Es schreibt: Jan Budňák

(E*forum, 25. 8. 2023)

Prager Produktionsraum

 

Haimo Stiemers Monographie zur Prager deutschen Literatur ist in einigen Punkten traditionell und in mancher Hinsicht wiederum sehr innovativ. Einerseits hält sich diese Publikation an der klassischen, auf die Konferenz in Liblice zurückgehende Auffassung der Prager deutschen Literatur fest, v. a. wenn es um die räumliche (Prag) sowie auch weitgehend um die zeitliche Perspektive geht (Literatur von der frühen Neuzeit bis zum Ende der ersten Tschechoslowakischen Republik). Auch öffnet Stiemer die deutschsprachige Prager Literatur nicht gegenüber der deutschsprachigen Literatur außerhalb Prags bzw. gegenüber der tschechischen Literatur. Man kann daher sagen, dass die vorliegende Monographie in gewisser Weise die Trennlinien nachbildet, um deren Dekonstruktion sich die aktuelle Germanistik in Tschechien bemüht (am prominentesten ist diese Tendenz durch das Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder, 2022, vertreten). Stiemers literaratursoziologische Herangehensweise an die Prager deutsche Literatur – so theoretisch reflektiert und durchdacht sie auch sein mag – drängt die einheitlichen Kriterien für die deutschen Literaturen der böhmischen Länder, die das erwähnte Handbuch prägt (nämlich Interkulturalität und deren Erscheinungsformen in einem, in sich vielfältigen Raum der böhmischen Länder) wieder mal an den Rand.

 

Andererseits ist Stiemers Buch das genaue Gegenteil von Werken über die (nicht nur) Prager deutsche Literatur, die ihre Ausgangspunkte nicht reflektieren. Sehr entschieden und konsequent und zugleich mit großer Feinheit arbeitet Stiemer mit Bourdieus Theorie des literarischen Feldes (dt. als Die Regeln der Kunst, 1999) als seinem methodologischen Apparat. Die Impulse dieses Ansatzes erschöpfen sich nicht durch die „Positionierung“ einzelner Autoren oder Strömungen in dem bekannten Diagramm des literarischen Feldes zwischen künstlerisch „autonomer“ Avantgarde und „heteronomer“ Konsumkultur. Im Einklang mit Bourdieus Denken über Literatur verfolgt auch Stiemer „das originär literarische Bedingungsgefüge der pragerdeutschen Produktion“ und v. a. dessen „[vor]herrschende[] Regularitäten, Machtverhältnisse und poetologische[] Wertmaßstäbe sowie die Strategien, mit denen sich die Autoren im literarischen Feld positionieren“ (S. 9). So begreift Stiemer (genauso wie Bourdieu) das literarische Feld als Teil eines Machtfeldes und die Autoren und literarischen Gruppierungen als Akteure, die sich mit jedem ihrer Texte (einschließlich der Art und Weise, wie sie geschrieben wurden), mit jeder Beteiligung an dem kollektiven Projekt, mit jeder Entscheidung für eine bestimmte Publikationsplattform selbst auf der Karte des literarischen Feldes eintragen. Diese Strategien der impliziten und expliziten „Selbstpositionierung“ von Akteuren im literarischen Feld – in Konkurrenz zu anderen – sind der Hauptfaktor, dem Stiemer sich im Zusammenhang mit der Prager deutschen Literatur widmet.

 

Dies widerspiegelt sich auch maßgeblich in der Auswahl des verwendeten Materials. Den Korpus von Werken, auf die Stiemer hinweist, dominieren zwei Textgruppen, es handelt sich erstens um die literarische Publizistik, die in den beiden größten Prager deutschen Tageszeitungen des behandelten Zeitraums (Prager Tagblatt und Bohemia, ab 1914 Deutsche Zeitung Bohemia) veröffentlicht wurde, und andererseits um die kollektiven Publikationsforen von Prager Autoren einzelner Generationen (Zeitschriften Frühlingsblätter, Wir, Herder-Blätter mit Bezug zu einzelnen Generationen von Prager Autoren). Stiemer arbeitet übrigens dezidiert mit dem heuristischen Generationskonzept und steht auch in dieser Hinsicht Bourdieus Konkretisierung des literarischen Feldes nahe. Die Definition der Generationen der Prager deutschen Literatur entnimmt er jedoch einer klassischen germanistischen Quelle (Ingeborg Fiala-Fürst: Der Beitrag der Prager deutschen Literatur zum deutschen literarischen Expressionismus, 1996) und unterscheidet zwischen der Concordia-Generation (Adler, Salus), der Frühlingsgeneration bzw. Jung Prag (Leppin) und der Generation der Herder-Blätter um Brod, zu der auch Werfel gezählt wird. Auch aus diesem Grund hinkt die Verwendung des Generationskonzepts in den letzten beiden Kapiteln mit Fallbeispielen, die der Prager deutschen Literatur „in der Tschechoslowakei“ (Kap. 7) zur „Zeit der literarischen Immigration 1933–1938“ (Kap. 8) gewidmet sind – hier wurde das Konzept nicht angewendet, oder es ist unanwendbar, da keine kollektiven Plattformen und Programme dieser Autoren existierten.

