Es schrieb: Walther Victor

(26. 9. 2018)

Der neunte Roman von Ludwig Winder (1889–1946), Redakteur der Prager deutschsprachigen Zeitung Bohemia, mit dem Titel Der Thronfolger, der im November 1937 erschien, wurde von der deutsch-tschechischen (staatsbildenden) Kritik einstimmig positiv aufgenommen, jedoch auch einmütig als gelungener historischer Roman, der das Leben von Franz Ferdinand von Österreich-Este schildert. Uneinig war man sich einzig darin, ob man in dem Hauptprotagonisten eine tragische Figur sehen sollte oder – im Einklang mit dem offiziellen tschechoslowakischen Narrativ – einen der Hauptvertreter des „morbiden Österreichs“, wie die Hauptfigur des Romans von Paul Leppin analysiert wurde. Aus einer ganz anderen Perspektive beschäftigte sich in der luxemburgischen deutschsprachigen sozialdemokratischen Zeitung Escher Tageblatt Walther Victor (1895–1971), der sich die Frage stellte, inwiefern das Werk mehr als zwanzig Jahre nach dem Attentat von Sarajevo aktuell sein könne. Der gesamte Artikel, der hier nun abgedruckt wird, oszilliert um die Frage, die sich in der Überschrift Grund der Gründe verbirgt, um die Frage also, „wie es zum Weltkriege und damit zu all dem Elend noch unserer heutigen Tage kam.“

 

In Anbetracht dessen, dass die Verbreitung von Winders Werken im Nazideutschland wegen der jüdischen Herkunft des Autors nicht in Frage kam und Der Thronfolger in Österreich aufgrund des Traditionsschutzgesetzes Ende 1937 verboten wurde, repräsentierte die Stimme von Walther Victor, neben den Bewohnern der Böhmischen Länder (eine tschechische Ausgabe erschien in der Übersetzung von František Šelepa in der Reihe Knihovna Lidových novin / Die Bücherei der Volkszeitung im April 1938), die zweitgrößte Gruppe unter den Leserinnen und Lesern des Romans, und zwar die deutschen Emigranten. Victor, der einer jüdischen Familie aus Posen entstammte, gehörte nicht zu den prominentesten, aber auch nicht zu den unbedeutenden Autoren. Zu diesem Zeitpunkt hatte er schon eine beachtliche politische Karriere in den Reihen der SPD zu verzeichnen, deren Mitglied er nach seiner Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg geworden war und für die er 1926 bis 1931 im Stadtrat von Zwickau saß.

 

Seine politischen Interessen waren zwangsläufig mit seinem Beruf als Journalist verknüpft, nach und nach war er für verschiedene Parteiblätter als Redakteur tätig: in Hamburg, im sächsischen Zwickau und schlussendlich in Berlin, wo er Hitlers Machtübernahme erlebte. Zwei Jahre lang verbrachte er in der Illegalität, bis er 1936 für kurze Zeit in Haft kam. Noch im selben Jahr gelang ihm die Emigration in die Schweiz. Obwohl er dort mehrere Jahre als Redakteur mit der apolitischen Zeitschrift Naturfreund zusammengearbeitet hatte (Victor war von der Welle des Nachkriegsvitalismus beeinflusst und engagierte sich in der Wandervogel- und Naturfreundebewegung), wurde er 1938, kurz nach der Veröffentlichung seiner Rezension zu Winders Buch, aufgrund seiner politischen Aktivitäten dazu gezwungen, das Land wieder zu verlassen. Die letzten Monate vor Kriegsbeginn verbrachte er in Luxemburg, wo er eben als Redakteur für das Escher Tageblatt tätig war, später ging er über Frankreich in die USA.

 

Doch seine größten Erfolge feierte er erst nach der Rückkehr aus der Emigration in die Sowjetische Besatzungszone 1947 (nun schon naturgemäß in den Reihen der SED). Im Rahmen des Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands gehörte er zu den Initiatoren der Gründung eines Deutschen Schriftstellerverbands. Nach dessen Gründung wurde er zu seinem Vorsitzenden und engagierte sich vor allem in der literarischen Nachwuchsförderung. Neben seiner bisherigen Tätigkeiten als Publizist und Kritiker war er auch als Herausgeber tätig. Er gab Volkslesebücher heraus, meist an die Jugend gerichtet, und setzte sich für die Popularisierung klassischer literarischer Werke ein, in erster Linie natürlich jener des Marxismus-Leninismus (schon 1937 führte ihn übrigens eine Friedrich-Engels-Spurensuche nach London), erwähnenswert ist an dieser Stelle vor allem die seinerzeit sehr beliebte Reihe Ein Lesebuch für unsere Zeit. Doch zu Ludwig Winder kehrte Victor nicht noch einmal zurück und so ist es zu einer zweiten Ausgabe von Der Thronfolger erst 1984 dank Kurt Krolop gekommen ... 

