Es schreibt: Marie Krappmann

(1. 6. 2023)

Zum Thema diverser Visualisierungen vom Antisemitismus erschienen in letzten Jahrzehnten bereits mehrere wichtige fremdsprachige Publikationen. Das Buch Obrazy nenávisti. Vizuální projevy antisemitismu ve střední Evropě [Bilder des Hasses. Visuelle Manifestationen des Antisemitismus in Mitteleuropa] bringt den LeserInnen in mehrfacher Hinsicht neue Informationen. Wie der Titel schon sagt, konzentriert sich diese kollektive Monographie auf den mitteleuropäischen Raum, der durch gewisse Besonderheiten gekennzeichnet ist, auf die die Autoren in einzelnen Kapiteln aufmerksam machen. Gleichzeitig behandeln sie Themen, die im Falle anderer Regionen bereits mehr oder weniger detailliert erforscht wurden. Einige Autoren nähern sich dem Gegenstand der bereits teilweise erforschten Visualisierungsmethoden aus einer anderen Perspektive als bisher üblich und kommen dabei zu überraschenden Schlussfolgerungen – so etwa Michal Frankl in seinem Kapitel über die Funktion des Raums.

 

Trotz der Tatsache, dass insgesamt elf Autoren aus mehreren Ländern an dem Buch mitgearbeitet haben, hat es eine ziemlich klare Struktur, die durch zwei Achsen, eine diachrone und eine thematische, definiert ist. Den Ausgangspunkt auf der Zeitachse stellt das 13. Jahrhundert dar; so weit geht Jan Dienstbier im ersten Kapitel mit dem Titel Die Metamorphosen der ‚Judensau‘ zurück. Die beiden letzten Kapitel von Zbyňek Tarant und Iwona Kurz über die aktuelle Entwicklung des visuellen Antisemitismus in Tschechien und Polen bilden dann den Abschluss. Dass auf der diachronen Achse die Periode des 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorherrscht, ergibt sich naturgemäß aus der historischen Entwicklung der Sichtbarmachung des Antisemitismus, der eng mit der Entstehung des Nationalismus im 19. Jahrhundert verbunden war. Auf der anderen, paradigmatischen Ebene lassen sich relativ schnell Anknüpfungspunkte zwischen einzelnen Kapiteln erkennen; es sind komplexe thematische Momente und Konzepte wie etwa Raum, und dies im Sinne der physischen sowie humanen Geographie, ferner Tradition und ihre Funktion bei der Zirkulation von Bildern und deren Transformation, Anderssein und die Art und Weise, wie es konstruiert wird.

 

Im ersten Kapitel konzentriert sich Jan Dienstbier vor allem auf die beiden letztgenannten thematischen Phänomene, wenn er die Entwicklung des Motivs der sog. „jüdischen Sau“ im tschechischen Kontext im Zeitraum vom 13. bis zum 16. Jahrhundert und dessen diverse Varianten beschreibt. Anhand von Analysen der Gewölbekonsolen in der St.-Bartholomäus-Kirche in Kolín nad Labem und in Lipnice nad Sázavou illustriert er eine enge Parallele mit dem norddeutschen (Kolín) und süddeutschen (Lipnice) Raum und weist darauf hin, dass die Darstellung dieses Motivs nicht primär ideologisch motiviert war, sondern dass sie im 13. und 14. Jahrhundert eher zum festen Repertoire der Steinbildhauerwerkstätten gehörte. Anschließend beschreibt er die Entwicklung des Motivs im 15. und 16. Jahrhundert aufgrund der Analyse der Illuminationen im sog. Smíškovský-Gradual, im Kuttenberger Gesangbuch und im Leitmeritzer Gradual. Während er im Falle der ersten beiden Quellen zu einem ähnlichen Ergebnis kommt wie bei der Analyse der Konsolen, dass sie nämlich „vielleicht noch weniger als in Lipnice oder Kolín für eine antijüdische Propaganda bestimmt waren“ (S. 26), interpretiert er die Abbildung im Leitmeritzer Gradual als „Zeugnis für die problematischen Beziehungen der Utraquisten in Leitmeritz zu ihren jüdischen Nachbarn“ (S. 30). Einen Zusammenhang mit den damaligen gesellschaftlichen Ereignissen vermutet er ferner im Falle der Reliefs an der Decke des Tanzsaals aus dem 16. Jahrhundert auf der Burg in Teltsch. Das erste Kapitel ist somit eine spannende Auseinandersetzung mit der Geschichte eines Motivs, das sich von einem Bestandteil des „Katalogs der Ungeheuer“ (unter anderem) zu einem Mittel der satirischen Aktualisierung gewandelt hat.

