Es schreibt: Steffen Höhne

(2. 8. 2023)

Ziel der Arbeit zur habsburgischen Aufklärung ist der Versuch, die Epoche zwischen 1750 und 1850 in ihrer Mehrschichtigkeit und Vielgestaltigkeit, so der Verfasser, darzustellen und einen neuen Blick auch auf die geistigen Strömungen und die Leistungen der Aufklärung insgesamt zu werfen. Hierzu werden in den einzelnen Kapiteln die Frage des Nationalismus, die Rolle der katholischen Aufklärung, das Verhältnis von Thron und Altar, die Wissenskulturen, die wirtschaftliche Integration, die Verrechtlichung der Monarchie und schließlich das Erbe der Aufklärung in sehr fundierter Weise untersucht.

 

Treffend rekonstruiert wird zunächst die Verschiebung der vaterländischen Loyalität von Regnum zur Patria eben durch die Aufklärung im 18. Jahrhundert. Neben ältere Referenzgrößen wie Vaterlandsliebe, Dynastie und Katholizismus traten territoriale und sprachpatriotische Bezugspunkte (S. 23f.), was der Verfasser exemplarisch an zwei zeitlich auseinanderliegenden Texten von Joseph von Sonnenfels 1771 (S. 25) und von Johann Rudolf Chotek 1839 (S. 28) herauszuarbeiten weiß. Aus den sich herausbildendenden Landespatriotismen im Kontext eines mehrsprachigen Vaterlandsentwickelten sich rivalisierende Vergangenheiten seiner Nationen (S. 30f.). Diese Verschiebung wird bei Joseph von Hormayr deutlich(S. 40), in dessen Publizistik die Opposition Sprachnationalismus vs. Vaterlandsliebe als Gegenentwurf zum französischen, aber auch zum josephinischen Einheitsstaat und die Nation als Abstammungsgemeinschaft mit gemeinsamer Kultur und Sprache verstanden werden (S. 50f.). Sprache wird zum neuen Distinktionskriterium. Zwar findet man auch Konzepte von Weltbürgertum und liberalem Kosmopolitismus, wie Fillafer am Beispiel Eötvös (S. 52) zeigt. Ein Dilemma der intellektuellen und der Verwaltungseliten bestand allerdings zwischen antizentralistischem Staatspatriotismus bei Abgrenzung von neuen ethnischen Identifikationskonzepten, dem nach Péter Hanák so benannten ‚intra muros-Effekt‘ (S. 56). Mit den ‚Wiedergeburten‘ bildeten sich letztlich selbständige Nationalgedächtnisse heraus (S. 521). Die Revolution 1848 und die manifest werdende Krise der liberalen Völkerfreundschaft kann daher zu Recht als Endpunkt gesehen werden, mit dem eine Entwicklung vom ‚stillen Bund‘ der Völker zu rivalisierenden Nationalcharakteren den Abschluss fand. Fillafer akzentuiert fünf Aspekte dieses Umbruchs: vom Weltbürgertopos verlaufe eine Umgestaltung zum exklusiven Vorrang der eigenen Nation (S. 60). Der Zusammenbruch des Landespatriotismus und die Duplizierung der normativen Vergangenheit des Landes werden als ein wichtiges Ergebnis dieses Prozesses verstanden (S. 61), der eben auch, dies wäre zu ergänzen, Kultur und Literatur maßgeblich beeinflusst. Anstelle des Fortschrittsmonopols des aufgeklärten Absolutismus tritt nunmehr eine protochronistische Argumentation (S. 61), die schon bestehende Desintegration von außen (Vormärz) verlagert sich in den Innenraum der Monarchie (S. 62). Und damit ist man – wenngleich verspätet – bei der sogenannten Zivilisierungsmission der Nation angelangt (S. 62), für die eine Metaphorik des Gegendrucks und der Nation als Retterin der Gesamtmonarchie eingesetzt wird:

 

„Aus den verbrüderten Völkern des Vormärz wurden während der Revolution wesensmäßig verschiedene Nachbarnationen, aus dem gemeinsamen Feind der Völker innere Feinde der Nation und aus dem vormals geteilten Weltbürgertum gleichartige, aber einander ausschließende weltideologische Sendungsideologeme.“ (S. 66)

 