 

Im Gegensatz zu Bourdieus Panoramabeschreibung des französischen Literaturfeldes am Ende des 19. Jahrhunderts konzentriert sich Stiemer auf einen enger abgesteckten „Raum der Prager Produktion“, den er als einen „sozialen Mikrokosmos der literarischen Produzenten und Institutionen in Prag“ versteht (S. 9). Es geht also eigentlich nicht um die Soziologie der Literatur (einschließlich der literarischen Produktion) als Ganzes, sondern vielmehr um die Art und Weise, wie lokale (kollektive) Akteure in das literarische Leben des deutschen Prags eintreten. Allerdings wird dieser Fokus auch ganz im Sinne der Theorie des literarischen Feldes beschrieben, wenn Stiemer versucht, „die über Positionierungen ausgetragenen Kämpfe um die Legitimation bzw. Anerkennung im Feld zu rekonstruieren“ (S. 12). Im Vergleich mit Den Regeln der Kunst geht hier die umfassende Sicht auf Literatur als gesellschaftliche Praxis unter Einbeziehung populärer Gattungen oder des Theaterbetriebs jedoch verloren. Der Begriff „heteronom“, d. h. die literaturexternen Ziele verfolgend, bezieht sich bei Bourdieu genau auf diese konsumliterarische Produktion. Stiemer redefiniert den Begriff angesichts der deutschen Literatur Prags: „heteronom“ bedeutet für ihn eine von „Politik“ bestimmte Literatur, „wobei die Politik vordringlich mit der nationalen Frage übereinkam“ (S. 205). Nur so lässt sich Stiemers Schlussfolgerung erklären, dass „der Prager Produktionsraum […] durchgängig heteronom strukturiert war“ (S. 204). Diese adaptierte Bourdieu’sche Schlussfolgerung überschneidet sich allerdings größtenteils mit dem tief traditionellen nationalphilologischen (im Prager Kontext nennen wir es „Sauerschen“) Prisma der Literaturgeschichtsschreibung und ferner mit der fragwürdigen Grundprämisse der meisten Darlegungen zur Prager (deutschen, jüdischen, tschechischen) Literatur, die sie in der Tradition der Kafka-Studie von Deleuze und Guattari (1975) als „kleine Literatur“ (littérature mineure, kleine Literatur) auffassen – mit der Annahme der allgegenwärtigen Politisierung von „kleinen Literaturen“.

 

Gerade diese spezifische Verzweigung des Konzepts der „kleinen Literatur“ mit Bourdieus Beschreibung des „Raums der Prager Produktion“ stellt die Pointe von Stiemers Monographie dar. Zwar schlägt er vor, die gesamte Prager deutsche Literatur als eine „kleine Literatur“ aufzufassen (S. 192) – er verwirft und unterwandert jedoch gleichzeitig die beiden Hauptansätze, die dies in der Vergangenheit gemacht hatten: Sowohl Deleuze und Guattari, als auch die Auffassung der Prager deutschen Literatur und Kafka von Pascale Casanova (Kafka. Angry Poet, 2015), die das Judentum Kafkas und der Mitglieder des Brod-Kreises essentialistisch auffasst. Stiemer musste dem Begriff der „kleinen Literatur“ also einen neuen Inhalt geben, da er ihn zur Beschreibung der Spezifika der Prager deutschen Literatur, die seine Analysen ergeben haben, benutzen wollte. Laut Stiemer ist die Prager deutsche „kleine Literatur“ ein sich allmählich herausbildendes „Teilfeld“ mit der „Autonomie zweiten Grades“ (Michael Einfalt) gegenüber der gesamten deutschsprachigen Literatur. Es löste sich im verfolgten Zeitraum teilweise aus dem Ganzen der deutschsprachigen Literatur, es erreichte jedoch nie die volle institutionelle Sättigung (mit Gruppen, Verlagen, Zeitschriften, Preisen, Narrativen der eigenen Geschichte usw.), es blieb also ein „Protofeld“ (S. 207), das – mit Bourdieus Worten – von externen Institutionen und externen Konsekrationen abhängig war. Stiemers literaturgeschichtliche, chronologisch geordnete Fallstudien verschmelzen in diesem Rahmen zu einer Geschichte der Literatur, die mit der Leppin-Generation eine gewisse – eher proklamierte als künstlerisch umgesetzte – innere Spannung und eine starke symbolische Darstellung des eigenen Raumes („magisches Prag“) und mit der Brod-Generation dann eine echte innere Komplexität und Anerkennung von außen erreichte, mit der Zwischenkriegsliteratur im tschechoslowakischen politischen Feld kam es dann zur „Inversion“ und „Suspendierung“ (S. 200) dieser Komplexität.

 

Letztlich handelt es sich – trotz der radikal neuen Methodologie, der konsequenten Theorie und des innovativ definierten Textkorpus, das als „Big Data“ verarbeitet wurde – um eine sehr traditionelle Geschichte der Prager deutschen Literatur. Die Publikation beweist jedoch auch die Produktivität von Bourdieus Ansätzen in der tschechischen Germanistik: Sie bietet eine Fülle von Informationen über die institutionelle Form des literarischen Lebens in Prag, über Vereine, Anthologien, Zeitschriften; die Studie ist eine spannende Geschichte der gegenseitigen Abgrenzung von Mitgliedern einzelner Generationen; sie analysiert viele bisher unerschlossene literarische Feuilletons Prager Provenienz, bietet eine Erklärung für diskontinuierliche Phänomene in der Prager deutschen Literatur in den ersten Jahren der Tschechoslowakei usw. Das Buch ist aber v. a. ein Anlass dazu, Literatur – unter anderem – als eine Gesamtheit von literarischen „Feldeffekten“ wahrzunehmen – und ggf. die gängigen literaturhistorischen Narrative mit Hilfe ihrer Analyse zu korrigieren.

 

Übersetzung: Lukáš Motyčka

 

 

Haimo Stiemer: Das Habitat der mondblauen Maus. Eine feldtheoretische Untersuchung der pragerdeutschen Literatur (1890–1938). Würzburg: Königshausen&Neumann, 2020, 222 S.


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