Es schreibt: Ingeborg Fiala-Fürst

(24. 2. 2021)

Ich gebe zu, dass meine Beziehung zu Stifter schon immer eher lau als innig war, ich erinnere mich, dass ich sogar einmal bei einer lange zurückliegenden Konferenz über österreichische Literatur (irgendwann Anfang der 90er Jahre in Klagenfurt) in einer Diskussion über Stifters malerisches Werk im Publikum halblaut die Bemerkung fallen ließ, dass Stifter vielleicht bei diesem Handwerk bleiben und gar nicht erst mit dem Schreiben hätte beginnen sollen. Die anwesenden Stifterianer wechselten mit mir fortan kein Wort mehr. Damals war ich ein vorlauter, kaum dreißigjähriger germanistischer Knirps, der ich – in stifterischen Angelegenheiten – bis heute geblieben bin. Allerdings pflichte ich heute (mit abgestumpften Kanten) nur in meinen eigenen Bart hinein – sodass es niemand hört – Friedrich Hebbel bei, der dem Leser, der freiwillig den Nachsommer bis zu Ende liest, „die Krone von Polen“ (S. 205) versprach.

 

Umso mehr freute ich mich, das Buch meines lieben Freundes Peter Becher lesen zu dürfen, Adalbert Stifter: Sehnsucht nach Harmonie, ins Tschechische übersetzt von einem weiteren guten Freund, Václav Maidl – denn wenn ich auf meine alten Tage noch Stifter auf den Geschmack kommen soll, dann wäre jetzt wohl der rechte Zeitpunkt (schon mehrmals hörte ich die Empfehlung, dass man den erwähnten Nachsommer am besten genau an der Schwelle zum Pensionsalter lesen sollte; ich glaube, auch Peter Härtling empfiehlt dies in seinen Memoiren aus eigener Erfahrung), und dann sind diese beiden, der Autor und der Übersetzer, für mich die besten Vermittler.

 

Ich habe mich nicht geirrt! Das Buch von Peter Becher bietet – und das hätte ich in Sachen Stifter nie erwartet – eine kurzweilige Lektüre, die die Leser nicht durch großen Umfang, weitschweifige Schilderung der Familienverhältnisse, Umstände, Liebesgeschichten und erotische Abenteuer, Beziehungswirrnisse, Wohnorte, Arbeits- und Freizeitverhältnisse, Launen, psychische Zustände, Krisen und Schreibfieber ermüdet. All das findet sich zwar in Bechers Buch – wie könnte es anders sein bei der Biografie eines Autors, der sein ganzes Leben lang als Musterbeispiel der Biedermeiergemütlichkeit galt und dann dennoch (oder gerade deshalb?) am Ende (offenbar) Selbstmord beging – aber es wird schwungvoll, knapp und flüssig präsentiert, sodass der Leser den Eindruck bekommen kann, er läse einen fesselnden und sogar spannenden Roman über das Leben eines österreichischen Klassikers, ohne dass der Literaturwissenschaftler (der in eben diesem Leser steckt) übermäßige Angst haben müsste, die Fakten könnten durch das Fabulieren deformiert werden.

 

Bechers Biografie öffnet sich außerdem für weitere Genres: Sie ist zugleich ein Bericht über Stifters Nachleben, nämlich eine Ansicht von Stifters Memorabilien – in seiner Geburtsregion Šumava/Böhmerwald und in österreichischen Städten (Kremsmünster, Wien, Linz), und oft auch ein Reiseführer durch die südböhmischen und niederösterreichischen Landschaften der damaligen und heutigen Zeit (vor und nach der Samtenen Revolution, die die Stacheldrahtgrenze beseitigte, welche die Landschaft des Böhmerwalds durchtrennt hatte, und damit den Lesern von beiden Seiten des gefallenen eisernen Vorhangs ein Treffen mit und dank Stifter ermöglichte). Diese Herangehensweise erlaubt es dem Autor, der keine „wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur“ schreiben wollte (die ihm jedoch vollständig bekannt ist und die er im Anhang vollumfänglich auflistet), sondern sich „an den interessierten Leser wendet, der einen Zugang zu Stifters Leben und Werk und zur Landschaft, in der er lebte, schrieb und malte, sucht, eine Schilderungen mit zahlreichen Zitaten aus Stifters Erzählungen, Romanen, Tagebüchern und Korrespondenzen zu verweben, ohne dass er langwierige methodologische Erwägungen und Begründungen bräuchte, ob und inwieweit diese Texte „zulässige“ Quellen für das Verfassen einer Biografie sein dürfen.