 

In Daniel Véris Kapitel „Vorstellung eines Ritualmordes: Gestaltung des gesellschaftlichen Bewusstseins“ geraten die Leser auf der diachronen Achse im 19. Jahrhundert, der Autor beschäftigt sich mit dem Konstrukt des „Andersseins“. Die Stigmatisierung erfolgt diesmal mittels Visualisierung und infolge der Narrative, die ein nie stattgefundenes Ereignis darstellen – nämlich den rituellen Mord an einem jungen Mädchen im ungarischen Dorf Tiszaeszlár. Im tschechisch sprachigen Kontext beschäftigt z. B. Daniel Soukup sich mit dieser Art der Judenstigmatisierung. In seiner Analyse von antisemitischem Bild- und Liedmaterial verfolgt Véri vor allem zweierlei: Einerseits weist er auf das ökonomische Potenzial der Verbreitung antisemitischer Artefakte hin und andererseits beschreibt er die Strategien, die dabei halfen, die fiktive Geschichte im Kollektivgedächtnis zu speichern, sodass sie jederzeit abgerufen und bei Bedarf aktualisiert werden konnte.

 

Im Kapitel Kurantisemitismus in Böhmen und Mähren beschreibt Eva Janáčová die visuelle Kodierung von Andersartigkeit am Beispiel von Postkarten, Fotografien, Karikaturen und anderen Objekten, die jüdische Figuren in westböhmischen Kurbädern abbilden. Sie analysiert vor allem stigmatisierende Stereotypen, die sich in den oben erwähnten Quellen in verschiedenen Variationen wiederholen, z. B. unzureichende Hygiene, Übergewichtigkeit, diverse physiognomische Auffälligkeiten usw. Dabei stellt sie deutliche Unterschiede zwischen der stereotypen Darstellung von Ostjuden und assimilierten Westjuden fest. Dem diffamierenden Bildmaterial stellt sie Fotografien gegenüber, die nicht karikierte, reale jüdische Figuren zeigen. Das reichhaltige Bildmaterial hilft dem Leser, sich ein genaueres Bild von den Strategien der visuellen Stigmatisierung der Juden im Kurmilieu zu machen.

 

In seinem Kapitel Durch gemeinsamen Raum getrennt. Juden in tschechischen antisemitischen Karikaturen behandelt Michal Frankl ein ganz ähnliches Thema auf eine wesentlich komplementäre Weise – es geht ihm nicht um die Abbildung jüdischer Figuren in Karikaturen, sondern um deren Verankerung im Raum. Die Stigmatisierung, die infolge der (Nicht-)Eingliederung in den Raum erfolgt, demonstriert er einerseits am Beispiel der Karikaturen aus dem Gesellschaftsteil der Zeitschrift Humoristické listy [Humoristische Blätter], andererseits am Beispiel von gezeichneten Witzen, die anlässlich der Prager Jubiläumsausstellung von 1801 und der Ethnographischen Ausstellung von 1895 entstanden sind. Frankl hebt die vorherrschende Strategie hervor, nämlich die öffentlichen und privaten jüdischen Räume fast vollständig zu ignorieren; die einzige Umgebung, in der die Karikaturisten jüdische Figuren abbilden, war das Café. Ihm fällt auch auf, dass die räumliche Stigmatisierung jüdischer Figuren in den Karikaturen und gezeichneten Witzen zu den beiden genannten Ausstellungen durch wiederholte visuelle Anspielungen auf die Nichtteilnahme von Juden an den Ausstellungen einerseits und andererseits auf ihren Wunsch, die Ausstellungen zu besuchen, zugespitzt und konkretisiert wird. Insgesamt kommt Frankl zu der Schlussfolgerung, dass diese Strategien, die er treffend als „ironische Inklusion“ bezeichnet, wesentlich zu einer verzerrten Wahrnehmung der im Alltag geteilten Räume beigetragen und somit den Weg für die tatsächliche physische Ausgrenzung von Juden aus der Gesellschaft geebnet haben.

 

Im folgenden Kapitel Nur Unterhaltung? Die Muskete und ‚mäßiger‘ Antisemitismus im Wien der Zwischenkriegszeit widmet Julia Secklehner sich auch – diesmal am Beispiel der Wiener humoristischen Zeitschrift Die Muskete – der stereotypen Visualisierungen jüdischer Figuren. Die Hauptthese des Textes wird bereits im Titel durch die ironische Betonung des Adjektivs „mäßig“ angedeutet. Anhand der Analyse der Karikaturen weist die Autorin darauf hin, dass die Zeitschrift – trotz der Abwesenheit aggressiver antisemitischer Attacken, wie sie beispielsweise für die Wiener Zeitschrift Kikeriki typisch waren – durch stereotype Darstellung von Juden und laue Reaktion auf den wachsenden aggressiven Antisemitismus zur Etablierung der Vorstellung des „Andersseins“ der jüdischen Bevölkerung als kulturelle Tatsache beigetragen hat. Julia Secklehner kommt somit zu einem ähnlichen Schluss wie Michal Frankl, dass dieser „mäßige“ Antisemitismus nämlich die spätere Gewalt gegen die jüdische Bevölkerung schleichend legitimierte.

