Es schreibt: Steffen Höhne

(22. 11. 2017)

Die Funktion von Schmerz in Beziehung zur Literatur ist der Gegenstand der Frankfurter literaturwissenschaftlichen Dissertation, in der sich Sandy Scheffler mit den Interdependenzen zwischen literarischem Diskurs und Schmerzdiskurs am Beispiel von ausgewählten Texten des ‚Prager Kreises‘ im Kontext der Moderne auseinandersetzt; ein durchaus einleuchtendes Thema, vergegenwärtigt man sich nur die auch hier an zentraler Stelle behandelte Erzählung In der Strafkolonie von Franz Kafka, die den Schmerz „leibhaftig“ in den literarischen Text einführte.

 

Es geht der Verfasserin dabei, wie es in der Einleitung heißt, um die „Essenz des Schmerzes im literarischen Text“ (S. 11), also um eine Analyse von Charakteristika des Schmerzes bzw. eine Rekonstruktion des den literarischen Text beeinflussenden Schmerz-Diskurses und dessen (intendierte) Wirkung auf die Rezipienten (S. 10).

 

Schmerz und die Auseinandersetzung mit ihm sind dabei kulturhistorisch und kontextuell determiniert (S. 12) bzw. nur im Kontext „von Kultur und Zeit“ erfahrbar (S. 28), was insbesondere eine literaturwissenschaftliche Analyse als schlüssig erscheinen lässt, der es um die jeweiligen den Schmerz repräsentierenden Erzählstrategien, um die Funktionen des Schmerzes und um das Wissen und die Bedeutung von Schmerz in den Texten geht (S. 16). Gemäß dem gewählten kulturwissenschaftlichen Paradigma stößt der Schmerz als Teil einer kulturellen Mnemotechnik auf Interesse, da Schmerz Erinnerung erzeugt und selbst erinnert wird – und umgekehrt Erinnern erst Schmerz hervorrufen kann. Ausgehend von diesen Prämissen wird Literatur durchaus nachvollziehbar als „verschriftlichtes Wissen vom Schmerz“ verstanden (S. 25).

 

Mit Hilfe einschlägiger Ansätze von Schopenhauer, Nietzsche und Freud erfolgt dann eine Kontextualisierung des Schmerzdiskurses. Wünschenswert wäre hier allerdings eine stärkere Komprimierung gewesen, da die umfangreichen Nietzsche-Paraphrasen oder die der gleichwohl verdienstvollen Kafka-Studie von Gerhard Kurz (Traum-Schrecken. Kafkas literarische Existenzanalyse, 1980) nicht unbedingt zur Stringenz der Argumentation beitragen. Hier hätten Verweise allemal ausgereicht.

 

Der zweite Teil des Bandes befasst sich in Form von Fallstudien mit ausgewählten literarischen Texten, wobei der Fokus auf jeweils unterschiedliche Relationen gelegt wird. Einer Kausalbeziehung von Schmerz, womit dessen „spezifische Wirkung“ als „Möglichkeit zur Ausübung von Macht“ impliziert wird, folgt die Verfasserin an den Beispielen In der Strafkolonie von Kafka und Doktor Guillotin von Ludwig Winder. Eine dialektische Schmerzqualität wird dagegen bei Ernst Weiß anhand des Romans Die Galeere und erneut bei Winder anhand der Reitpeitsche untersucht, um dann auf dialektische Schmerzquantitäten anhand von Meyrinks Das Sein ist flammend Leid und Max Brods Schloß Nornepygge einzugehen. Ungeachtet einer teilweise bemüht wirkenden Theoretisierung wird dennoch der Unterschied zwischen Schmerzqualität, als Beziehung zwischen der Qualität seelischen Schmerzes und dem physischen einer Körperwunde (S. 225), und Schmerzquantität, als Zunahme von Schmerz (S. 325), nicht ganz deutlich. Allerdings folgt der Schmerzdiskurs, dem ist zuzustimmen, einer Logik der Ästhetisierung des Leidens, wobei die analysierten Texte „keine Strategie des Leidens“ aufzeigen, sondern im Gegenteil „so tief wie möglich in die angenommene Ausweglosigkeit des Leidens hinein“ führen (S. 393).

 

Nicht ganz einleuchtend ist der Versuch einer Rückbindung der Texte und Diskurse an Prag, wird doch das Textkorpus mit einer spezifisch interkulturellen Konstellation (S. 15) bzw. einem spezifischen „Prager Gemisch von Kulturen“ (S. 393) begründet. Das ist durchaus richtig erkannt, aber warum erfolgt dann eine Auswahl von fünf Autoren, die lediglich die deutschsprachige bzw. deutschjüdische Seite der Prager Literatur repräsentieren? Dabei sei die Ausblendung sämtlicher theoretischer Konzepte zum Komplex Interkulturalität noch nachgesehen, doch selbst der wichtige Nationalismus-Diskurs, der auch für den Prager Kreis konstitutiv war, wird lediglich mit der nun doch in die Jahre gekommen Studie von Eugen Lemberg aus dem Jahr 1969 (Deutsche und Tschechen. Grundsätzliches zum Verhältnis zweier Völker) (S. 69) untermauert (S. 69). Somit erfolgt eine nicht weiter reflektierte Forttradierung des Dichotomie-Narrativs (Tschechen vs. Deutsche), ohne auch nur die Standardliteratur zu dieser Thematik zur Kenntnis zu nehmen. Hier sei nur auf die Arbeit von Jan Křen, Die Konfliktgemeinschaft. Tschechen und Deutsche 1780-1918 (München, 1996) verwiesen. Es ist natürlich bedauerlich, dass Literaturwissenschaftler Arbeiten von Geschichtswissenschaftlern häufig nicht zur Kenntnis nehmen (was auch umgekehrt gilt und die Sache natürlich nicht besser macht), aber gerade ein kulturwissenschaftlicher Ansatz, in dem ein Phänomen wie Schmerz nicht nur als literarisches Motiv, sondern als historisier- und kontextualisierbare Kategorie eingeführt werden soll, darf sich eine derartige Blöße nicht geben.

