Es schreibt: Markus Grill

(E*forum, 1. 2. 2023)

In der Gedenkstätte für die Opfer der Gestapo Wien in der Salztorgasse 6 mahnen Verse von Berthold Viertel zur Erinnerung an jene Menschen, die hier zwischen 1938 und 1945 von den Nationalsozialisten inhaftiert und gefoltert wurden. Viertel selbst war nach Hitlers Machtergreifung 1933 aus seiner Wahlheimat Berlin geflohen. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte er in seine Geburtsstadt Wien zurück. An ihn erinnert heute eine Gasse im zehnten Gemeindebezirk. Sie führt durch eine kleine Wohnsiedlung, unscheinbar gelegen zwischen Laxenburger Straße, Südosttangente und dem Erholungsgebiet Wienerberg. „Ziemlich genau an dieser Stelle“, schreibt Katharina Prager einleitend in Berthold Viertel. Eine Biografie der Wiener Moderne, „wäre Viertel wohl auch im kollektiven Gedächtnis der ÖsterreicherInnen zu verorten – nur jenen bekannt, die die ‚Gegend‘ kennen.“ (S. 19) Das vielfältige literarische, essayistische, dramatische und filmische Werk des 1885 geborenen Schriftstellers und Regisseurs mag zwar nur noch KennerInnen bekannt sein. Gleichwohl zählt er nicht, darauf verweist die Autorin zu Recht, zu den gänzlich Vergessenen. Zumindest in der Exilforschung ist sein Name fest verankert. Außerdem ist ein umfangreicher Nachlass überliefert. Verwahrt wird er im Deutschen Literaturarchiv Marbach, immerhin „einer der wichtigsten Gedächtnisspeicher der deutschsprachigen Welt“ (ebd.).

 

Im Laufe von rund 50 Jahren sammelte Viertel zahlreiche Selbstzeugnisse an. Zusammengefügt und veröffentlicht hat er sie nie: Er ist ein „Autobiograf ohne Autobiografie“ (S. 28), wie Prager feststellt. Dem Germanisten Herbert Staud folgend, der Vorarbeiten zu den autobiographischen Dokumenten geleistet hat, fasst sie diese unter der Bezeichnung „autobiografisches Projekt“ (S. 21) zusammen. Es bildet den Ausgangspunkt ihrer Studie. Anders als es in einer „klassischen“ Biographie der Fall sein würde, fokussiert sie nicht Viertels „Handlungen, Werke und Wirkungen [diese und alle folgenden Kursivierungen im Original; M.G.]“ (S. 39). Die Autorin überschätzt ihren Gegenstand nicht. Ihre Grundthese ist nicht die des Exzeptionellen von Viertels künstlerischen und publizistischen Leistungen. Vielmehr betont sie seine Bedeutung als „typischen Repräsentanten eines sozialen Milieus“ (ebd.). Angelehnt an Allan Janiks und Steven Bellers Postulat der „kritischen Moderne“ (S. 22), zeichnet sie das Netzwerk eines intellektuell Oppositionellen im Wien der Jahrhundertwende nach. Dementsprechend bewegt sich das Buch zwischen Biographie und Epochenmonographie – eine Ausrichtung, auf die der Untertitel hindeutet.

 

Um „Berthold Viertels Leben und autobiographische Praxis im Kontext der zeithistorischen Entwicklungen zu analysieren“ (S. 41), schließt die Autorin Biographik mit kulturwissenschaftlicher Gedächtnisforschung kurz. Diese theoretische Verquickung ist eine große Stärke des Buches. Der Fokus auf sowohl individuelle als auch kollektive Erinnerungsarbeit zeigt Zusammenhänge auf, die oft unterbeleuchtet bleiben. In der Darstellung ist das autobiographische Material um 15 „Erinnerungsorte der Wiener Moderne“ gruppiert, was den Kapiteln im Hauptteil entspricht. Pierre Noras an sich schon breit gefasstes Konzept der lieux de mémoire wird von Prager weiter ausgedehnt. Dort, wo sie „biographische Erinnerungsorte“ (S. 39) wie „Studium“ (S. 228–244), „Familie Adler“ (S. 209–227), „katholische Dienstmädchen“ (S. 150–160) oder „Mitschüler Hitler“ (S. 184–195) definiert, entfernt sie sich vom gängigen Verständnis des Erinnerungsortes als kulturell bedeutungstragendem kollektivem Bezugspunkt der Vergangenheit. Letztlich ist das weniger eine inhaltlich-konzeptuelle denn eine terminologische Unregelmäßigkeit. Sie ergibt sich wohl aus der Schwierigkeit, alles relevante Material in eine gemeinsame Ordnung zu überführen. Auf den naturgemäß konstruktiven Charakter der gewählten Darstellung wird jedenfalls vorweg hingewiesen (vgl. S. 41).

