Es schreibt: Mirek Němec

(22. 2. 2023)

Am Ende der Publikation Der nationale Schulkampf in Böhmen. Schulvereine als Akteure der nationalen Differenzierung (1880–1918) äußert Mikuláš Zvánovec den Wunsch, sein Buch über die beiden wichtigen Akteure der nationalen Bewegung in den böhmischen Ländern in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, den Deutschen Schulverein (DSV) und die Ústřední matice školská (ÚMŠ), möge dazu beitragen, dass man mit den zäh verwurzelten nationalen Narrativen teilweise offener umgehe oder sie vielleicht sogar überwinde. Auf diese Weise solle diese Arbeit eine gemeinsame und ausgewogene Perspektive auf den Modernisierungsprozess in den böhmischen Ländern fördern, für die die nationale Konkurrenz zwischen der tschechischen und der deutschsprachigen Bevölkerung charakteristisch war (S. 188). Es kann bereits am Anfang dieser Rezension vorweggenommen werden, dass es dem Autor mit seiner 2020 als Dissertation an der Fakultät der sozialen Wissenschaften der Karlsuniversität (Fakulta sociálních věd UK) angenommenen Publikation gelungen ist, einen soliden Grundstein für einen solchen Perspektivenwechsel zu legen.

 

Obwohl der Bildungsbereich und damit auch die Einflusssphäre beider behandelter Organisationen eine grundlegende Kategorie im tschechisch-deutschen Konflikt darstellt, geht es dem Autor nicht um deren erschöpfenden Vergleich. Im Vordergrund seines Interesses steht die Frage, wie beide Schulvereine auf die Herausforderungen eines sich modernisierenden Vielvölkerstaates zur Zeit der anfänglichen Entwicklung der Bürgergesellschaft reagierten. In seiner Analyse konzentrierte Zvánovec sich auf die letzte Phase der Geschichte der Habsburgermonarchie. Es gelang ihm, die Forschungsergebnisse der tschechischen, deutschen, österreichischen sowie der englischsprachigen Geschichtsschreibung produktiv mit Archivquellen zu verbinden, und somit die Situation in sprachlich gemischten Gebieten dem Leser vor Augen zu führen. Problematisch erscheint mir allerdings seine der Zusammenfassung vorangestellte, oberflächliche Betrachtung der Zeit der Ersten Republik zu sein: das Thema, das außerhalb des durch den Titel abgesteckten Zeitrahmens liegt und die gleiche sorgfältige Behandlung wie das vorherige verdienen würde. Im Gegensatz dazu möchte ich den umfangreichen Anhang mit statistischen Daten, ausgewählten Archivdokumenten sowie dem Bild- und Kartenanhang positiv hervorheben.

 

Einen gewissen Einwand hätte ich gegen den Titel der Publikation, da viel mehr der Untertitel die inhaltliche Ausrichtung deutlicher beschreibt. Den im Titel selbst betonten „Schulkampf“ nahm ich als Leser eher nur latent wahr. Zvánovec widmet sich den Organisationsstrukturen beider öffentlichen Vereine, ihrer Zusammenarbeit mit den staatlichen und administrativen Schulorganen, untersucht die Entwicklung ihrer finanziellen Lage, die gelebten ideologischen Konstrukte und die Verankerung im parteipolitischen Spektrum der Zeit. Die im Titel der Publikation angegebene geografischen Einschränkung (Böhmen) musste der Autor (insbesondere beim DSV) im Text korrigieren, da der Verein 1880 in Innsbruck mit dem Ziel gegründet wurde, die deutsche Bildung gegen den Ansturm der italienischsprachigen Kultur zu unterstützen. Der DSV war allerdings überall dort aktiv, wo es um die Verteidigung deutscher Schulen gegen fremdsprachige Konkurrenz ging, also neben den böhmischen Ländern z. B. ferner in der Steiermark, in Kärnten, Wien oder Galizien. Die ÚMŠ konnte kein ähnliches Spektrum von Aktivitäten entwickeln, da ihr Ziel der Aufbau und die Aufrechterhaltung des tschechisch sprachigen Unterrichts war. Die Tätigkeit dieses Vereins erstreckte sich somit auf sämtliche böhmische Länder, Zvánovec musste auch in diesem Fall also die geographischen Grenzen von Böhmen überwinden und mehrmals Mähren, Schlesien oder sogar Wien mitberücksichtigen. Schließlich war Mähren die „Wiege“ des Vereins (S. 49). Schade, dass der Autor die spezifischen Probleme einzelner böhmischer Kronländer nicht explizit analysierte. Vor allem der mährische Ausgleich von 1905 hätte sicherlich mehr synthetisierende Aufmerksamkeit verdient.