 

Eine identische These vertritt auch Jakub Hauser, der Autor des nächsten Kapitels mit dem Titel Der Tradition getreu: Visueller Antisemitismus in der Zeitschrift Humoristické listy in den 1920er und 1930er Jahren. Er verifiziert sie mit der Analyse des tschechischen humoristischen Periodikums, das zu seiner Zeit – genauso wie die Wiener Zeitschrift Die Muskete – für eigentlich gemäßigt und Mainstream gehalten wurde. Hauser stellt jedoch fest, dass die Prager Zeitschrift (im Gegensatz zu der Wiener Zeitschrift) ihr Plädoyer für die nationale Einheit und gleichzeitig für die Ausgrenzung ‚fremder‘ Elemente während der gesamten 1930er Jahre steigerte. Am Beispiel zahlreicher Karikaturen und Illustrationen aus den Humoristické listy zeigt er, dass diese Zeitschrift, die für ein Mainstream-Blatt ohne offen formulierte politische Ambitionen gehalten wurde, wesentlich zur Normalisierung antisemitischer Stereotypen beigetragen hat.

 

In den nächsten beiden Kapiteln bewegt sich der Leser sowohl auf der diachronen als auch auf der thematischen Achse: Nach den 1920er und 1930er Jahren wird nun auf die Kriegszeit fokussiert, und das Thema sind nicht mehr die sog. „gemäßigten“ Erscheinungsformen des visuellen Antisemitismus, sondern die völlig offene antisemitische Propaganda. Petr Karlíček konzipierte sein Kapitel Antisemitische Karikaturen in der Protektoratspresse und ihre Autoren (1939–1945) als einen positivistisch orientierten Einblick in die „Arbeit“ einiger ausgewählter Künstler, die ihre Karriere auf der direkten Stigmatisierung von Juden aufbauten – Karel Rélink, Dobroslav Haut und František Voborský. Gleichzeitig bestätigen die biografischen Daten oft die in den vorangegangenen Kapiteln formulierte These, dass der sog. „gemäßigte“ Antisemitismus auf subtile Weise den Weg für direkte antisemitische Angriffe ebnete. Wenn Karlíček feststellt, dass Dobroslav Haut während der Ersten Republik regelmäßig Beiträge für die Humoristické Listy lieferte, weist er auf eine direkte Entwicklungslinie von der „gemäßigten“ Mainstream-Karikatur bis zu offenen, hasserfüllten Angriffen hin, die für Zeitschriften wie etwa Kvítko oder České Slovo typisch waren, in denen Haut und Voborský zur Zeit des Protektorats publizierten. Die Erwähnung der Lebensgeschichten der genannten Autoren nach Kriegsende hat einen symbolischen Wert; der einzige Autor, der das Kriegsende überlebte – František Voborský – wurde zwar verurteilt, nach seiner vorzeitigen Entlassung begann er sich jedoch wieder künstlerisch zu betätigen, „unter anderem für das SNB (!)“ (d. h. das Korps für die Nationale Sicherheit – Anm. des Übersetzers, S. 184). Das Ausrufezeichen, das der Autor des Kapitels hinter diese biografische Angabe setzt, schlägt eine imaginäre Brücke zu den letzten Kapiteln der vorliegenden Publikation.

 

Daniel Uziels Kapitel Polnische Juden in den Bildnachrichten der Propagandafirmen konzentriert sich auf die direkte antisemitische Medienpropaganda, die von der Wehrmacht initiiert wurde. Eines der Hauptziele sei es hierbei, „den bislang wenig bekannten Aspekt der Mittäterschaft der Wehrmacht an den NS-Verbrechen zu beleuchten“ (S. 187). Etwas verwirrend ist der Untertitel Methodologie, unter dem nicht die Verfahren der Forschung zusammengefasst werden, sondern lediglich die zeitliche Einteilung des erforschten Korpus in drei Zeitspannen – 1939, der Jahreswechsel 1939/1940 und 1941. Das Jahr 1941 wird als ein wichtiger Wendepunkt suggeriert; während in der ersten Jahreshälfte immer noch die Verbindung zwischen Juden und dem „roten Bösen“ (S. 194) betont wurde, „verschwanden die Juden in der zweiten Jahreshälfte, als der Judenmord gigantische Ausmaße annahm, auch schnell aus den deutschen Bildmedien“ (S. 197). Das Kapitel von Daniel Uziel zeigt überzeugend, wie es den Propaganda-Kompanien der Wehrmacht gelang, die Juden mithilfe modernster technischer Ausstattung und überzeugender medialer Strategien von der übrigen Gesellschaft abzugrenzen.

