Es schreibt: Martina Niedhammer

(11. 10. 2017)

Leopold Kompert (1822–1886) könnte mit Recht als ein Klassiker der deutsch(sprachig)-jüdischen Literaturgeschichte gelten, zeichnen doch seine seinerzeit vielgelesenen „Ghettogeschichten“ in feinen Nuancen das ländliche jüdische Leben im Böhmen und Mähren des 19. Jahrhunderts nach. Im Zentrum stehen dabei Vertreter jener „Landjuden“, derer das städtische Lesepublikum Komperts nicht selten mit einer Mischung aus Nostalgie und Bedauern gedachte – Bewohner der „Gasse“ und Randare, d. h. Juden, die als Pächter eines grundherrschaftlichen Betriebs weitgehend allein, ohne unmittelbaren Anschluss an eine lokale jüdische Gemeinde unter nichtjüdischen Bauern lebten. Dass der wehmutsvolle Blick zurück als Schlüssel zum Verständnis von Leopold Komperts Werk indes nicht ausreicht, zeigt Ingrid Steiger-Schumanns Analyse derjenigen Erzählungen des Schriftstellers, die jüdisch-christliche Liebesbeziehungen thematisieren. Damit liefert sie zugleich einen Hinweis darauf, weshalb Kompert heute, anders als viele seiner prominenten jüngeren jüdischen Schriftstellerkollegen aus der Habsburgermonarchie, weitgehend vergessen scheint.

 

Die als Dissertation an der Universität Genf verteidigte Arbeit Jüdisch-christliche Liebesbeziehungen im Werk Leopold Komperts. Zu einem Zentralmotiv des böhmisch-jüdischen Schriftstellers (1822–1886) ist das Ergebnis langjähriger Forschungen der Verfasserin, deren Anfänge bis in die frühen 1980er Jahre zurückreichen. Die lange Entstehungsgeschichte ist es denn auch, die emblematisch gleichermaßen auf die Stärken wie auf die Schwächen des Buches verweist. Steiger-Schumanns Ansatz, Komperts Umgang mit interreligiöser Partnerwahl und Ehe und damit Fragen nach dem Wandel jüdischen Selbstverständnisses in das Zentrum ihrer Studie zu rücken, war Anfang der 1980er Jahre äußerst innovativ. Die Notwendigkeit dieser und ähnlicher Forschungsfragen unterstreicht nicht zuletzt ein Brief Gershom Sholems an Steiger-Schumann vom Oktober 1981. Darin erteilt er einer positiven Deutung des Kompertschen Lebensmodells, wie es Ingrid Steiger-Schumann aus dessen Texten heraus entwickelt – eine Annäherung an die nichtjüdische Umgebung bei gleichzeitigem Fortbestehen einer jüdischen Bindung –, aus der Perspektive der Shoah freilich eine Absage.

 

Diese angesichts der persönlichen Erfahrung Scholems durchaus nachvollziehbare Position wurde in den vergangenen rund drei Jahrzehnten von Seiten der jüdischen Geschichtsschreibung in vielfacher Weise kritisch hinterfragt und um neue Interpretationsansätze im Sinne Steiger-Schumanns bereichert. Konzepte wie dasjenige der „multiplen Identitäten“, der „situativen Identität“ oder der „Loyalität“ mögen der Methodik der Geschichtswissenschaft entstammen (vgl. den 2016 erschienenen Forschungsüberblick von Ines Koeltzsch, Modernity, Identity and Beyond: Historiography on the Jews of the Bohemian Lands in the Nineteenth and Early Twentieth Centuries), sie hätten jedoch auch für die hier besprochene, literaturwissenschaftliche Arbeit fruchtbar gemacht werden können und so einen differenzierteren und zugleich pointierteren Blick auf Komperts Leben und Werk ermöglicht. Dass die Autorin mit dem ebenso unschönen wie historisch belasteten Begriff der „Mischehe“ wiederholt auf einen quellensprachlichen Ausdruck zurückgreift, ist hingegen eher einem an dieser Stelle wenig aufmerksamen Lektorat geschuldet.

 

Ähnliche Lücken lassen sich auch bei einem Blick auf den geographischen Rahmen von Steiger-Schumanns Arbeit feststellen: Auch hier ignoriert die Autorin weitgehend die jüngere bohemistische und historische Forschung zu den böhmischen Ländern, die gerade mit Blick auf die linguistische und/oder nationale Verortung ihrer Bewohner im 19. und frühen 20. Jahrhundert zahlreiche neue Erkenntnisse jenseits der vielfach strapazierten Figur des „Sprachenkampfs“ hervorbrachte. Dass Komperts Werke auch in dieser Hinsicht Potenzial bieten, belegt Ingrid Steiger-Schumann selbst mehrfach, wenn auch nur am Rande. So thematisiert sie im Zusammenhang mit Komperts Biographie etwa die Erzählung Ohne Selbstlaut (1859), in der ein (christlicher) Junge aufgrund seines tschechischen Namens zum Gespött seiner Mitschüler wird; an anderer Stelle verweist sie auf die Situation der deutschsprachigen Dorothea als „Tauschkind“ in einer mehrheitlich tschechischsprachigen Umgebung in dem 1875 erschienenen Roman Zwischen Ruinen.

 

Ebenfalls bedauerlich scheint in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die Autorin die Alltagsgeschichte der böhmischen und mährischen Juden immer wieder zu ausschließlich durch die Brille der deutsch-jüdischen Geschichtsschreibung betrachtet. