Es schreibt: Ingeborg Fiala-Fürst

(6. 4. 2023)

 

Eine tschechische Auswahl aus der Poesie, d. h. aus dem lyrischen Werk von Max Brod herausgeben zu wollen, muss zunächst ziemlich überraschen; die tschechischen Leser sowie das germanistische Fachpublikum kennen Max Brod nämlich vor allem als einen Prager deutschen Schriftsteller-Prosaisten, als Freund Franz Kafkas und Retter von dessen literarischem Erbe, als Organisator und allseitigen Förderer des literarischen Lebens der jüngsten Generation der Prager deutschen Schriftsteller, als einen Anhänger und Übersetzer von Janáček und Hašek, ferner als einen glühenden Zionisten, gelegentlichen Philosophen und schließlich – wenn man Brods Memoiren in Betracht zieht, die er bereits im israelischen Exil verfasste – als den Begründer des „Prager Mythos“, also des Nachruhms der Prager deutschen Literatur. Dass Brod auch „Gedichte“ geschrieben hat, wissen die wenigsten, und es hat mich viel Arbeit gekostet, Hans-Gerd Koch, den Verleger von Brods ausgewählten Werken im Wallstein-Verlag, davon zu überzeugen, den zwölf Bänden (Romane und Essays) wenigstens einen Band mit lyrischen Texten des Autors hinzuzufügen. 2016 ist es letzten Endes gelungen, der Band trägt den Titel Das Buch der Liebe und es bringt nicht nur Brods lyrische, sondern auch seine dramatischen Texte. Was ich damit sagen will: Sollte ich das tschechische Publikum mit der Persönlichkeit und dem Werk dieses großen Sohnes des einst zweisprachigen, multikulturellen und multiethnischen Prags (wieder) bekannt machen, würde ich wahrscheinlich einen von Brods Romanen, eine Sammlung von Erzählungen, Essays, philosophischen Texten oder seine Memoiren wählen und keineswegs Lyrik, zumal 55 Jahre nach dem Tod des Autors nur ein winziger Bruchteil seines Werks ins Tschechische übersetzt vorliegt. Hinzu kommt, dass Übersetzungen aus der Vorkriegszeit den Großteil ausmachen (Česká služka, 1910; Tycho Brahe, 1917; Franzi, 1923; Leoš Janáček, život a dílo, 1924; Život s bohyní, 1927; Reubeni, 1929; Osudný rok, 1934; Zázračný kaktus, 1934), denen dann sieben weitere Übersetzungen aus der Zeit des Prager Frühlings und dann erst aus der Zeit nach der Samtenen Revolution folgen (Život plný bojů, 1966 a 1994; Pražské hvězdné nebe, 1969; Pražský kruh, 1993; Korespondence Max Brod – Franz Kafka, 1998; Deníky z cest, 1999; Životopis Franze Kafky, 2000; Vykupitelka, 2020 [In: Expresionistické drama z českých zemí. Academia, Praha, 2021.]).

 

Die Entscheidung von Zlata Kufnerová, der Autorin dieser Auswahl und der Übersetzerin, ist natürlich eine souveräne Entscheidung: Wenn sie sich für Brods Lyrik entschieden hat, dann hat sie sich dafür einfach entschieden, obwohl ich diese Entscheidung – wie bereits erwähnt – überraschend finde und obendrein für eine verpasste Chance halte. Gleich zu Beginn drei Gründe:

 

Den ersten habe ich bereits angedeutet: Der tschechische Leser wäre meines Erachtens mehr an einem von Brods Prosatexten – egal welcher Gattung – interessiert. Nicht nur Shalom Ben Chorim nennt Brod einen „geborenen Geschichtenerzähler“ (also keinen Lyriker), und Brods Lyrik hinkt seiner Prosa in Bezug auf Umfang und oft auch Qualität weit hinterher.

 

Zweitens ist auszusetzen, dass das Nachwort zu der Publikation mehr als nachlässig ist: Die bloß fünf Seiten in kleinem Format werden das Wissen über Max Brod unter den tschechischen Lesern bestimmt nicht vertiefen und ihn nicht zum Liebling des tschechischen Publikums machen. Dass Zlata Kufnerová die meisten ihrer Informationen bzw. Interpretationsansätze aus meinem relativ ausführlichen Vorwort Max Brods Lyrik zur deutschen Auswahl Buch der Liebe bezieht, ohne jedoch die Quelle zu nennen, ist lediglich eine Marginalie. Wenn sie das Vorwort schon gelesen hat, hätte sie doch ein wenig mehr abschreiben können.

