Es schreibt: Marek Fapšo

(28. 6. 2023)

Bernard Bolzano zählt zu den Persönlichkeiten der Geschichte der böhmischen Länder, deren Bedeutung und Einfluss über die Grenzen des Landes hinausgingen. Seine Schriften wurden in viele Sprachen übersetzt, viele Autoren widmeten seinem Leben und Werk ihre wissenschaftlichen Studien. Unlängst ist im deutschsprachigen Böhlau-Verlag eine neue, umfangreiche Synthese von Bolzanos Leben und Werk erschienen. Bereits an dieser Stelle sei erwähnt, dass Kurt Strasser sich hierbei konzeptionell um eine relativ ambitionierte Interpretation einiger zentralen, mit dieser Persönlichkeit verbundenen Themen bemühte – und er griff bei seinem Vorhaben insbesondere auf Bolzanos bekannte Erbauungsreden zurück.

 

Auf biografischer Ebene handelt es sich um ein Buch, das den aktuellen Wissensstand nicht wesentlich bereichert. Der spezielle biografische Teil bildet nur einen bestimmten Teil des gesamten Textes und befasst sich vor allem mit Bolzanos Kindheit und Jugend, mit seinem kritischen Verhältnis zur Philosophie von Kant sowie mit einigen Momenten aus seiner pädagogischen Karriere. Mehr Aufmerksamkeit widmet der Autor Bolzanos Entscheidung, Priester zu werden, sowie der Auswirkung dieser Entscheidung auf seine wissenschaftliche Tätigkeit (im Bereich der Mathematik und Logik). Überraschenderweise und zu Recht weist er darauf hin, dass es in Bolzanos Fall um keinen Widerspruch zwischen Wissenschaft und Religion gehe, sondern dass es sich zu dieser Zeit um eng miteinander verbundene Phänomene handle. Bolzanos späteres Leben wird hauptsächlich als eine komplexe Interpretation seiner Predigertätigkeit (Vortragstätigkeit) und eine telegraphische Aufzählung einiger anderer Schriften und Taten, einschließlich seiner umstrittenen Amtsenthebung, konzipiert. So gesehen ist die gesamte Biografie etwas unkonventionell konzipiert, es geht v. a. darum, Bolzanos „Aufklärung“ am Beispiel einer detaillierten Analyse (insbesondere) seiner Predigertätigkeit festzuhalten.

 

Der wichtigste Teil von Strassers Buch, der eine Diskussion verdient, ist gerade sein Versuch, Bolzanos Werk im Kontext der sogenannten Aufklärung zu interpretieren (der Begriff wird im Buch gezielt und nicht ganz selbstverständlich verwendet). Gleich zu Beginn erläutert der Autor umfassend die Vorgeschichte für Bolzanos Auftritt zu Beginn des 19. Jahrhunderts, er beginnt mit dem mittelalterlichen Universalien-Streit und dem Wirken von Johannes Hus an der Prager Universität, widmet sich der kopernikanischen Wende in der modernen Physik und endet bei Rabbi Löwy. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwieweit dieser Exkurs (der logischerweise einen sehr selektiven Charakter hat) hinreichend begründet und erklärt wurde. Wenn es beispielsweise um die Frage der Beziehung zwischen Bernard Bolzano und Johannes Hus geht, wird deren gemeinsamer „Nominalismus“ hervorgehoben und Hus‘ Zeit damit als die Zeit der „Frühaufklärung“ nominiert. Es ist durchaus möglich, eine Art „ewiger Philosophie“ (philosophia perennis) zu konstruieren, etwa in der Thematik des Verhältnisses von Glauben und Vernunft, dies bleibt jedoch nicht ohne Konsequenzen und anschließende Fragen.

 

Der Begriff „Aufklärung“, der im Mittelpunkt der gesamten Studie zu stehen scheint, wird anschließend im Kontext der Habsburgermonarchie näher behandelt. Strasser definiert ihn anhand von sechs Interpretationsachsen, die durch folgende Begriffe charakterisiert werden könnten: Atmosphäre der Lockerung, Wissen, Versprachlichung der Welt, Desakralisierung, Identitätsverlust und Neuausbildung von Katecheten. Infolge deren Überlappung entsteht ein Bild der Gedankenwelt des 18. Jahrhunderts im Hinblick auf den Raum Mitteleuropas. Zeitlich bewegt Strasser sich vom Ende des 17. Jahrhunderts bis zur Zeit des Wiener Kongresses, leider ist es stellenweise nicht klar, ob der Autor die Aufklärung als ein spezifisches, zeitlich und örtlich definiertes Phänomen auffasst oder ob er mit dem Begriff einen umfassenderen Prozess der Entstehung der modernen Welt und des modernen Denkens meint. Beide Perspektiven hängen sicherlich in irgendeiner Weise zusammen, gerade hier liegt jedoch die zentrale Frage der gesamten Monographie, nämlich inwieweit Bernard Bolzano ein „böhmischer Aufklärer“ war. Und was bedeutet dies in Bezug auf die Welt, in der er lebte und die wir normalerweise nicht mehr für aufklärerisch halten? Im Falle von einzelnen Fragestellungen bringt das Buch wirklich viele interessante Beobachtungen: die ambivalente Position der Jesuiten im Prozess der Entstehung des modernen Denkens, die Predigt als spezifische Gattung der Weltdeutung oder das Verhältnis zwischen mathematischen und ästhetischen Wissenschaften.

