährische Moderne ist zugleich auch selbst Bestandteil ebenjener: Eugen Schick (1877–1909).

 

Der Lyriker, Übersetzer und Schriftsteller Schick präsentierte im Jahr 1906 mit seiner Broschüre Mährische Moderne, einem Sonderabdruck der Zeitschrift des deutschen Vereins für die Geschichte Mährens und Schlesiens, Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Jakob Julius David (1859–1906), Karl Wilhelm Fritsch (1874–1938), Helene Hirsch (1863–1937), Philipp Langmann (1862–1931), Hans Müller (1882–1950), Richard Schaukal (1872–1942) und Karl Hans Strobl (1877–1946). Diese Broschüre nutzt Peštová als Ausgangspunkt ihrer Untersuchung, um anhand von exemplarischen Textanalysen auszuloten, „ob und inwieweit die literarischen Texte der von Schick genannten mährischen Schriftsteller an den formalen und inhaltlichen Tendenzen der modernen Literatur partizipieren“ (S. 13) – und aus literaturhistorischer Perspektive von einer mährischen Moderne gesprochen werden könne.

 

Um sich diesem Phänomen zu nähern, skizziert die Literaturwissenschaftlerin einerseits die historischen und kulturellen Besonderheiten Mährens bzw. Brünns um die Jahrhundertwende (Kap. 1.2.). Danach arbeitet sie den Begriff der literarischen Moderne heraus und blickt kritisch auf die Abgrenzungsversuche der älteren Germanistik bezüglich Naturalismus und nachfolgender Tendenzen und Programmatiken (Kap. 1.3.). So attestiert Peštová Literaturgeschichten, die eine scharfe Trennlinie zwischen Naturalismus und „allem danach“ postulieren, ein fehlendes Verständnis für Bahrs programmatische Schrift Die Überwindung des Naturalismus. Peštová beruft sich auf Jörg Krappmanns Gedankengänge aus Allerhand Übergänge (2013), aber auch auf literaturgeschichtliche Arbeiten wie etwa Ingo Stöckmanns Der Wille zum Willen. Der Naturalismus und die Gründung der literarischen Moderne 18801900 (2009) oder Lothar L. Schneiders Realistische Literaturpolitik und naturalistische Kritik. Über die Situierung der Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die Vorgeschichte der Moderne (2005), die ebenfalls den Naturalismus als Vorgeschichte bzw. als logischen Bestandteil der literarischen Moderne begreifen. Dieses neue Verständnis des Naturalismus ist ein wichtiger Punkt für die Argumentation der Monografie, da Peštová den offensichtlicheren Einsatz naturalistischer Schreibweisen als ein Spezifikum der Mährischen Moderne bzw. des dortigen Literaturbetriebs ansieht.

 

Besonders im Kapitel Brünner literarische Landschaft um die Jahrhundertwende (Kap. 1.4.) beschäftigt sich Peštová mit dem mährischen Literaturbetrieb. Auf die Bedeutung des Brünner Umfelds für die Literatur der (Wiener) Moderne verweise, bereits die Gründung der Zeitschrift Moderne Dichtung im Jahr 1890 durch Eduard Michael Kafka und Hermann Bahr – ein Gegenprogramm zur Zeitschrift Gesellschaft der Münchner Naturalisten. Weiters beschreibt Peštová die Zeitungs- und Zeitschriftenlandschaft Brünns – etwa die Brünner Sonntags-Zeitung der Brünner Sozialpolitischen Vereinigung oder das Literarische Beiblatt des Mährisch-Schlesischen Correspondents. Für die Literaturwissenschaftlerin kristallisiert sich eine Gruppe an Autoren heraus, die öffentlich als mährischen Autoren wahrgenommen wurden: Gustav Donath, Richard Freund, Fritz Grünbaum, Helene Hirsch, Hans Müller, Franz Schamann, Eugen Schick und Karl Hans Strobl. Sie stimmt auch mit Vojen Drlík (Unbekannte Texte von Robert Musil, 2005) überein, dass Schick mit seinen diversen Vortragstätigkeiten und der Herausgabe der Broschüre Mährische Moderne eine bedeutende Rolle für die Konstituierung eines ästhetischen bzw. personellen Programms einer mährischen Modernebewegung zukam.