 

So wird auf der einen Seite eine Zunahme (wann genau?) an Verständigung auf der kulturellen Seite konstatiert (S. 70), die um 1900 in Abgrenzung vom älteren Separationsmodell einsetzte, um andererseits ein Erstarken des Nationalbewusstseins „auf der offiziellen Ebene“ (was soll das sein?) zu beobachten. Alltag, Kultur und Politik haben sich nicht zuletzt in Prag und in den Böhmischen Ländern immer schon durchmischt. Gerade dies ließe sich ja am Assoziationswesen zeigen, wobei sich „Vereine“ zwar auch „teilten“ (S. 70), es im Regelfall entweder zu Gründungen und Gegengründungen gemäß einem Aktions-Reaktionsmuster wie bei den Schul- und Schutzvereinen kam oder zu einer Transformation supranationaler Institutionen in utraquistische, die dann in der Folge häufig nationalisiert wurden.

 

Letztlich erliegt die Verfasserin der Brodschen Konstruktion eines „Prager Kreises“ (S. 51), ohne diese Konstruktion selbst kritisch zu überprüfen und die Kontexte angemessen zu reflektieren. Diese Reflektion wird zwar angemahnt (S. 53), aber nicht eingelöst. Wichtige Studien jüngeren Datums, die sich explizit mit dem „interkulturellen“ Leben in Prag befassen, sind überhaupt nicht berücksichtigt, beispielsweise von Peter Becher und Anna Knechtl der Band Praha-Prag 1900-1945. Literaturstadt zweier Sprachen (2010), von Jozo Džambo unter gleichem Titel Praha-Prag 1900-1945. Literaturstadt zweier Sprachen (2010), ferner die inzwischen auf Englisch vorliegende Studie von Kateřina Čapková Češi, Němci, Židé? Národní identita Židů v Čechách 1918-1938 [Tschechen, Deutsche, Juden? Die nationale Identität der Juden in der Tschechoslowakei 1918-1938] (2005) oder von Ines Koeltzsch Geteilte Kulturen. Eine Geschichte der tschechisch-jüdisch-deutschen Beziehungen in Prag (1918-1938) (2012).

 

Ungenauigkeiten z. B. zur Rezeption (S. 51) oder zum zeitgleichen Ablauf von Kafka-Boom und der offiziellen Kulturpolitik (?) verraten Unkenntnis der einschlägigen Forschung. Dies gilt auch für die angeblich unterschiedliche Rezeption der Prager Literatur in der BRD und der DDR (so säuberlich lassen sich Rezeptions- und Wirkungsprozesse nicht trennen, auch wenn es durchaus Bestrebungen in der kommunistischen Kulturpolitik in dieser Richtung gab). Die Bezeichnung „Prager Schule“ (S. 55) stammt nicht von Kurt Krolop, sondern geht auf Max Brod zurück bzw. fand dann bei H. G. Adler Verwendung. Brods Auseinandersetzung mit der These vom dreifachen Prager Ghetto wird aufgerufen, ohne den Urheber – Pavel/Paul Eisner – auch nur zu erwähnen (S. 63). Und was die Verlässlichkeit der von Steinfeld (S. 55) angegebenen Daten angeht, sei nur auf die Rezensionen im Germanistischen Jahrbuch brücken (2010) und in der Bohemia (2010) verwiesen, zwei derart einschlägige Periodika, deren völlige Außerachtlassung in einer Studie zum Prager Kreis nun doch verwundert.

 

Insgesamt mündet der Versuch, den Prager Kreis greifbar zu machen, in einer additiven, wenngleich höchst unvollständigen und inkohärenten Auflistung. So fehlen z. B. die Vorschläge der Zeitgenossen Josef Körner, Dichter und Dichtung aus dem deutschen Prag (1917/18) und H. G. Adler, Die Dichtung der Prager Schule (1976), es fehlt Brods Perspektive auf die sogenannte Sudetendeutsche Literatur (S. 61), weshalb sich ein seltsam entkontextualisierter Eindruck einstellt, bei dem auch ein Bestimmungsversuch des Prager Kreises per Brockhaus-Zitat nicht recht weiterhilft (S. 61f.).

 

Und das ist nun wiederum bedauerlich, als dadurch die angemahnte kulturwissenschaftliche Kontextualisierung im Hinblick auf Schmerzerfahrungen letztlich nicht umgesetzt wird. Denn die Texte des Prager Kreises gerade in ihren auch interkulturell begründbaren Erfahrungen mit all den damit verbundenen antisemitischen, antitschechischen und antideutschen bzw. auch anti-habsburgischen Invektiven dürften sehr viel mit Schmerz und Schmerzdiskursen zu tun haben, was nicht zuletzt ja der wirkungsmächtige Habsburgermythos in der Literatur belegt.

 

 

Sandy Scheffler: Operation Literatur. Zur Interdependenz von literarischem Diskurs und Schmerzdiskurs im ‚Prager Kreis‘ im Kontext der Moderne. Heidelberg: Winter, 2016, 440 S.


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