 

Das Zentrum von Strassers Interpretation besteht in der Analyse von Bolzanos Predigten, die in großer Zahl zwischen 1804 und 1820 entstanden sind und die uns dank des Autors dieses Buches größtenteils in Form einer modernen Ausgabe vorliegen. Die Analyse des umfangreichen Korpus erfolgt thematisch, bzw. anhand der vom Autor des Buches gewählten Schlüsselbegriffe. Somit verzichtet er auf eine klare diachrone Perspektive auf Bernard Bolzanos Gedankenentwicklung während dessen Tätigkeit an der Universität, was hier nicht als Vorwurf, sondern lediglich als eine wichtige Aussage zum Verständnis der gesamten Buchstruktur zu verstehen sei. Methodologisch orientiert sich der Autor am mehr oder weniger traditionellen Konzept der Ideengeschichte, es werden die Bedeutungen einzelner Aussagen im Kontext anderer zeitgenössischer (aber auch zeitloser) Ideen „rekonstruiert“. Und so erfahren wir etwas über Bolzanos „Idealismus“ im Verhältnis zur deutschen Philosophie des Jahrhundertumbruchs (Kant, Fichte, Schelling), über seinen Begriff des „Revolutionären“ im Kontext der Debatten über die Französische Revolution oder aber über den Begriff des „Fortschritts“ im gesamten Kontext seiner Philosophie. Sehr solide wirken auch die Teile, die sich auf die Methodologie der Predigten und deren Aufbau (Arbeit mit Begriffen usw.) konzentrieren. Strasser beschäftigt sich nicht nur mit der inhaltlichen Ebene von Bolzanos Erbauungsreden, er thematisiert sie auch als Gattung und Medium oder als ein Mittel „aufklärerischen“ Denkens, was eine sehr bemerkenswerte Perspektive darstellt. Tatsächlich hat Bolzano selbst seine Exhortationen reflektiert und über deren Struktur, Ziel und Ausrichtung im Zusammenhang mit dem allgemeineren Projekt der Erziehung der Menschheit nachgedacht, sie sind demnach nicht bloß ein Instrument der religiösen Kommunikation.

 

Angesichts der Geschichte des tschechisch-deutschen Miteinanders in den böhmischen Ländern ist natürlich die Frage von Bolzanos bekannten Überlegungen zu den Bewohnern seiner Heimat von grundlegender Bedeutung. Auch Strasser weicht diesem Thema nicht aus und schenkt ihm die gebührende Aufmerksamkeit. Allerdings scheint die gesamte Deutung leider auf der etwas problematischen Dichotomie der österreichischen (bzw. böhmischen) Länder einerseits und des deutschen Reichsgebiets andererseits zu gründen, aus dem sich vor allem während der Napoleonischen Kriege neues nationalistisches Ideengut verbreitete, das die österreichische „Aufklärung“ radikalisierte. Bei der Interpretation des bekannten Jungmann-Bolzano-Kontrasts greift er stark auf Patočkas berühmte Studie von 1969 zurück und skizziert einen recht scharfen Unterschied zwischen den beiden Wissenschaftlern, der einigermaßen legitim sowie sichtbar ist. Gleichzeitig könnte man jedoch einwenden, dass die Beziehung zwischen der sogenannten Aufklärung des 18. Jahrhunderts und dem Nationalismus des folgenden Jahrhunderts nicht rein exklusiv gedacht werden muss. Schließlich war etwa der im Buch oft erwähnte Herder einerseits ein „Apostel“ des modernen Sprach- und Kultur-Nationalismus, zugleich kann man bei ihm den spezifischen Rahmen des allgemeinen „Menschlichkeit“-Konzepts nicht übersehen, das seiner gesamten Theorie im damaligen Diskurs erhebliche Legitimität verlieh. Bolzanos Ideen „passen“ vielleicht auf den ersten Blick nicht unbedingt in den Prozess der „nationalen Wiederbelebung“, es bleibt allerdings die Frage, was uns dies über die nationale Wiederbelebung selbst und über ihre Beziehung zur vorangegangen Zeitperiode verrät. Darauf bietet Strassers Biografie keine Antwort, die wesentlich über Patočkas Argumentation hinausginge.

 

Trotz einiger der oben erwähnten Mängel sollte diese neue Bolzano-Biographie mit Dankbarkeit aufgenommen werden. Ihre größte Stärke, nämlich die umfassende Analyse seiner Exhortationen, ist in der Tat ein innovativer Beitrag zur Geistesgeschichte zur Zeit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Sie wirft dabei viele interessante Fragen auf und liefert auch einige bemerkenswerte Antworten. Der Autor ist mit deren Inhalt und historischem Kontext bestens vertraut. Wenn es jedoch um eine umfassendere Verortung von Bolzanos Biographie im zeitgenössischen Kontext geht (Beziehung zur Aufklärung, die Situation in den böhmischen Ländern am Ausgang des 18. und am Anfang des 19. Jahrhunderts, die Frage der Nationalbewegungen usw.), würden mehrere Schlussfolgerungen doch eine weitere Diskussion verdienen.

 

Übersetzung: Lukáš Motyčka

 

 

Kurt F. Strasser: Bernard Bolzano (1781–1848). Ein böhmischer Aufklärer. Köln: Böhlau 2020, 464 S.


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