Es schreibt: Matouš Jaluška

(E*forum, 12. 7. 2023)

Jiří Černýs Monographie Die Flugschriften der Frühreformation aus Nord- und Nordwestböhmen thematisiert die sekundären explosiven Nebenerscheinungen, die die mit dem Auftreten Martin Luthers verbundene Explosion gedruckter Texte in Mitteleuropa begleiteten. Der Autor konzentriert sich auf mehrseitige deutschsprachige Flugschriften, die der religiösen Agitation dieser Zeit dienten, er verfolgt den Prozess ihrer Entstehung sowie ihre Wirkung und die Interaktion zwischen den Texten, zwischen deren gebildeten Autoren und die Reaktionen des vielfältigen Publikums.

 

Im Mittelpunkt der Monographie stehen zehn erhaltene Flugschriften der Reformationszeit, die sich auf Joachimsthal, Bensen, Elbogen und Tetschen vor 1525 beziehen; dieser Textgruppe wurde als elfter ein deutscher Text beigefügt, mit dem der Administrator des Prager Erzbistums Jan Žák im Namen des Kapitels auf die 1523 in Elbogen erlassene reformatorische Kirchenordnung reagierte. Damit begeben wir uns unter die Verwaltung der Familien Schlick und Salhausen, zweier Reichsfamilien mit Besitztümern in den Grenzgebieten des böhmischen Königreichs, die sich sehr bald der Reformation anschlossen.

 

Beide Familien hatten direkte Verbindungen zum Zentrum der lutherischen Reformation. Christoph Schlick aus dem Falkenauer Zweig der Schlicks war 1520–1521 Rektor der Universität Wittenberg, Luther bezeichnete Sebastian Schlick aus dem Elbogener Zweig als den „christlichsten Laien“ (Christianissimus laicus) und stand mit ihm in direktem Briefwechsel, genauso wie mit Wolf aus Salhausen. Die Beziehungen zu Wittenberg wurden auch von Pfarrern und Laien aus den oben genannten vier Städten (vor allem aus Joachimsthal) gepflegt. Da die Existenz einer Art Grenze zwischen beiden Ländern und den damit verbundenen Sprachen und Diskursen in den untersuchten Flugschriften nicht vorhanden ist, fällt die Grenze paradoxerweise auf. Die Texte schweigen sich nämlich über die Hussitenkriege oder den tschechischen Utraquismus konsequent aus, was sowohl im Gegensatz zum deutschsprachigen Schaffen der Nikolsburger Wiedertäufer als auch zum Wirken Martin Luthers steht, der zu dieser Zeit mit der Affinität seines Projekts und seiner Vorstellungen von den Ideen von Johannes Hus zu einer Kirchenreform bereits offen arbeitete. Jiří Černý zeigt, dass sich die Flugschriften zwar mit böhmischen Angelegenheiten befassen, sie aber hauptsächlich dazu dienen, diese Themen dank der Presse auf die internationale Bühne zu bringen. Der Gegner Ernestus aus Schleinicz, der Propst von Prag und Meißen, wird so in den Texten hauptsächlich mit Meißen in Verbindung gebracht und Prag steht im Hintergrund, obwohl es gerade die Funktion des Propstes der Prager Metropolkapitel Schleinicz war, die ihn zur Konfrontation mit nordböhmischen Lutheranern zwang.

 

Im Vergleich zu den in den letzten Jahren veröffentlichten Beiträgen des Autors zum gleichen Thema bietet das Buch mehr Raum, die nordböhmische Flugschriftenproduktion in den Kontext frühneuzeitlicher Veränderungen zu stellen, hier spielt der Prozess der Konfessionalisierung und Selbstdarstellung von Schriftstellern eine wichtige Rolle. Die Dialoge und Polemiken in den Flugschriften verändern das Selbstverständnis ihrer Akteure. Dieser Prozess wird am Beispiel der bereits erwähnten Kirchenordnung oder des Vorschlags einer besseren Verwaltung der Kirchenangelegenheiten in der Stadt Elbogen am deutlichsten, die Ordnung, wie es soll mit dem Gottesdienst gehalten werden betitelt und 1523 separat an vier Orten im Reich herausgegeben wurde (zu den Leistungen von Jiří Černý gehört auch die klare Festlegung des Erscheinungsdatums). Die Elbogener Ordung orientiert sich eindeutig an Luthers Vorstellung einer friedlichen, kontinuierlich wirkenden Reformation, an der er nach seiner Rückkehr von der Wartburg festhielt, der Reformator selbst wird hier jedoch überhaupt nicht genannt. Es hat den Anschein, als hätten die Elbogener alles nur auf der Grundlage persönlicher Erfahrungen und der Lektüre der Heiligen Schrift herausgefunden. Die gedruckte Ordnung wirkt gerade dadurch als ein einflussreiches Beispiel, Elbogen wird hier in die Position einer vorbildlichen und attraktiven Gemeinde gestellt und ist als solches offenbar besonders gefährlich für die katholische Partei. Der Administrator der Prager Erzdiözese, Jan Žák, sieht sich daher veranlasst, auf die Flugschrift mit einer weiteren Broschüre, die im darauffolgenden Jahr in Dresden veröffentlicht wurde, missbilligend zu reagieren. Genauso wie die Elbogener ist Žák ein Minimalist bei seiner Argumentation und hält sich überwiegend an biblische Argumente, als wollte er sich dem Stil der Reformation annähern und das Bild der autochthonen Reformation in Elbogen am Leben erhalten. Auf Žák reagiert dann der Prediger Wolfgang Rappolt polemisch, und erst in seinen beiden gedruckten Antworten kommt es zu einer klaren Trennung der Parteien und der Identifizierung Elbogens mit Luthers Partei. Im Laufe der Kontroverse und offenbar auch durch die Aktivität der Prager Katholiken wurde die Gemeinschaft, die autochthon agieren wollte, zu einer konfessionellen Entität.

