Es schreibt: Oliver Bentz

(16. 3. 2022)

Nach dem Tod Anton Kuhs im Januar 1941 schrieb der Schriftsteller Franz Werfel in seinem Nachruf in der New Yorker Emigrantenzeitung Aufbau: „Mit ihm ist vielleicht der letzte ‚Kaffeehaus-Literat‘ dahingegangen. Wir werden nimmer seinesgleichen sehen. Denn für Seinesgleichen gibt es keine Reservation, sondern höchstens Konzentrationslager. Er stammte aus dem Wien Franz Josefs, jener Wunderzeit, die er selbst „Das Palatschinquecento‘‘ getauft hat. An dieser Welt hing er mit bedingungslosem Patriotismus, denn sie hatte den Geist nicht gestört, weder durch Verlockung noch durch Vernichtung. [...] In unserem Gedächtnis lebt er und leben viele seiner staunenswerten Worte weiter. Möge sich in besseren Tagen eine Hand finden, die sie sammelt und überliefert.“

 

Über viele Jahrzehnte fanden sich solche Hände kaum, war der 1890 in Prag geborene Publizist und Feuilletonist Anton Kuh eher ein Geheimtipp unter denen, die sich für den blühenden Feuilletonismus in den deutschsprachigen Metropolen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts begeisterten. Während die Werke von Kuhs Kollegen aus dem Feuilleton wie Alfred Polgar oder Karl Kraus schon in Büchern leicht zugänglich waren, gab es von Kuh nur wenige Textsammlungen, ganz zu schweigen von monographischen Darstellungen. Dies änderte sich erst im letzten Jahrzehnt, in dem sich Literaturwissenschaftler daran machten, Leben und Werk Anton Kuhs wieder zu entdecken. So ging Walter Schübler die Mammutaufgabe an, die unzähligen Feuilletons des Publizisten für eine mehrbändige Werkausgabe aus den Zeitungsarchiven Europas zu bergen – und eine komprimierte Anton Kuh-Monographie des Schreibers dieser Zeilen sowie eine dickleibige Biographie Schüblers brachten Licht in Leben und Werk des Autors, der zeitlebens aus einer Position der weitgehenden ideologischen und intellektuellen Unabhängigkeit gegen Kleingeisterei, Totalitarismus, Faschismus und Antisemitismus anschrieb.

 

Schon in den 1920er Jahren, die er großenteils in Wien und Berlin verbrachte, sah Kuh, der sowohl gegen die rechten „Schollenschwindler“ als auch gegen die „links-doktrinären Aktivisten“ heftig austeilte – Alfred Kerr bezeichnete ihn deshalb als „Hirnzigeuner von lukianischem Geblüt“ –, das Unheil des Nationalsozialismus heraufziehen. In seinen Artikeln schilderte er den Chauvinismus sowie die latent vorhandene faschistische und antisemitische Gesinnung in Teilen der Bevölkerung. Als 1933 die Hakenkreuzler, welche, so Kuh, „in der Menschheit nur mehr Oben und Unten, Sieger und Besiegte und Herrschaft und Hörige” sehen, die Macht übernahmen, kehrte er nach Wien zurück. Auch hier stellte er sein publizistisches Wirken in den Dienst des Kampfes gegen die Nazis und ab 1937 besonders gegen den „Anschluss“ Österreichs. Bis zu seinem Tod im amerikanischen Exil sollte er gegen die „Hitlerei“ anschreiben.

 

Tief in die Texte Anton Kuhs ein dringt jetzt Franziska Geiser mit ihrer literaturwissenschaftlichen Untersuchung Das Zeitalter des Infantilismus. Zu Anton Kuhs Kultur- und Gesellschaftskritik (Göttingen: Wallstein Verlag, 2020), in der sie ein wiederkehrendes Denkmuster aufzeigt, mit welchem Kuh die ideologischen Verwirrungen seiner Generation zu fassen versucht: Er diagnostiziert ‚Infantilismus‘ als die Krankheit seiner Zeit und propagiert die Herausbildung einer erwachsenen, eigenständigen Identität als Weg zur Heilung. Vor dem Hintergrund dieser Argumentation arbeitet die Autorin Kuhs ideengeschichtliche Position heraus, welche sich insbesondere am heute weitgehend vergessenen Psychiater und Anarchisten Otto Gross, mit dem Anton Kuh befreundet war, sowie an Ludwig Börne, Friedrich Nietzsche und Frank Wedekind orientiert. Nach Anton Kuh ist der Mensch der Moderne unglücklich, weil er sich stetig in einem inneren Konflikt befindet, zwischen seinem eigentlichen Ich und einer von außen auf ihn einwirkenden autoritär geprägten Identität, die ihn an einer freien Entfaltung seines Lebens und seiner Gedanken hindert.