 

Ladislav Futtera

 

Übersetzung: Martina Lisa

 

 

Der Grund der Gründe

 

„Nicht das Gemeine stieß ihn ab, nicht vor dem Gemeinen fürchtete er sich, sondern vor der Gemeinschaft“.

 

Die Worte stehen in einem Buche, über dessen spätes Erscheinen man sich wundert, und das dennoch in unseren Tagen unerhört aktuell anmutet. Es ist eine Biographie jenes Mannes, dessen Ermordung am 28. Juni 1914 zum äußeren Anlaß des Weltkrieges wurde, es ist die Lebensgeschichte des Erzherzogs Franz Ferdinand von Österreich („Der Thronfolger“ von Ludwig Winder, Humanitas Verlag Zürich). Dieses Buch, geschrieben von einem Manne, der seine Kunst der Beobachtung komplizierter Charaktere, der Entschleierung psychischer Geheimnisse bereits an einer großen Anzahl anderer Werke unter Beweis gestellt hat, gibt in der Form eines fesselnden Romans die notwendige Ergänzung zu all den vielen literarischen, politischen und sozialen Untersuchungen, die sich mit dem Grund der Gründe: der Frage, wie es zum Weltkriege und damit zu all dem Elend noch unserer heutigen Tage kam, beschäftigen. Denn hier geht es nicht um weltwirtschaftliche Zusammenhänge, nicht um Theorien über den Imperialismus, hier wird nicht von der politischen Landkarte ausgegangen, sondern ins menschliche Zentrum selbst vorgestoßen, an einem einzigen Manne, seinem Leben, seinem Wesen durch eine meisterhafte Analyse seiner Natur all das abgeleitet, sichtbar gemacht, was zu der furchtbaren Weltkrise geführt hat. Dieser Mann ist gleichzeitig auch das erste weithin sichtbare Opfer: das Gesetz der Tragödie wird zu dem einer irdischen Gerechtigkeit, das Buch aber, das uns davon erzählt, zu einer geradezu erschütternden Argumentation für die Demokratie, für die Gemeinschaft der Menschen und Völker, für den Frieden. Darum ist dieses Buch, das der Verfasser bescheiden einen Roman nennt, eine eminent politische Angelegenheit, ein Lehrbuch wider jenen Geist, dem sich alles Unheil unserer Tage verdankt.

 

Die Geschichte fängt mit der Mutter an, einer Prinzessin Maria Annunciata von Bourbon-Sizilien, die später den Erzherzog Karl Ludwig, einen Bruder des Kaisers Franz Joseph von Österreich heiratet. Dieser Mutter gerät das erste Kind aus dieser Ehe nach: es ist eine Frau von wahrhaft mörderischem Charakter, eine Frau, deren Ideal in der Tat ihres Vaters bestand, der einmal hatte 20000 Untertanen zusammenschießen lassen, weil sie nicht so wollten wie er. Diese Frau, in der sich die Lungenschwindsucht mit hemmungslosem, ja man muß schon sagen: wahnwitzigem Ehrgeiz paart, pflanzt in ihren Erstgeborenen all diese Eigenschaften ein, die sie selbst beherrschten. Sie selbst ging unter, weil ihre Leidenschaften sie verzehrten, aber ihr Sohn setzte durch, was ihr Ziel war. „Franz Ferdinand, der ein kaum lebensfähiges Kind und bis ins reife Mannesalter ein schwindsüchtiger Todeskandidat gewesen war“, wurde „gesund und stark, breitschultrig und gewalttätig“. Wie er es ward, das erfahren wir aus einigen hundert Seiten dieses Buches. Ein Mensch bildet sich, der als Typ jener Klasse von absolutistischen Naturen gelten kann, die nichts, aber auch nichts kennen als die eigenen machtlüsternen Pläne, die eigenen Neigungen, für die der Mitmensch nur Objekt ist, die die Völker als ihr Eigentum betrachten, jedes Menschenleben außer dem eigenen für wertlos halten, die, selbst unermeßlich reich, nicht ahnen, „daß es Millionen Menschen auf der Erde gab, die mit den geringsten Abfällen seiner Tafel glücklich gewesen wären, daß es überall Verzweifelte gab, die hungerten, Unglückliche, die obdachlos unter den Brücken der Großstadt in den unterirdischen stinkenden Kanälen schliefen“. Und der nur eins kennt: Schießen, Ausrotten, Töten.