 

Für Schicks Zusammenstellung sieht Peštová vier bestimmende Faktoren: (1) Alle präsentierten Autoren seien im kulturellen Leben Brünns aktiv gewesen. (2) Die literarischen Texte der Autoren bezögen sich auf Brünn bzw. die mährische Region – mit Ausnahme von Hans Müller und Richard Schaukal, die als städtischen Handlungsort Wien gewählt haben. (3) Die präsentierten Autoren seien bereits durch rege Publikationen öffentlich in Erscheinung getreten (4). Die Texte der Autoren lassen sich ästhetisch bzw. qualitativ der Moderne zuordnen. Außerdem, so Peštová, zeige Schicks Anthologie, dass der Beginn der mährischen Moderne mit den 1880/90er-Jahren anzusetzen sei. Das Ausklingen dieser Moderne grenzt Peštová mit den Ableben Davids (1906), Schamanns (1909) und Schicks (1909) und der Hinwendung Müllers zum Boulevard-Theater (1911), sowie Langmanns und Hirschs abklingender Publikationstätigkeit ein. Daneben zeigen sich nach 1910/11 mit Strobls antitschechischen Tendenzen, Fritschs Kosmopolitismus und Schaukals symbolistisch-dekadenter Literatur auseinanderdivergierende Standpunkte, die Peštová zu dem Schluss kommen lassen, dass es eine zeitlich gekennzeichnete Endphase der mährischen Moderne gegeben habe:„Das Ende der Mährischen Moderne um 1910-1911 ist demnach durchaus ersichtlich und verdeutlicht, dass sich die hier untersuchte Zeitspanne nicht aus Gründen einer gewollten Ausklammerung des nachfolgenden Expressionismus, sondern aus (werk-)biographischen Gründen ergibt“ (S. 48).

 

Der Titel der Arbeit verweist auf ein regionales Phänomen. Der mährische Literaturbetrieb wird mitsamt seiner ökonomischen und gesellschaftlichen Situation im Einführungskapitel (Kap. 1) erläutert und skizziert. Doch anstatt in den folgenden Kapiteln näher auf das Zusammenspiel zwischen dem Literaturbetrieb und der autorenspezifischen Textproduktion einzugehen, geht Peštová einen anderen Weg. Sie will die Existenz einer mährischen Moderne anhand dreier sehr differenziert ausgerichteter Hauptkapitel herausarbeiten: Die literarische Thematisierung veränderter, „[m]ährischer Familienkonzepte“ (S. 79) (Kap. 2), die den Familiendiskurs von Wilhelm Heinrich Riehl und Johann Jakob Bachofen verarbeiten; der Einsatz spezifischer „Schreibweisen der mährischen Moderne“ (S. 144), „Adaptionen der Wiener Moderne“ (S. 184), die sich durch die kombinierte Aufnahme formal-literarischer Innovationen des Holz’schen Naturalismus und impressionistischer Stilelemente auszeichnen (Kap. 3) und schließlich der Analyse von „Brünner-Romane[n]“, „welche sich mit dem Topos der Großstadt befassen und zugleich auf das Spannungsfeld der deutsch-tschechischen Beziehungen eingehen“ (S. 209) (Kap. 4). Die Konzeption des Bandes ist problematisch, da nach dem in den einführenden Kapiteln räumlich spezifizierten Moderne-Begriff ein diskursanalytisches (Familienkonzepte), ein narratologisches (Schreibweisen der mährischen Moderne) und schließlich ein gattungstypologisches Kapitel (Brünner Romane) folgen.

 

Der Arbeit gehe es – wie Peštová mehrmals betont – um das Aufzeigen bestimmter Überschneidungen der losen Autorengruppe, die sich selbst niemals als solche proklamiert hatte. Gleichzeitig verweist die Autorin an mehreren Stellen der Arbeit bzgl. verschiedener vermeintlicher Gemeinsamkeiten der untersuchten Texte bzw. Autorinnen und Autoren – die ja der Arbeit als Grundlage dienen, um gar eine Gruppenzugehörigkeit postulieren zu können – auf zahlreiche Ausnahmen und Heterogenitäten hin. Dies lässt die Frage aufkommen, inwiefern diese tatsächlich von außen als Strömung oder Gruppe zu identifizieren sind. Einen solchen Einwand kontert Peštová: „Trotzdem lässt sich vermuten, dass die Umstände der interkulturell grundierten mährischen Region, ihre Transitlage zwischen den großen geistigen Zentren sowie die massive Industrialisierung und die damit verbundenen sozialen Transformationen zu den prägenden Aspekten des literarischen Schaffens gehörten“ (S. 48).

 

Ist es also Peštová gelungen eine „Mährische Moderne“ nachzuweisen? Ja und nein. Die Fallbeispiele des Buches machen deutlich: die spezifisch „mährisch-moderne“ Ästhetik als solche gibt es nicht, aber ein Netzwerk der Mährischen Moderne. Somit trägt die Untersuchung dazu bei, der proklamierten „Mährischen Moderne“ eine fassbare Struktur zu geben. Außerdem gelingt es dem Buch neben, Prag auch Brünn als direkten und indirekten Produktionsraum moderner deutschsprachiger Literatur auf den Karten der Literaturwissenschaften auftauchen zu lassen.

 

 

Alžběta Peštová: Mährische Moderne. Ein Beitrag zur regionalen Literaturgeschichte der Böhmischen Länder. Berlin, Bern u. a.: Peter Lang, 2022, 306 S.


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