 

Aus dem oben Erwähnten wird mehr als deutlich, dass beide Schulvereine von der gleichen ideologischen Welt der bürgerlichen Emanzipation ausgingen, deren untrennbarer Bestandteil der Nationalismus darstellte, und dass sie sich im gleichen liberal ausgerichteten Raum aktivierten, der für den Schulkontext im Cisleithanien prägend war. Doch trotz dieser Ähnlichkeiten waren ihre spezifischen Ausgangsbedingungen und auch ihre späteren Handlungsstrategien unterschiedlich. Bei ihrer Gründung im Herbst 1880 kopierte die ÚMŠ zwar die Organisationsstruktur des im Frühjahr desselben Jahres gegründeten DSV, sie unterschied sich allerdings hinsichtlich ihrer finanziellen, personellen sowie national-politischer Verankerung von den akademisch orientierten Führern des DSV, die sich vor allem mit der Schicht des Bildungsbürgertums identifizierten. Die Verteidigung der eigenen traditionell vorgegebenen Positionen und Werte beim DSV kollidiert dann mit der Forderung nach Gleichberechtigung im Schulwesen und hat somit die Emanzipationsbestrebungen der tschechischen Gesellschaft zur Folge. Eine systematische Analyse der sozialen Zusammensetzung der Mitgliederbasis beider Vereine in der letzten Phase der Monarchie wäre eine interessante Bereicherung der Publikation gewesen.

 

Der Autor legt überzeugend dar, wie sich beide Vereine ständig gegenseitig beobachteten und ihre Aktivitäten im Hinblick auf die Konkurrenz ausrichteten. Mit ihren Aktivitäten sowie der Art ihrer Finanzierung nahmen sie nicht nur am öffentlichen Leben teil, sondern sie beeinflussen auch das Privatleben der Bevölkerung, die in „alltäglichen Plebisziten“ (Renan) nämlich immer wieder über scheinbare Kleinigkeiten entscheiden musste und sich damit unmittelbar am nationalen Diskurs beteiligte. Gerade im Bereich des Schulwesens war es enorm schwierig, einen dritten und damit neutralen Weg zu finden. Deshalb konzentrierte sich der Kampf um den Schüler bald nicht nur auf die Schulen, sowohl die ÚMŠ als auch (ein wenig später) der DSV dehnten ihre Agenda sogar auf den Bereich der Vorschulerziehung aus. Im ideologischen Zusammenhang mit dem Nationalismus ging es darüber hinaus nicht nur darum, in welcher Sprache die Schüler die schulische Sozialisation beginnen und in den meisten Fällen daher auch abschließen, sondern auch darum, welche Seife oder Streichhölzer sie kaufen und welchen der Vereine sie dadurch finanziell unterstützen. Das Schlagwort der ‚Entnationalisierung‘ wurde zu einem emotionalen Slogan, der die große Mehrheit der Bevölkerung im Kampf um Bildung zu radikalisieren vermochte, sie jedoch auch dazu bewegen konnte, Opfer zu bringen. Spannend ist der Unterschied in der Strategie: Auf der deutschen Seite wurde die Entnationalisierung des Territoriums hervorgehoben, im tschechischen Fall hingegen die Entnationalisierung von Individuen. Dieser Unterschied widerspiegelte sich dann in der Zustimmung oder im Gegenteil im Misstrauen gegenüber den statistischen Daten, die während der Volkszählung erhoben worden sind.

 

Trotz zahlreicher Gemeinsamkeiten, Analogien und Ähnlichkeiten achtet der Autor bei seinen Analysen auf eine genauere Differenzierung. Ein bedeutender Unterschied besteht in religiösen Fragen und deren Verquickung mit dem nationalen Diskurs. Vor allem die Frage des sogenannten Arierparagrafen sorgte für interne Widersprüche innerhalb des liberal orientierten DSV. Im Endeffekt hatten solche Spaltungen die Entstehung von diversen konfessionell definierten, konkurrierenden deutschnationalen Schulvereinen, und somit logischerweise auch einen Verlust von Unterstützern und damit finanzielle Schäden für den DSV zur Folge. Im Gegenteil dazu gelang es der ÚMŠ, die auf einem ähnlich liberalen Fundament wie der DSV stand, sogar ausgesprochen antisemitische Kreise zu integrieren, da die tschechische Gesellschaft die deutsch-jüdische Symbiose innerhalb des konkurrierenden DSV deutlich wahrnahm. Erst 1910 kam es zur Spaltung der Kräfte infolge der Gründung des katholisch orientierten Schulvereins Svatováclavská matice školská, dessen Ziel allerdings eher eine Re-Christianisierung des Bildungswesens als radikale Umdefinierung des tschechischen Nationalismus war. In Anbetracht der nationalen Frage erhielt der agilere ÚMŠ in den verschärften nationalistischen Kämpfen um die Schule daher von seinem christlich orientierten Konkurrenten auf dem Gebiet des tschechischen Bildungswesens eindeutige Unterstützung. Dieses Beispiel zeigt exemplarisch die ideelle und ideologische Offenheit der ÚMŠ im Gegensatz zu DSV, der den Prinzipien des altösterreichischen Liberalismus treu blieb. Daher schien der tschechische Schulverein angesichts der Bedingungen der Modernisierung der bürgerlichen Gesellschaft und deren Nationalisierung erfolgreicher zu sein.