 

Gibt es denn solche Menschen, denkt der schaudernde Leser dieses Lebensberichtes?!? Ist es denn möglich? Wir erfahren aus dem höchst verdienstlichen Buche die grauenhafte Tatsache, daß der Mann, der durch seinen Tod den größten Weltbrand aller Zeiten entfesselte, nichts sehnlicher gewünscht hatte, als dies Ziel lebend zu erreichen. Als mit dabei zu sein, wenn das große Schlachten begann. Und daß also kein Menschenleben unwürdiger war, um dafür das Leben von Millionen aufs Spiel zu setzen. Bei seinem ersten Eintritt ins selbstständige Handeln, sagt der Thronfolger zu einem Beamten: „Wissens, ich trau keinem Menschen. Wer sich auf andere verlassen tut, ist schon verloren!“ Diese Devise der Menschenfeindschaft bewährt sich, nachdem es auch einem Erzherzog nicht erlaubt ist, mitten im Frieden auf Menschen zu schießen, zunächst an allen anderen Lebewesen. „Auf der Treibjagd tobte er seine Mordlust aus. Der Regimentskommandeur erschrak, als er den jungen Erzherzog auf der Jagd beobachtete.“ Von dieser ersten Gelegenheit an, gibt es kein Halten mehr. „Wütend nahm er an jedem Ort, sogar auf dem Schiff, sein Gewehr und zielte, wütend schoß er nach jedem Tier, das er sah.“ Überfallen von der ererbten Krankheit, wird es nur schlimmer. Da „zielte er auf dem Ruhebett (!) durch das Fenster nach einem Vogel und schloß befriedigt die Augen, wenn das getroffene Tier ins Meer stürzte.“

 

Wie wirkt sich so ein – kann man noch sagen: Mensch? – aus, wenn er politischen, leitenden Einfluß erhält? Die Antwort gibt sich selbst. Furchtbar! Freunde hat er nicht. („Ein guter Diener“, sagt er einmal, „ist vielleicht wertvoller als ein guter Freund.“) Schon seine militärischen Vorgesetzten sind entsetzt über den jungen Mann. Ein Wüterich, sagt die Garnison, in der er lebt. Der alte willensschwache Kaiser aber, auf den er immer stärker Einfluß zu nehmen bemüht ist, stöhnt auf unter dieser zu allem Bösen neigenden Natur. Der Krieg, der „so dringend notwendige Krach“, erscheint ihm viele Jahre vorher bereits als sein eigenstes politisches Ziel. 1909 bereits erklärt der Chef des österreichischen Generalstabes dem alten Franz Joseph: „Majestät, der Thronfolger ist wie ich von der Notwendigkeit des Krieges überzeugt!“ Und wenn diese Bestie in Menschengestalt aus dem Audienzzimmer bei seinem Onkel heraus ist, dann seufzt der Kaiser, der doch gewiß auch kein Engel war: „Was für ein Mensch, was für ein Untier, was für ein gefährlicher Narr!“ Jedem mißtrauend, jeden gegen den andern hetzend, die verschiedenen Völker Österreich-Ungarns gegeneinander ausspielend, intrigierend, wo nur immer möglich, nur das eine einzige Ziel vor Augen, dabei selbst feige, erbärmlich zitternd in der Stunde der Gefahr und auch darin ein getreues Abbild all solcher Geißeln der Menschheit, den Tod des Kaisers herbeisehnend, um dann den Tod der Millionen um so sicherer erleben zu können, so geht dieser Franz Ferdinand der Kugel entgegen, die für ihn gegossen ist.

 

Das Buch, in dem wir dies alles lesen, vermeidet jede Schlußfolgerung. Es schildert nur, es ist wirklich insofern ein Roman. Es will das Ende als Ausgang im Sinne der klassischen Tragödie darstellen, an deren Ende das Eingreifen einer überirdischen Schicksalsmacht den dramatischen Schlußpunkt setzt. Aber selbst hier können wir uns nicht als Zuschauer bei einer bewegten Schauspielvorstellung beiseite stellen: denn in den Schüssen von Sarajewo wird uns nur die Wahrheit offenbar, daß Gewalt immer neue Gewalt nur herausfordert, daß es kein blindwaltendes Geschick war, sondern der eigene Dämon, der Franz Ferdinand tötete. Der Mann, der die Gemeinschaft haßte, hat noch sterbend erreicht, was ihm wollüstig vorschwebte: die allgemeine Vernichtung. Aber sein Leben und sein Tod ist nur ein neuer Beweis dafür, daß der Grund der Gründe nicht nur in der Dynamik der materiellen Tatsachen liegt, sondern vor allem auch in der Natur des Menschen. Für diese Lehre muß man dem Verfasser des ebenso gründlichen wie erregenden Buches dankbar sein.

 

Walther Victor

Escher Tageblatt, 27. 11. 1937


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