 

Der dritte kritische Punkt besteht m. E. darin, dass die Herausgeberin und Übersetzerin – wenn schon ein Buch mit tschechischen Übersetzungen von Brods Lyrik entstand – es nicht versucht hat, Brods Gedichte den tschechischen Lesern näher zu bringen, indem sie sie mit den zeitgenössischen (gerne auch älteren oder späteren) Gedichten tschechischer Autoren verglichen hätte, dass sie es also nicht unternahm, Brod in den böhmischen Ländern heimisch zu machen.

 

Trotzdem glaube ich nicht, dass all die erwähnten Versäumnisse nur der Übersetzerin zuzuschreiben wären, ihr ging es wohl hauptsächlich nur darum, wieder mal ein wenig „Gedichte zu übersetzen“, was eine durchaus spezifische, schwierige, zugleich auch verlockende Disziplin der Übersetzungskunst ist – während der ganze organisatorische „Ballast“ (einschließlich der Erwerbung des Grants des Kulturministeriums und des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds) irgendwelchen Mitarbeitern anvertraut wurde, die ihre Aufgabe jedoch schlampig erfüllt haben. Oder täusche ich mich?

 

Ohne es wiederum in irgendeiner Weise zuzugeben, übernahm die Autorin und Übersetzerin ihr gesamtes „Material“ zur Übersetzung aus der deutschen Auswahl, d. h. die ausgewählten Gedichte von Brod (Brod hat etwa 500 lyrische Texte verfasst, ich habe für die oben erwähnte deutsche Auswahl – nach reiflicher Überlegung und ausführlicher Begründung im Vorwort – 117 aufgenommen, Zlata Kufnerová wählte – ohne jegliche Begründung – 73 hiervon), sie ging allerdings noch weiter und übernahm – mit einer Ausnahme – auch voll und ganz deren Einteilung in fünf (ich habe sechs) thematische bzw. Untergattungsabschnitte. Die einzige Ausnahme stellt das Gedicht An Anathi/Pro Anathi dar, mit dem ich meine deutsche Auswahl (nach reiflicher Überlegung) abschließe und es im Vorwort damit begründe, dass es sich bei diesem Gedicht nach den relativ dunklen und skeptischen Gedichten der späten Sammlung Gesang einer Giftschlange um ein immerhin „positives und versöhnliches Schlusswort von Brod zum Thema Judentum“ handelt; metaphorisch würde ich es mit dem kraftvollen, aber beruhigenden und harmonisierenden Schlussakkord einer ansonsten erschütternden Tonkomposition vergleichen. Zlata Kufnerová stellt Brods frühes Gedicht An eine Anfängerin im Klavierspiel/Začínající klavíristce an das Ende ihrer Auswahl. Es ist in der Tat literaturhistorisch interessant, weil man daran die geistige Verwandtschaft des „Mentors“ Brod mit dem „Studenten“ Werfel (und dessen erster Sammlung Der Weltfreund) demonstrieren könnte, wobei „es schwer zu entscheiden ist, wer wen beeinflusste“ (in: Das Buch der Liebe). Als ein dramaturgisch durchdachter Schlussakkord scheint mir dieses Gedicht jedoch recht ungeeignet.

 

Als Übersetzerin hat Zlata Kufnerová solide Arbeit geleistet, was von dieser ersten Dame der tschechischen Übersetzungskunst auch zu erwarten war. Sie setzte sich jedoch einer Gefahr aus, da sie das deutsche Original und die tschechische Übersetzung einzelner Gedichte nebeneinander abdruckte, so dass verschiedene Nörgler (fachsprachlich „Übersetzungskritiker“ genannt) gelegentliche „Verfehlungen“ finden können, wie etwa einen schwächeren Reim, fehlende phonetische Figuren, veränderte Reimstruktur, Schwächung der Ausdruckskraft, Verharmlosung bzw. Verniedlichung des Inhalts, Abschwächung des humorvollen Grundtons, die Versuche (vor allem im expressionistischen Teil) die Mehrdeutigkeit/Unverständlichkeit des Originals zu erklären (meistens anhand von Vereinfachung der Syntax) usw. Trotzdem lesen sich Brods Gedichte in der tschechischen Nachdichtung ganz gut, das Buch ist schön anzuschauen und anzufassen, und hoffentlich findet es seine Anhänger unter den fünfundfünfzig Lesern, die noch Lyrik lesen.

 

Übersetzung: Lukáš Motyčka

 

 

Max Brod: Touha. Výbor z básnického díla. Přeložila Zlata Kufnerová. Prostor, 2021, 216 S


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