Es schreibt: Anja Bunzel

(20. 9. 2023)

August Wilhelm Ambros (1816–1876) ist in der Musikwissenschaft – wenn überhaupt – vor allen Dingen als Musikkritiker und -ästhetiker bekannt, der sich als Zeitgenosse von Eduard Hanslick (1825–1904) und Robert Zimmermann (1824–1898) im Prager Davidsbund engagierte und mit seinen journalistisch-publizistischen Texten in den 1840er Jahren regelmäßig in der Zeitschrift Bohemia in Erscheinung trat. Obwohl Ambros‘ vielseitige Tätigkeiten weit über Musikkritik und die eine oder andere musikästhetische Abhandlung hinausgehen, hat sein Schaffen in der Wissenschaft erst in jüngster Zeit weiterreichendes Interesse geweckt. Dies ist neben Stefan Wolkenfeld (August Wilhelm Ambros’ „Geschichte der Musik“. Die Professionalisierung der historischen Musikwissenschaft im 19. Jahrhundert, Hamburg, Kovač, 2012) nicht zuletzt auch der Arbeit von Markéta Štědronská zu verdanken. Nach ihrer Monografie August Wilhelm Ambros im musikästhetischen Diskurs um 1850 (München, Allitera, 2015) folgte eine umfangreiche von ihr herausgegebene historisch-kritische Ausgabe von Ambros‘ Musikaufsätzen und -Rezensionen 1872–1876 (Wien, Hollitzer, 2017–2019), die kürzlich mit dem zur Rezension vorliegenden Band, August Wilhelm Ambros. Wege seiner Musikkritik, -ästhetik und -historiographie (Wien, Hollitzer, 2021) komplementiert wurde.

 

Das Buch beinhaltet zwölf wissenschaftliche Aufsätze, die sich mit Ambros‘ Schaffen und Wirken anhand konkreter Beispieltexte und/oder Räume auseinandersetzen. Die einzelnen Beiträge wurden erstmals 2016 in Wien auf einer internationalen und interdisziplinären Tagung präsentiert. Sie sind vielleicht auch deshalb besonders kurzweilig, gut nachvollziehbar und verständlich strukturiert. Neben verschiedenen musikwissenschaftlichen Herangehensweisen – Ambros als Ästhetiker (Alexander Wilfing, Andrea Horz), Ambros als Musikhistoriker und -kritiker (Stefan Wolkenfeld, Sonja Tröster, Jan Bilwachs, Inga Behrendt, Barbara Boisits), Ambros als Komponist und Musiker (Vlasta Reittererová) – sind in der Publikation auch kunst- und medienhistorische, kultur- und literaturwissenschaftliche Ansätze vertreten (in dieser Reihenfolge: Taťána Petrasová, Anna Ananieva und Rolf Haaser, Markéta Štědronská, Clemens Höslinger). Diese Vielfalt an Perspektiven und Methoden macht das Buch für einen größeren Kreis von Lesern und Leserinnen attraktiv. An mehreren Stellen übertrifft das Gesamtkonzept des Bandes jedoch erfreulicherweise die Erwartungen an einen typischerweise etwas eklektisch erscheinenden Tagungsband.

 

Dafür verantwortlich sind viele konzeptionelle Überschneidungen zwischen den einzelnen Beiträgen, die aber nicht als störende Wiederholungen, sondern eher als rote Fäden wahrgenommen werden, die das Buch trotz unterschiedlicher Blickwinkel und Schreibstile zu einem organischen Ganzen werden lassen. Dazu gehört zum Beispiel eine methodische Feinfühligkeit für geographische Weiträumigkeit und somit auch sprachlich-kulturelle Komplexität in Ambros‘ Biographie und Rezeption. Ambros‘ Hauptwirkungszentren Prag und Wien sowie sein böhmisch(-tschechisches) und österreichisches Umfeld stehen hier nicht in Konkurrenz, sondern eher in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander. Außerdem finden auch andere Orte wie Pesth/Budapest oder Pressburg/Bratislava Platz. Ein weiteres als positiv zu bewertendes Merkmal aller Beiträge ist der klare Fokus auf Primärquellen (sowohl in Hinblick auf Ambros‘ Schriften, Briefe, Sammlung und Kompositionen als auch in Bezug auf Rezensionen seiner Werke oder Reaktionen auf seine Schriften). Es wird dabei an ausgiebigen, meist vollständig wiedergegebenen Zitaten und teilweise auch umfangreicheren Anhängen nicht gespart, was das Buch nicht nur zu einer abwechslungsreichen Lektüre, sondern auch zu einem grundlegenden Nachschlagewerk macht. Etwas schade ist, dass sich die meisten Autorinnen und Autoren – höchstwahrscheinlich aufgrund der Quellenlage – eher auf Ambros‘ Wirken in der Öffentlichkeit konzentrieren, wobei einige Aufsätze auch Einblicke in private Quellen und biographische Besonderheiten rund um Ambros‘ Person bieten (zum Beispiel Ambros‘ Reisen und Briefe bei Wolkenfeld, Höslinger und Tröster).

