Es schreibt: Peter Becher

(E*forum, 8. 3. 2023)

Auch andere Autoren haben sich mit der Halbwelt der Zuhälter, Prostituierten und Hochstapler befasst, unter ihnen deutschsprachige Prager Autoren wie Egon Erwin Kisch (Der Mädchenhirt, 1914), Paul Leppin (Severins Gang in die Finsternis, 1914) und Franz Werfel (Das Trauerhaus, 1933). Am bekanntesten wurde die Dreigroschenoper von Bertolt Brecht (Uraufführung 1928). Keiner dieser Autoren wurde deshalb selbst als Hochstapler oder Zuhälter bezeichnet. Walter Serner dagegen wurde diese zweifelhafte Ehre zuteil, nachdem sein Verleger aus Gründen der Werbung genau dies behauptet und Theodor Lessing die Behauptung im Prager Tagblatt vom 10. Mai 1925 verbreitet hatte. Damit waren der Skandalisierung Tür und Tor geöffnet, der Verschmelzung von Fiktion und Realität, zumal Serner kein unbekannter Autor war.

 

Geboren 1889 in Karlsbad, hatte er in Wien, Berlin und Greifswald Jura studiert, mit einer größtenteils abgeschriebenen Dissertation promoviert und sich zu Beginn des Ersten Weltkriegs der Einberufung durch seine Übersiedelung nach Zürich entzogen. Dort und in anderen Orten der Schweiz war er zu einem Protagonisten der Literatur-Szene aufgestiegen und hatte das berühmte DADA-Manifest „Letzte Lockerung“ verfasst. Umstritten, bewundert und angefeindet, wobei sich sittliche Empörung und antisemitische Ressentiments mischten, führte er nach dem Krieg ein unstetes Leben, schrieb Kriminalgeschichten (u. a. Der Pfiff um die Ecke, Berlin, 1925, und Die tückische Straße, Wien, 1926) und lebte zuletzt mit seiner Frau in Prag. Die geplante Flucht nach Shanghai scheiterte. Das Ehepaar wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert und noch im selben Jahr in der Nähe von Riga ermordet.

 

Die Tigerin erzählt die Liebesgeschichte zwischen dem Hochstapler Henri Rilcer, genannt Fec, und der Prostituierten Bichette Thaller, genannt die Tigerin, im Halbweltmilieu von Paris. Bichette spricht Argot, die Sprache der Gauner und Bettler, sie nimmt kein Geld, wird jedoch stets reich beschenkt, bringt etliche Männer um ihren Verstand und steht in dem Ruf, sich niemals zu binden. Umso erstaunter reagiert die Szene, dass sie dem Charme von Fec verfällt, mit dem sie scheinbar nur spielt und sich doch in ihn verliebt. Unentwegt streitet, demütigt, schlägt und versöhnt sich das Paar, eifersüchtig auf andere Frauen und Männer, stets bereit, ausfallend und gewalttätig zu werden. Schließlich fährt das Paar nach Nizza, um dort reiche Männer um den Finger zu wickeln und auszunehmen.

 

Auf den ersten Blick mutet der Roman oberflächlich und auf gewisse Weise altbacken an, was vor allem an der Änderung der Wahrnehmungsgewohnheiten liegt. Liest man die Streit- und Eifersuchtsgespräche heute, so fühlt man sich an die Geschichten randständiger Jugendcliquen erinnert, deren lautstark in die Öffentlichkeit getragene Auseinandersetzungen kaum über das Niveau hinausreichen, wer mit wem geht, wer wen unmöglich findet und wen bewundert. Auch das Halbweltmilieu, das manchen Schauer gleichzeitiger Empörung und Faszination verursacht haben mag, wirkt heute nach der Dauerberieselung von Action- und Kriminalfilmen, die das Milieu in allen Farben ausbuchstabieren, geradezu puppenstubenhaft anheimelnd.

 

Die sexuelle Freizügigkeit schließlich, die die Sittenwächter von Düsseldorf, Dresden und anderen Orten zu empörten Verbotsanträgen veranlasste, bevor die Nationalsozialisten dann alle Publikationen auf den Index stellten, wird heute selbst in harmlosen Liebesfilmen weitaus detailgenauer und ausgedehnter dargestellt. Sehgewohnheiten und sittliche Empfindlichkeiten haben sich extrem gewandelt. (Wobei es durchaus sein kann, dass die Schrauben der Freizügigkeit und Zumutbarkeit mit Schlagworten wie Achtsamkeit, Übergriffigkeit, Me-too und der Streichung oder Ersetzung anstößiger Stellen in berühmten Romanen bereits wieder zurückgedreht werden).

 

Was Serners Kriminalroman jenseits dieser moralisch-gesellschaftlichen Beurteilung auszeichnet und weit aus dem jeweils zeitbedingten Rezeptionshorizont heraushebt, liegt an ganz anderen, literarisch bedingten Qualitäten, nämlich am dramaturgischen Aufbau des Romans, an der stilsicheren Wortkunst der beiden Protagonisten und an der Klimax der wechselseitigen Bloßstellung und Analyse zum Schluss, die in einer rasanten Rekapitulation des Geschehens den Teppich der Wahrheit so gekonnt wegzieht, dass dem Leser buchstäblich die Luft ausbleibt.

 

Der plötzliche Pistolenschuss, dem Fec zum Opfer fällt, beendet die Handlung so abrupt, dass es kein absurdes Theater besser inszeniert haben könnte. Und wenn man nicht wüsste, dass Edward Albees Theaterstück Wer hat Angst vor Virginia Woolf erst 1962 uraufgeführt wurde, mithin 40 Jahre nach Serners Tigerin, so würde man meinen, Serner hätte sich hier wie bei seiner Dissertation einige Anleihen genommen. So kann es allenfalls andersherum gewesen sein.

 

Die eigentliche Provokation dieses Romans besteht jedoch in der Sernerschen Kunst, das Milieu der Halbwelt als durchsichtiges Gehäuse über alle Aussagen und Wortegefechte zu stülpen. Auch in diesem Milieu lässt es sich vortrefflich philosophieren, sogar im Argot der Gauner, Zuhälter und Prostituierten, selbst wenn diese kaum jemals solche Gespräche geführt hätten. Diesen Gegensatz literarisch zu überspielen und zu gestalten, hat niemand so gekonnt beherrscht wie Walter Serner. So ist seine Tigerin ein überaus milieugemäßer und überaus künstlicher, literarisch-ästhetischer Roman zugleich.

 

Die Neuausgabe der Tigerin enthält ein anregendes Nachwort von Alban Nikolai Herbst, zusammenfassende Nachbemerkungen des Verlegers Christoph Haacker und eine kompakte Dokumentation der Rezeptionsgeschichte des Romans, einschließlich der Verbotsanträge und der Verteidigungsschriften u. a. von Alfred Döblin, Kasimir Edschmid und Max Herrmann.

 

 

Walter Serner: Die Tigerin. Eine absonderliche Geschichte. Mit einem Nachwort von Alban Nikolai Herbst, Nachbemerkungen von Christoph Haacker und Dokumenten zur Rezeption. Wuppertal: Arco Verlag, 2020 (Erstausgabe Berlin 1925), 210 S.


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