Im zweiten Kapitel setzt sich Fillafer mit der katholischen Aufklärung auseinander. Ausgangspunkt sind der Josephinismus als ‚große Erzählung‘ der österreichischen Geschichte (S. 67, 120) und damit die ausgeblendeten, marginalisierten Traditionen und Positionen. Kategorien dieses Narrativs sind nach Fillafer die Unterordnung der Kirche unter den Staat, die religiöse Toleranz, die Gleichheit der Staatsbürger vor dem Gesetz, der moderne Beamtenstaat, die Vorherrschaft der Zentralgewalt, die Dominanz deutscher Sprache und Kultur (S. 67). Der Josephinismus fungiere als neue Wissensordnung, die die Tradition der katholischen Aufklärung dekanonisierte, der Josephinismus wurde als ‚Lichtblick‘ zwischen Barock und Restauration bzw. als „Prozess oligopolistischer Versäulung“ mit „Alleinvertretungsanspruch einer Aufklärung“ tradiert, die im „Reformwerk Josephs II. gipfeln“ sollte (S. 120). Fillafer rekonstruiert damit einen „Prozess der Selektion und Kanonisierung“(S. 121) von Wissen, bei dem die Traditionen der katholischen Aufklärung wirkungsmächtig überschrieben wurden.

 

Hieran knüpft das Kapitel zur Erfindung des Bündnisses von Thron und Altar an, bei dem es sich um eine „sentimental-symbiotische Erzählung“ (S. 500) handele. Konstatiert wird eine „Selbstprovinzialisierung, ja Selbstorientalisierung“ des restaurativen Katholizismus (S. 160), der das Fremdbild der Rückständigkeit, ein „kulturprotestantisches Klischee“, als „Autostereotyp“ übernahm (S. 161). Die religiöse Aufklärung fungierte als Schnittpunkt zweier Konfliktfelder innerhalb der Restauration: als erstes Konfliktfeld erkennt Fillafer das Verhältnis Aufklärung – Revolution, die religiöse Aufklärung zielte auf Gewissenserforschung und individuelle Moral (S. 194). Das zweite Konfliktfeld verband Aufklärung und Nation und die Wiedergeburt als genuin katholisches Anliegen.

 

„Die Festlegung Josephs II. auf die Rolle des antiklerikalen Berserkers, Verfolgers der Kirche und Apostels der Germanisierung setzte sich erst im späten Vormärz bei Freund und Feind gleichermaßen durch, zeitgleich mit dem nostalgisch verklärten Bild der großherzigen und gottergebenen Maria Theresia.“ (S. 195)

 

Im Fazit zeigt sich allerdings, dass die Gründerfiguren der Restauration, die eine Abkehr von der Aufklärung als Wegbereiter der Revolution postulierten, diese weder intellektuell noch praktisch einzulösen vermochten und letztlich die Revolution nicht verhindern konnten.

 

Mit seiner Analyse der Wissenskulturen des Vormärz kann Fillafer die Sonderwegs-Erzählung der österreichischen Philosophie relativieren, die in einer Abschottung des geistigen Lebens im Vormärz, einer Ablehnung des deutschen Idealismus (Kant und Hegel), einer fortlaufenden Tradierung der Leibniz-Wolff’schen Philosophie, die bruchlos über Bernard Bolzano und Franz Brentano bis zum Wiener Kreise verlaufen sein soll, bestanden habe (S. 197f.). Zwar gebe es eine gewisse „Abkoppelung geschichtsphilosophischer Strategien von der Überlieferungsdynamik aufklärerischer Denkfiguren und Methoden“, dabei wurden aber, wie Fillafer zeigt, die Varianten der Aufklärung selektiv angeeignet, die Leibniz-Wolff’sche Scholastik, deren Fortsetzung durch das bolzanistisch-herbartianische Denken, das Leitmotiv positiven Wissens, bei denen es sich letztlich um eine „Selbstentlastung“ handelte, d. h. eine Fortsetzung von Verfahren der Aufklärung bei gleichzeitiger politischer Bekämpfung (S. 252). Naturerkenntnis fungierte als „Bastion gegen die Revolution“, Naturforschung als „Bestätigung der objektiven Weltordnung und ihrer Gesetzmäßigkeiten“ (S. 501). Die Aneignung des Bolzano-Erbes durch die Herbartianer nach 1848 besaß somit eine doppelte Funktion: eine postrevolutionäre Abgrenzung und Selbstaufwertung, damit epistemische Grundlage für die Wissenschaftspraxis in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der „die menschliche Psyche zu einem Teil der Natur“ wurde und an „die Stelle der Zwangsläufigkeit der Naturgesetze“ Wahrscheinlichkeitsverteilungen traten (S. 503). Die Wissenschaft gewann teilweise Autonomie von politisch erwünschten Wahrheitsaussagen. „Aus den objektivistischen und wertabsolutistischen Prämissen der vormärzlichen Gelehrtenkultur erwuchs eine reflexiv-probabilistische Wissenschaftspraxis“ (S. 503).

