Es schreibt: Radek Malý

(15. 3. 2018)

Der Name des Pragers Victor Hadwiger (1878 Prag – 1911 Berlin) kam im tschechischen Umfeld bislang vor allem in Anthologien zu deutsch schreibenden Autoren aus Böhmen vor. Eine Ausnahme stellt der Band mit dem Titel Abraham Abt dar, der in der Übersetzung von Vladimír Lexa und mit einem Nachwort von Ludvík Kundera bereits im Jahr 1994 erschien, für diesen Schriftsteller ein eher untypisches Buch: Es handelt sich um einen Roman, Hadwiger jedoch war zu seiner Zeit als Dichter bekannt. Ende 2016 gab der Prager Franz-Kafka-Verlag die Publikation Victor Hadwiger: Básně / Gedichte heraus, in der sich Hadwigers Verse der tschechischen Leserschaft zum ersten Mal komplett in Buchform präsentieren. Der Band wurde von Viera Glosíková herausgegeben, die Gedichte übersetzte Miloš Kučera. Wie haben sich die beiden, die sich für die definitive Rückkehr Hadwigers in die tschechische kulturelle Landschaft verantwortlich zeichnen, mit ihrer Aufgabe auseinander gesetzt?

 

Gerne würde man von einer triumphalen Rückkehr sprechen: War Victor Hadwiger seinerzeit doch eine unübersehbare Figur der deutschen Poesie, deren Zentrum – auch – in Prag war. Aber leider gilt hier, wie auch im Falle seines jüngeren Dichterkollegen Franz Janowitz, bzw. des dichtenden Anarchisten Hugo Sonnenschein, dass es innerhalb eines engen Kreises von Kennern der deutsch-tschechischen Poesie zwar sehr bekannte, gar elementare Namen sind, die darüber hinaus jedoch nicht in ein breiteres Bewusstsein vordringen konnten. Das ist schade, waren es doch gerade diese drei Dichter, jeder auf seine Weise, die den literarischen Expressionismus mitgestalteten; eine Richtung, die im tschechischen kulturellen Umfeld noch immer für leidenschaftliche Diskussionen sorgt. Es bleibt nichts anderes übrig, als die mit ihnen verbundenen, ebenso ihr künstlerisches Potenzial betonenden Legenden posthum zu verbreiten: So unternahm es erstmals systematisch der Publizist Jürgen Serke in seinem heute auch im tschechischen Kontext berühmten und Buch Böhmische Dörfer –Wanderungen durch eine verlassene literarische Landschaft, das auf Tschechisch im Jahr 2001 erschienen.

 

Als eines der ersten stellte dieses Buch der tschechischen Leserschaft die Gedichte Victor Hadwigers vor, wenn auch lediglich im Kontext eines Essays über ihn. Übersetzt wurden sie damals von Michaela Jacobsenová. Nicht in seiner Bedeutung, sondern hinsichtlich seiner thematischen Ausrichtung wird dieses Buch von der Publikation Pražská léta německých a rakouských spisovatelů [Die Prager Jahre deutscher und österreichischer Schriftsteller] von Pravoslav Kneidl übertroffen, weit früher noch von der einzigen Anthologie expressionistischer Poesie, zusammengestellt von Ludvík Kundera: In seiner Auswahl Haló, je tady vichr, vichřice [Halloh, der Sturm, der große Sturm ist da] (1969) finden wir, wie auch in der vorher genannten, einige von ihm übersetzte Hadwiger-Gedichte. Weitere Übersetzungen von Hadwiger sind in der hervorragenden Internet-Anthologie von Jan Mareš mit dem Titel Kohoutí kříž [S‘ Hohnakreiz] zu finden, die sich auf deutschsprachige Literatur aus dem Böhmerwald konzentriert – mit dem Hartwiger biographisch verbunden war.

 

Es ist also offensichtlich, dass der Übersetzer Miloš Kučera bei weitem nicht als einziger vor der Aufgabe stand, die Dichtung Hadwigers in tschechischer Sprache vorzustellen, wenn es auf den ersten Blick auch so scheinen mag. Am meisten überrascht bei der tschechischen Hadwiger-Rezeption die Tatsache, dass Kučera selbst dem tschechischen Leser vor einigen Jahren die Gedichte Hadwigers in eigener Übersetzung anbot, sogar in Zusammenarbeit mit derselben Herausgeberin und im selben Verlag, und zwar mit dem Band Když se mnou nejsi ty... / Wenn du nicht bei mir bist..., der die Lyrik deutsch schreibender Prager Dichter vorstellt. An sich wäre das für den Leser nicht weiter verwunderlich, allerdings wurden Kučeras Übersetzungen für die neue Publikation in einem Maße überarbeitet, das den gewöhnlichen Rahmen „kosmetischer Korrekturen“ eindeutig überschreitet.