 

In den letzten beiden Kapiteln werden die Leser mit zeitgenössischen visuellen Manifestationen des Antisemitismus konfrontiert. Im Kapitel Zeitgenössischer visueller Antisemitismus in der Tschechischen Republik versucht Zbyněk Tarant kunsthistorische und anthropologische Ansätze zu verbinden – ihn interessiert nicht nur die eigentliche Botschaft der analysierten Visualisierungen, sondern auch das, was sie über ihre Autoren aussagen. Dabei trennt er konsequent die Produktion des Mainstreams, der sich oft an der Grenze zu Antisemitismus und Philosemitismus bewegt, von der Produktion kleinerer Gruppen hochproduktiver Extremisten. Der Hauptunterschied bestehe laut Tarant darin, dass die Mainstream-Stereotypisierung jüdischer Figuren oft „gut gemeint“ und im Wesentlichen ein „Kompliment“ zum Beispiel für die Geschäftstüchtigkeit von Juden sei. Die Absurdität ähnlicher überlieferter Mainstream-Produktionen wird am Beispiel der auf die Liste des immateriellen Kulturerbes der UNESCO eingetragenen Faschingsumzüge aus der Hlinsko-Region, deren wesentlicher Bestandteil auch die entwürdigenden Masken der Juden sind, treffend illustriert. Dies führt zu einer paradoxen Situation, da „eine EU-Förderung, bei der der Antragsteller die positiven Auswirkungen u. a. auf die Chancengleichheit detailliert beschreiben muss, tatsächlich dazu dient, das stereotype Bild von Juden zu wahren“ (S. 231). Im Vergleich zu solchen Absurditäten klingt die anschließende Analyse von offen antisemitischen Visualisierungen, die von extremistischen Gruppen initiiert wurden, nicht allzu alarmierend. Zbyněk Tarant kommt zu dem Schluss, dass der Umfang der Aktivitäten hochproduktiver, aber kleiner extremistischer Gruppen, die in erster Linie „Männersache“ seien, ihrem tatsächlichen Einfluss jedoch nicht unbedingt entspreche.

 

Ein ähnliches Thema wird im letzten Kapitel Flüchtlinge ‚wie Juden‘. Wandernde Bilder von Gräueltaten von der polnischen Wissenschaftlerin Iwona Kurz aufgegriffen, wenn sie die Entstehung von „Bildern“ in der polnischen Gesellschaft durch verschiedene visuelle Anspielungen auf den Holocaust beschreibt. In Anlehnung an Cornelius Castoriadis bezeichnet der Begriff „Bild“ hier „ein Repertoire von Normen, Bildern, Signifikanten und Praxen, die eine historisch einzigartige Form des gesellschaftlichen Lebens schaffen“. An ausgewählten Beispielen zeigt sie, wie im Zuge der öffentlichen Diskussionen über die Flüchtlingskrise stereotype Bilder von Juden aktiviert werden und wie diese in der Folge dazu dienen, sowohl andere Gruppen (z. B. Flüchtlinge) zu stigmatisieren als auch die Stigmatisierung von Juden selbst zu verstärken. Dieser Effekt der „überdauernden Wahrnehmung“ wird am Beispiel des Projekts des bekannten polnischen Konzeptualisten Zbigniew Libera Pozytywy erklärt. Das Fazit, das Iwona Kurz am Ende ihres Kapitels formuliert, könnte das Motto des ganzen Buches sein: „Abbildungen sind ansteckend, genauso wie Viren, und sie sagen uns, dass wir ihnen mit anderen Bildern antworten sollen. Sie sind sogar Träger vergangener Krankheiten. Und ich glaube dennoch, dass sie auch das Potenzial besitzen, zum Handeln aufzurufen.“ (S. 252)

 

Leser, die diese hochinformative und spannend geschriebene kollektive Monographie lesen, werden mit Sicherheit effektiv gegen ansteckende Visualisierungen geimpft, deren genaue Diagnose von den AutorInnen der einzelnen Kapitel gestellt wird.

 

Übersetzung: Lukáš Motyčka

 

 

Jakub Hauser / Eva Janáčová (Hgg): Obrazy nenávisti. Vizuální projevy antisemitismu ve střední Evropě. Praha: Artefactum 2020, 271 S.


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