 

Formuliert Theodor W. Adorno später den epochalen Satz „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, der dazu auffordert, sich das falsche Leben nicht als richtiges verkaufen zu lassen und nicht auf die hereinzufallen, die sagen, so wie es ist, ist es schon recht, propagiert Anton Kuh zu seiner Zeit die Rebellion gegen alle Machtstrukturen und sieht sein Ideal in einem befreiten Menschen, der auf von außen aufgedrängte Krücken wie Moral und Ideologie verzichten kann, da er aus sich selbst heraus sieht, was gut und was schlecht ist. In einem Menschen, der dazu fähig ist, sieht er den befreiten, 'erwachsenen' Menschen. Jene aus der Mehrheit seiner Zeit aber, die das nicht wollen oder vermögen, die die Zeitkrankheit am zerrissenen Ich verleugnen, sich in vermeintliche Gewissheiten und Ideologien flüchten und ihren Selbsthass auf andere projizieren, erachtet er als pubertär und infantil.

 

Diese beiden Typen, so die Autorin, „bevölkern Anton Kuhs Vorstellungswelt und die Typologie hilft ihm, seine Zeit zu erfassen und sich selbst politisch zu positionieren. Sei es in der Frage nach möglichen Identitätsmodellen des Judentums in der Moderne, innerhalb der eigenen Schicht, der urbanen Intelligenz, oder im Kampf gegen Faschismus und Antisemitismus.“ (S. 15) – Gebiete, die breiten Raum in Anton Kuhs Werk einnehmen. In drei Kapiteln mit den Überschriften Jüdische Söhne und deutsche Buben (S. 31), Der Geistige und der Intellektuelle (S. 157) sowie Nationalsozialismus als infantile Bewegung (S. 293), klopft Geiser Anton Kuhs Schaffen gemäß der herausgearbeiteten Weltsicht Kuhs ab.

 

Detailreich arbeitet die Autorin dabei die Quellen heraus, aus denen sich Kuhs Weltsicht speiste, zeigt seine Nietzsche-Rezeption und wie er sich in zahlreichen Schriften gegen Nietzsches Vereinnahmung durch die deutsche Rechte wehrte. Sie legt offen, wie wichtig für Anton Kuh Ludwig Börne war, dem er 1922 unter dem Titel Börne der Zeitgenosse eine von ihm zusammengestellte und mit einem blitzgescheiten Vorwort versehene Werkauswahl widmete und in dem er den hervorstechenden Vorkämpfer für die geistige und soziale Freiheit in Deutschland, den herausragenden Kritiker des engstirnig-deutschen, patriotischen Spießers und den Typus jenes politischen, engagierten Schriftstellers sah, den Heinrich Mann in seinem Zola-Essay 1915 beschrieben und gefordert hatte.

 

Dem Verhältnis Anton Kuhs zu Karl Kraus – eine der interessantesten Streitereien der Literaturgeschichte – räumt Franziska Geiser breiten Raum ein. Für Kuh verkörperte Kraus all das, was er verabscheute, sodass er ihn in Schrift und gesprochenem Wort immer wieder angriff. „Kuh zeichnet ihn“, so führt die Autorin aus, als „rechthaberisch, besserwisserisch, als einen, der seine Unsicherheit hinter intellektuellem Überlegenheitsgebaren versteckt (…), als „Intelligenzplebejer“, der das Leiden im Ich in intellektuelles Gebaren ummünzt und seinen Selbsthass auf das Judentum überträgt.“ (S. 365) Obwohl Kraus Anton Kuh in der Fackel namentlich nur ein einziges Mal erwähnte, attackierte er ihn, ohne den Namen zu nennen, in zahlreichen Artikeln und unterstellte ihm Käuflichkeit und Bestechlichkeit. Der Kleinkrieg der beiden, der das Wiener Publikum amüsierte, endete in einem von Kraus angestrengten Gerichtsprozess, der hunderte von Aktenseiten füllt. Neben intellektueller Auseinandersetzung war in diesem Verhältnis sicherlich die persönliche abgrundtiefe Abneigung, die beide füreinander empfanden, Antrieb ihres Handelns.

 

Die Autorin zeigt auf fast 400 Seiten, dass die Interpretation von Kuhs über Jahrzehnte entstandenen Essays, Feuilletons, Glossen oder Aphorismen vor dem Hintergrund der angenommenen Unterscheidung von „Infantilität“ und „Erwachsenheit“ durchaus funktioniert und ihren Reiz hat, wobei sie nicht übersieht, dass „sein Gesellschaftsentwurf vereinfachend und teilweise klischiert [ist], die Typenbildungen sind holzschnittartig und nicht frei von Widersprüchen. […] Und doch, die Physiognomie seiner Zeit, die Kuh in seinem Werk entwerfen will, ist alles in allem gut getroffen. Seine politischen Analysen sind scharf und oft treffend.“(S. 368) So kann Franziska Geisers material- und kenntnisreiche Darstellung dem Leser nach der Lektüre von Anton Kuhs Texten interessante Einsichten bringen.

 

 

Franziska Geiser: Das Zeitalter des Infantilismus. Zu Anton Kuhs Kultur- und Gesellschaftskritik. Göttingen: Wallstein Verlag, 2020, 390 S.


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