 

Auch wenn sich beide Vereine bei der Gründung verpflichten mussten, „unpolitisch“ zu sein, beweist Zvánovec überzeugend, dass dieser aufoktroyierte Grundsatz nicht zu erfüllen war. Von Anfang an waren mehrere hochrangige Funktionäre beider Vereine zugleich wichtige Politiker, sowohl auf kommunaler, als auch auf Landes- oder Reichsebene. So war František Ladislav Rieger etwa der erste Vorsitzende der ÚMŠ. Und genau an dieser Stelle zeigt Zvánovec einen weiteren wichtigen Unterschied: Während der DSV vor allem auf kommunaler Ebene Unterstützung suchte und fand, konnte der tschechische Verein ÚMŠ viel stärker von der Unterstützung auf der höchsten politischen Ebene profitieren. Somit gelingt es dem Autor, den Mythos vom „Österreich als Kerker der Nationen“ wieder einmal zu unterwandern. Die Beziehungen zwischen der Politik und den beiden Schulvereinen verliefen nicht nur auf personeller Ebene. Die Fähigkeit, etwa Sozialdemokraten oder umgekehrt die konservativen Kräfte zu integrieren, schien im Falle der ÚMŠ höher gewesen zu sein. Der DSV profitierte im Gegenteil von Beziehungen im Bereich des Schulwesens im Deutschen Reich, es ging insbesondere um den Alldeutschen Verband. Das Anbringen der deutschen schwarz-rot-goldenen Trikolore würde ich persönlich nicht nur als Sympathiebekundung für Großdeutschland oder für den Pangermanismus interpretieren, wie es die Funktionäre des ÚMŠ propagandistisch deklarierten. Eine solche Interpretation erscheint mir auch im Hinblick auf die Schlussfolgerungen des Autors fragwürdig. Ich würde eher zu der Deutung neigen, dass es sich um die Manifestation liberaler Traditionen handelte.

 

Das bedeutendste Ergebnis der Studie scheint mir folgendes zu sein: Ausgehend von der Beschreibung der Genese und Entwicklung beider Schulvereine hinterfragt der Autor die traditionelle und stark verwurzelte Vorstellung der tschechisch-deutschen Dichotomie und somit von zwei parallelen nationalen Bewegungen in den böhmischen Ländern, die sich nur in der Sprache unterschieden. Eine solche, auch im wissenschaftlichen Diskurs oft wiederholte Behauptung stützt sich meistens lediglich auf oberflächliche Bilder und Slogans, ohne im Hinblick auf das Detail jedoch differenzieren zu können. In diesem Zusammenhang ist die Studie von Zvánovec eine Herausforderung für die moderne Erforschung der tschechisch-deutschen Beziehungen. Zuerst sollte m. E. das Funktionieren und die Struktur der jeweiligen Gesellschaft als Ganzes generell erforscht werden, darauf aufbauend sollte den nationalen Reibungen Aufmerksamkeit geschenkt werden. Obwohl ich es zu schätzen weiß, dass das Buch in deutscher Sprache erschienen ist, befürchte ich, dass die Rezeption im tschechischen Kontext dadurch eingeschränkt wird. Angesichts der originellen Perspektive und des beobachtbaren Interesses an Schulthemen (siehe zum Beispiel die entstehende Datenbank von Schulgebäuden, https://www.skolnibudovy.cz/mapa), wäre das schade.

 

Übersetzung: Lukáš Motyčka

 

 

Mikuláš Zvánovec: Der nationale Schulkampf in Böhmen. Schulvereine als Akteure der nationalen Differenzierung (1880–1918). Berlin: de Gruyter, 2021, 281 S.


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