 

Einen starken Aspekt der Identitätsbildung beobachtet man auch im Falle der mit Tetschen und Bensen verbundenen Produktion. Černý versteht die Flugschriftenreihe aus der Mitte der 1520er Jahre als eine koordinierte Kampagne von Lutheranern zur Unterstützung des Predigers Dominik Beyer und gegen das Prager Konsistorium. Die Autoren betonen bewusst die Ähnlichkeiten zwischen der Verurteilung der Lehre Luthers aus Prag und den früheren Verurteilungen an europäischen Universitäten. Die persönliche Verbindung von Wolf von Salhausen zu Martin Luther ermöglichte es den örtlichen Herren, auf Wittenbergs Know-how in der Polemik zurückzugreifen. Die drei Brüder aus Salhausen werden so zu vorbildlichen lutherischen Adligen. Ihre Prediger Dominik Beyer und Michael Coelius sind keine Reformatoren auf Gemeindeebene mehr, sondern kämpfen aus lutherischen Positionen unter gehisster Flagge, sie haben nun eine „wittenbergische“ Identität.

 

In den Flugschriften, die mit den Salhausens in Verbindung stehen, findet sich innerhalb des untersuchten Materials eine enorm ausgefeilte Zitatarbeit. Laut Černý fungiert die Schrift Klag an die königliche Majestät von Ungarn und Böhmen des Tetschener Dominik Beyer somit als eine „tschechisch-sächsische Matrjoschka-Puppe“ aus Schriften und Berichten darüber, was der Prager Administrator Jan Žák gegen Beyer geschrieben hat oder was Beyer selbst (nach Aussage anderer) während seiner Amtszeit bei Predigten angeblich gesagt hatte. Der Text zeigt hier seine Macht, das gesprochene Wort zu fixieren und schnell zu verbreiten, und die Autoren der Flugschriften lernen, mit dieser Macht umzugehen.

 

Als einen etwas verlegenen Versuch auf diesem Gebiet kann man hingegen die überaus erfolgreiche und vielfach veröffentlichte Flugschrift Ein Mandat Jesu Christi von Nikolaus Herman aus Joachimsthal auffassen. Die erste Ausgabe dieses Textes war anonym, bzw. er wurde in der Form eines wahrhaft apokalyptischen „Briefes vom Himmel“ verfasst, in dem Christus die Christen auffordert, sich auf die Seite der Reformation zu stellen, solange es noch Zeit gibt. Dieser Text knüpfte somit an die Tradition spätmittelalterlicher Wunderbriefe an, was vermutlich zu seiner Popularität beitrug, gleichzeitig neigte man aber dazu, dieses anonyme Werk Luther selbst zuzuschreiben, wovon die Titelblätter mit einer Rose bzw. mit den Initialen D. m L („Doktor Martin Luther“) zeugen. Der Reformator verwahrte sich offenbar dagegen, und in folgenden Ausgaben des Textes wurde Hermans Name bereits angegeben. Der Joachimsthaler Kantor stellt sich in die Rolle eines Kompilators von Bibelstellen und bringt eine Botschaft, die Jesus an die Christen richten würde, das Spiel mit einer etablierten mittelalterlichen Literaturgattung wird zu einem standardisierten Traktat der Reformationszeit.

 

Zeitungsflugschriften bewegen sich an der Grenze zwischen den Bereichen der biblischen und mündlichen Verbreitung. Sie wurden in erster Linie nicht durch private Lektüre rezipiert (dies ist möglicherweise ein besserer Begriff als Černýs Bezeichnung „stille Lesung“), sondern sollten laut von der Kanzel oder am Tisch in verschiedenen Kreisen vorgelesen werden, die als Zuhörergemeinschaften gedacht wurden. Die monografische Form der vorliegenden Publikation ermöglicht es dem Autor, verschiedene Geschichten umfassender darzustellen und detaillierter zu beobachten, wie sich Gemeinschaften durch den Austausch von Worten verändern. Wir verfolgen zum Beispiel eine Reihe von Konflikten zwischen den Elbogener Bürgern und den Reichsfürsten von Schlick, den Pfandgläubigern des Gutes. Die Beziehung war die ganze zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts angespannt, es kam zu Konflikten und Rechtsstreitigkeiten (siehe oben). Doch auf dem Titelblatt der Kirchenordnung von Elbogen erscheinen plötzlich beide Parteien, die Adligen und die Stadtgemeinde, gemeinsam.

 

Dieses Labor für Kommunikationsmethoden, zu dem das nordwestliche böhmische Grenzgebiet in den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts wurde, hat in den letzten Jahren zahlreiche Forscher angezogen, neben Jiří Černý sind beispielsweise Jana Hubková und Jan Hrdina zu nennen. Die vorliegende Publikation über die Flugschriften bietet (wohl auch angesichts der gezielten Ansprache eines mit dem Thema nicht unbedingt vertrauten Publikums im Ausland) durch den Blick auf die Situation in vier Städten einen umfassenden Einstieg in die Thematik, die wohl noch einige Zeit nicht an Attraktivität verlieren wird. Und als solche wird sie gute Dienste leisten.

 

Übersetzung: Lukáš Motyčka

 

 

Jiří Černý: Die Flugschriften der Frühreformation aus Nord- und Nordwestböhmen. Ihr Wesen und ihr Bezug zu Wittenberg. Berlin: Peter Lang, 2021, 303 S.


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