 

Die Motivation dieser Veränderungen ist nicht ganz klar, zumal der Übersetzer seinen Stil beibehält. Sie sind eher durch Äquivalente einzelner Wörter, bzw. Halbverse motiviert. Kučeras Sprache neigt stellenweise zu mehr Genauigkeit im Ausdruck, anderswo verwischt er wiederum den Originalausdruck durch einen unangebrachten Poetismus. Im Ganzen überzeugen Kučeras Übersetzungen und können neben denen der oben genannten früheren Übersetzer stehen. Miloš Kučera beherrscht den freien wie den gebundenen Vers, wobei ihm der freie Vers merklich besser gelingt. Sein übersetzerisches Können schärfte er im Übrigen an R. M. Rilke. Jene Übersetzungen erschienen, einmal mehr in Zusammenarbeit mit Viera Glosíková, im Verlag Labyrint (Neboť hvězd skákalo nespočet / Denn es sprangen Sterne ungezählt, 2013).

 

Der Beitrag der Herausgeberin Viera Glosíková liegt nicht nur in der Auswahl eines Großteils von Hadwigers dichterischem Werk. Ebenso wie bei den anderen Buchprojekten in Zusammenarbeit mit Miloš Kučera fehlt es nicht an einem umfangreichen Vorwort, das geradezu den Charakter einer Fachstudie annimmt. Neben unerlässlichen biografischen Informationen charakterisiert die Herausgeberin treffend Hadwigers Poesie, besonders im Kontext der deutschen Literatur. Es fragt sich, inwiefern sie nicht einem gewissen Kult unterlag, der sich bereits zu Lebzeiten um Hadwiger bildete und durch das Vergessen seines Werks nach seinem Tod hervorgehoben wurde. Glosíková erzählt die Legende des Dichters – des vergessenen Vorläufers des Expressionismus – zu einem großen Teil zu Ende. Diese gründet natürlich auf der Wahrheit, antwortet jedoch nicht zufriedenstellend auf die Frage, warum denn so ein elementarer Dichter in Vergessenheit geraten ist.

 

Auf eine eigenständige Anmerkung zur Beziehung von Herausgeberin und Übersetzer folgen die Kommentare zu den Gedichten. Diese haben Viera Glosíková und Miloš Kučera verfasst, wobei eine Disproportion in Umfang und Charakter auffällt: Glosíková kommentiert die Verse aus der Position der Interpretin, die auf Grundlage ihrer kontextuellen Kenntnis zu einigen Gedichten Schlüssel oder Anleitung anhand von Erläuterungen z. B. einiger vergessener Realien bietet; Kučera beschränkt sich hingegen auf kurze, dichte Anmerkungen, die seinen oft sehr eigenen, aber legitimen und mehr in Richtung Abstraktion gehenden Blick auf einzelne Gedichte zeigt.

 

Der Franz-Kafka-Verlag hat sich zweifelsohne um ein bemerkenswertes Projekt verdient gemacht, das zum weiteren Verorten der deutsch-tschechischen literarischen Beziehungen und zur besseren Kenntnis der Prager deutschen Literatur beiträgt. Die (für einen Übersetzer nicht sehr angenehme) Wahl der zweisprachigen Gedichtausgabe ist klar gerechtfertigt, so ist es möglich, Hadwigers Werk auch im Original kennen zu lernen. Eines bleibt naiv zu wünschen: dass dieses Buch nicht nur zur Kenntnis der Gedichte Victor Hadwigers auf tschechischer Seite beiträgt, sondern auch zur Kultivierung des Vermächtnisses von dem multikulturellen Umfeld, das Prag einst war.

 

Übersetzung: Daniela Pusch

 

 

Victor Hadwiger: Básně / Gedichte. Hg. von Viera Glosíková, übersetzt von Miloš Kučera. Prag: Franz-Kafka-Verlag, 2016, 170 S.


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