 

Auswirkungen der Aufklärung zeigen sich auch in der Umgestaltung der Monarchie in einen Wirtschafts- und Rechtsraum:

 

„Die Redakteure des [Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs] ABGB gestalteten eine selbstständige Sphäre bürgerlicher Freiheit, Privatautonomie und allgemeiner Rechtsfähigkeit, die weder von Gott gewollt noch vom Fürsten gewährt, sondern aus sich selbst begründet war.“ (S. 508)

 

Und daraus lässt sich dann die Folgerung ableiten, nach der die „Emanzipation der Rechtswissenschaft von der Religion und vom Wohlfahrtsstaat, die Abkoppelung der Gesetzgebungskunst vom Gutdünken des Monarchen als Normermittler und die Befreiung der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ von der fürstlichen Lenkungskompetenz“ verlaufen sei (S. 508). Durch die Arbeit der Landeshistoriker allerdings zerfiel „der gesamtmonarchische Gesellschaftsvertrag in die Einzelverträge der Länder“, eine Alternative zu Zentralismus und Volkssouveränität, zur josephinischen Reform von oben und zur Französischen Revolution von außen“ (S. 509). Die „altständische Verfassung wurde so zur Keimzelle frühliberaler Programme der Partizipation“ (S. 509f.). Das Naturrecht transformierte sich „vom maria-theresianischen und josephinischen Instrument zur Entstaatlichung der Länder zu einem Vehikel für die Parlamentarisierung der Monarchie von unten“ (S. 509).

 

Das Kapitel Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr befasst sich mit den Selbst- und Feindbildern der Restauration. Für die Zeit nach 1800 konstatiert Fillafer ein Abflauen der gegenrevolutionären Polemik, während die Josephiner ihre Positionen in Zentralbehörden und Universitäten behielten (S. 467), denen allerdings in Form der Romantiker ein neuer Gegner erwuchs. Ästhetisch, habituell und politisch handelte es sich dabei um eine neue Binnendifferenzierung innerhalb der sich etablierenden Restauration. Im Vormärz, so das Selbstbild der Restauration, wurden zwei Feindbilder als wahrnehmungsprägende und -formatierende Imaginaires (S. 477) etabliert: die demokratischen Demagogen von außen, also die Jungdeutschen, die – dies wäre zu ergänzen – die Jungösterreicher inspirierten, die nationalen Romantiker von innen. Gemäß einer bürokratischen Sozialanalyse galten diese Feinde als Eindringlinge, Verwendung fand eine Semantik der Infiltration und Unterwanderung (Demagogen-Topik), wobei Fillafer zwei Funktionen identifiziert: es ging in diesen Polemiken um Ablenkung von strukturellen Defiziten und um Entlastung der eigenen Position (S. 479), die mit dem Topos „Österreich als belagerte Festung“ legitimiert werden konnte (S. 486). Der Eindringling als Störenfried und Sündenbock weist zudem auf eine Externalisierung, wobei der Topos des inneren Feindes auf eine Auflösung der Grenze zwischen Innenraum und Außenwelt deutet (S. 489) und damit wiederum die Fragilität der eigenen Position deutlich wird.

 

Abgeschlossen wird die Studie mit einem Überblick, einem Fazit (Was war Aufklärung?) und einem resümierenden Gesamtbild, einem umfangreichen multilingualen Quellen- und Literaturverzeichnis sowie einem angesichts der Materialfülle höchst hilfreichen Personen- und Sachregister.

 

Kommt man zu einem Fazit, so muss unzweideutig hervorgehoben werden, dass es sich bei der vorliegenden Arbeit, eine Konstanzer Dissertation, der man aber durchaus Habilitations-Äquivalenz zusprechen darf, um ein Werk handelt, dem man im Hinblick auf die habsburgische Geschichte der Aufklärung und deren Erbe bzw. Wirkung vielfältige innovative Anregungen entnehmen kann. Dies ist sicher auch ein Verdienst der Kompetenz des Verfassers, der die Hauptsprachen der Monarchie beherrscht und entsprechend häufig übersehene Quellen und Literatur in der Analyse berücksichtigen konnte. Der Studie kommt daher allemal der Charakter eines Standardwerkes zu, das bei einer weiteren Beschäftigung mit der Habsburgermonarchie nicht unberücksichtigt bleiben darf.

 

 

Franz Leander Fillafer: Aufklärung habsburgisch. Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750-1850. Göttingen: Wallstein, 2020, 627 Seiten und 20 Abbildungen.


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