 

Die für ein breit angelegtes Publikum womöglich interessanteste Eigenschaft des Bandes ist der Versuch, Ambros und sein Schaffen hinsichtlich seines eigenen Umfeldes zu kontextualisieren. Dies gelingt zum Beispiel, indem fast alle Beiträge auf Einflüsse von Ambros‘ Zeitgenossen (und in geringerem Maße auch Zeitgenossinnen) aus unterschiedlichsten Lebens- und Schaffensphasen sowie Verwandtschafts- und Bekanntschaftsverhältnissen eingehen. Hier sind zum Beispiel Hector Berlioz, Sigmund Goldschmidt, Franz Grillparzer, Eduard Hanslick, Raphael Georg Kiesewetter, Ludevít Procházka, Robert Schumann, Anton Springer, Richard Wagner, Barnabas Weiss und Robert Zimmermann zu nennen. Des Weiteren gewinnt jeder Leser und jede Leserin bei aufmerksamer Durchsicht des Buches einen detaillierten Überblick über den öffentlichen Diskurs der Zeit, da nicht nur wichtige Kompositionen und musikhistorische oder -ästhetische Schriften, sondern neben bekannten Zeitungen und Zeitschriften (zum Beispiel Bohemia, Lumír oder die Wiener Zeitung) auch kleinere, aber zum damaligen Zeitpunkt durchaus einflussreiche Medien Erwähnung finden (zum Beispiel Der Schmetterling oder Der Spiegel, beide bei Ananieva/Haaser). Somit bietet das Buch neue Informationen über Ambros und auch allgemein zum Kulturleben in Ambros‘ Wirkungsräumen und -sphären (außer medienhistorischen Einordnungen zum Beispiel auch Untersuchungen zur Kirchengeschichte in Prag bei Bilwachs, zur Wagner-Rezeption bei Horz und Wilfing, zu Gattungsgeschichte und Programmmusik bei Reittererová und zu Parallelen zwischen Kunst- und Musikgeschichte bei Štědronská und Petrasová).

 

Schlussendlich ermöglicht der Band, auf der Metaebene auch eine Auseinandersetzung mit aktuellen Fragestellungen und Richtungen in der Musikwissenschaft und den Geisteswissenschaften im Allgemeinen. Die wissenschaftsgeschichtlichen Grundlagen dazu schaffen die Kapitel von Boisits (zu Universitätsgeschichte in Wien, Ambros und Guido Adler) und Behrendt (zu Musikgeschichtsschreibung bei Ambros und Hugo Riemann). Weitere Anregungen in Hinblick auf noch zu schließende Lücken finden sich im sehr knapp gehaltenen Vorwort der Herausgeberin sowie teilweise in den individuellen Aufsätzen. Einige dieser Forschungsdesiderate und Herausforderungen werden derzeit auch in anderen internationalen musik- und geisteswissenschaftlichen Kontexten diskutiert – zum Beispiel der Wunsch nach einer noch engeren Zusammenarbeit zwischen verschiedenen regionalen Forschungszentren und/oder Archiven; nach mehr Interdisziplinarität, die von der Expertise aus den einzelnen vertretenen Fächern gleichwertig profitiert, ohne dabei oberflächlich oder verallgemeinernd zu sein; oder nach einem holistischen Blick auf Musikgeschichte als Kulturgeschichte. Zwar macht die vorliegende Publikation den Eindruck, als wäre sie ein weiterer Schritt hin zur Vervollkommnung der Ambrosforschung. Jedoch bleibt zu hoffen, dass dies nicht der letzte Schritt gewesen sein wird. Denn trotz des originellen und umfangreichen Beitrags, den das Buch zweifelsfrei zur Musik-, Kultur-, Literatur- und Kunsthistoriographie leistet, regen die darin aufgeworfenen Fragen zu weiteren Forschungsprojekten an. So wären zum Beispiel weitere Studien in Hinblick auf Ambros‘ Relevanz für die Kunstgeschichte oder sein Wirken im privaten und halb-privaten Raum denkbar – etwa im Salon der Elise von Schlik in Prag, deren Stammbuch auch ein Klavierstück von Ambros beinhaltet (das Stammbuch befindet sich in der Juilliard Manuscript Collection und kann online abgerufen werden).

 

Das Buch zeichnet sich durch viele interessante Illustrationen, ein äußerst sorgfältiges Lektorat, eine ansprechende Gestaltung und ein überaus hilfreiches Personen- und Werkregister aus. Es ist allen Personen wärmstens zu empfehlen, die sich für August Wilhelm Ambros, für das Wiener und/oder Prager Musik- und Kulturleben des 19. Jahrhunderts sowie für (Musik)geschichtsschreibung im Allgemeinen interessieren. Für den Preis von 50 Euro ist es zwar nicht unbedingt als Gelegenheitsanschaffung erschwinglich; es ist jedoch in mehreren Prager (und auch anderen) Bibliotheken verfügbar.

 

 

Markéta Štědronská (Hg.): August Wilhelm Ambros. Wege seiner Musikkritik, -ästhetik und -historiographie. Wien: Hollitzer, 2021, 298 S.


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