 

Der „Dreh- und Angelpunkt der Darstellung“ ist Viertels „noch weitgehend unbehandelte Sozialisation im Wien um 1900“ (S. 39). Die grob chronologisch angeordneten Erinnerungsorte reichen daher nur bis ca. 1917, mit „Erster Weltkrieg“ (S. 310–331) als abschließendem Kapitel. Davor behandeln „Galizien“ (S. 129–138), „Jüdisches Wien“ (S. 139–149) und „Katholische Dienstmädchen“ das Aufwachsen in einer jüdischen Familie, „Sexuelle Emancipation“ (S. 245–267) die sexuelle Entwicklung vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Geschlechterordnung und „Karl Kraus“ (S. 268–290) die enge, lange anhaltende Freundschaft zum (kritisch) verehrten und geliebten Mentor. Weitere Kapitel sind „Moderne in Wien“ (S. 99–117), „Monarchisches Gefühl“ (S. 118–128), „Deutsche Kultur“ (S. 161–172), „Luegers Wien“ (S. 173–183), „Jugendliche Kulturanarchisten“ (S. 196–208) und „Theater“ (S. 291–309). Zusammengenommen ergeben sie ein eindrückliches Lebensbild Viertels in seiner Zeit. Dass es unabgeschlossen und offen bleibt, ist eine Qualität, die sich dem nicht-linearen Ordnungsprinzip verdankt. Der Autorin ging es eben nicht darum, eine durchgängige Lebensgeschichte zu erzählen, in der Lücken gestopft und Unebenheiten geglättet würden. Für die wissenschaftliche Beschäftigung insbesondere mit Viertel ist das geboten, da seine Selbstdokumentation sehr heterogen und fragmentarisch vorliegt. Prager: Es „sollen alternative Lesarten offengehalten werden und Widersprüche, Fragen und Leerstellen sowohl in Viertels Darstellungen als auch in der Forschungstradition aufgegriffen und aufgezeigt werden“ (S. 41).

 

In dieser Hinsicht wendet sich das Buch primär an wissenschaftlich orientierte LeserInnen. In der Einleitung finden sie Forschungsstand, Nachlasssituation, Ziel, Methodik und Aufbau der Studie beschrieben. Für nicht-wissenschaftlich Interessierte mag der Einstieg zu ausführlich ausfallen. Zumal ganz am Anfang des Buches ein zehnseitiger chronologischer Überblick (S. 7–16) (de)platziert ist. Für den eigentlichen biographischen/monographischen Teil können sie direkt auf Seite 99 einsteigen; bzw. auf Seite 47, denn den 15 Erinnerungsorten sind zwei Kapitel vorangestellt, die sich Viertel ab ca. 1917 bis zu seinem Tod 1953 widmen. Die Gliederung ist hier eine zeitliche: Das Kapitel „Außerhalb Österreichs“ (S. 47–74) befasst sich mit den Jahrzehnten der Migration und des Exils bis 1948, „Innerhalb Österreichs“ (S. 75–96) mit den letzten Lebensjahren.Verglichen mit der umfänglichen Einleitung nimmt sich das abschließende Kapitel mit zweieinhalb Seiten sehr knapp aus. Konsequenterweise ist es mit „Nachsatz“ (S. 333–335) überschrieben und strukturell nicht dem Hauptteil, sondern dem Anhang zugeordnet. Dort finden sich unter anderem eine Übersicht über die vorhandenen Archivalien (S. 336–341) sowie ein Personenregister (S. 359–364).

 

Im Klappentext wird Viertel als „wesentlicher Akteur und Netzwerker der Kulturszene Wiens […] sowie als Repräsentant einer kritischen Modernität“ angekündigt. Eine These, die auf den gut 360 Seiten überzeugend dargelegt wird. Viertels hochreflexive anti-illusionistische Erinnerungen an die Wiener Jahrhundertwende – von Prager wiederum kritisch kommentiert und kontextualisiert – können populären Verklärungen wie Stefan Zweigs Die Welt von gestern (1942) mit Bereicherung gegenübergestellt werden. Damit reiht sich das Buch in die Tradition von wissenschaftlichen Gegenerzählungen vom „anderen Wien um 1900“ (Maderthaner/Musner 1999). Sie zielen auf eine Korrektur jenes romantisierenden Fin-de-Siècle-Narrativs, das in der historischen Betrachtung nach wie vor das Stadtimage dominiert.

 

 

Katharina Prager: Berthold Viertel. Eine Biografie der Wiener Moderne. Wien u.a.: Böhlau Verlag, 2018, 364 S.


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