 

Eigene kurze, doch prägnante Interpretationen ausgewählter Erzählungen sowie der beiden großen Romane (über die sich vor allem die Studenten freuen werden, die nicht immer bereit sind, den ganzen Stifter im Original zu lesen – ach, wie gut ich sie verstehe!) sind ein weiterer Genresplitter in Bechers Buch, und deutlich wird auch das essayistische Leitmotiv der deutsch-tschechischen Beziehungen, die sich um Stifter herum entsponnen (Becher erinnert z. B. an die zwei inhaltlich äußerst unterschiedlichen Feierlichkeiten anlässlich des 70. Jahrestags von Stifters Tod: 1938 und 1939, sowie an den verdienstvollen, jedoch national gefärbten Anteil August Sauers an der Neuentdeckung von Adalbert Stifter Anfang des 20. Jahrhunderts, an Josef Mühlberger und seine Zeitschrift Witiko, an die Instrumentalisierung Stifters in der Zeit des Nationalsozialismus und schließlich an die gemeinsamen tschechisch-deutsch-österreichischen Stifter-Projekte der letzten Jahrzehnte).

 

Hauptziel des Stifter-Biografen (der mehr als 200 Jahre nach der Geburt des Autors schreibt) ist es, das feierliche und zu idyllischen Darstellungen neigende Porträt des Klassikers zu korrigieren, wie es der Autor selbst in seinen stilisierten Erinnerungen und Korrespondenzen sowie auch seine ersten Biografen und Bewunderer noch im 19. Jahrhundert zeichneten, insbesondere der oft zitierte Johann Aprent, und dem modernen Leser ein „ganz anderes Stifterbild, von dem sich die idyllische Verklärung wie eine Maske abnehmen lässt“, (S. 19) zu bieten. Darin ist sich Becher z. B. mit den Autorinnen neuer Biografien und Abhandlungen über eine andere, um eine Generation jüngere österreichische Klassikerin einig, Marie von Ebner-Eschenbach (vgl. z. B. Daniela Strigl: Berühmt sein ist nichts. Wien, 2019, und Maria Piok / Ulrike Tanzer / Kyra Waldner (Hg.): Marie von Ebner Eschenbach. Schriftstellerin zwischen den Welten. Innsbruck, 2018), und ebenso ähnlich ist auch Bechers Behutsamkeit und Sensibilität, mit der er diese Maske herunternimmt, ohne Wunden zu verursachen. Nicht einmal durch die kleinste Andeutung ironisiert oder belächelt er die längst verblichenen Werte der alten Biedermeierwelt, er versucht nicht, Stifter nackt auszuziehen und sein Inneres mit den Methoden einer (ebenfalls schon veralteten) literarischen Psychoanalyse zu erforschen, er ist weder Bilderstürmer noch moderner Besserwisser (wie etwa der zitierte Thomas Bernhard, S. 224), sondern ist geduldiger Erzähler von Stifters Leben und Werk, welche er sorgfältig in den Kontext sowohl der Stifter-Zeit als auch seiner Nachwelt setzt.

 

In der tschechischen Übersetzung von Václav Maidl ist das Buch ein Lesegenuss, flüssig und kurzweilig, wenn dem Übersetzer auch hier und da einige Kolloquialismen aus der Jugendsprache sowie manchmal zu viele Passivkonstruktionen in den Text geraten sind, auch der Wechsel der Zeiten stört an manchen Stellen den Leserhythmus. Diese Kleinigkeiten werden jedoch durch die sorgfältige Recherche und die Verwendung bereits existierender Übersetzungen ins Tschechische aufgewogen (die der Übersetzer auf S. 239ff. auflistet), und dies ist eine übersetzerische Sorgfalt, die die Leser für gewöhnlich gar nicht bemerken und folglich auch nicht würdigen – weshalb ich sie hiermit daran erinnere.

 

Übersetzung: Lena Dorn

 

 

Peter Becher: Adalbert Stifter – Touha po harmonii: Biografie. Übersetzt von Václav Maidl. Horní Planá: Srdce Vltavy, 2019, 268 S.

Peter Becher: Adalbert Stifter: Sehnsucht nach Harmonie. Eine Biografie. Regensburg: Pustet, 2005, 253 S.


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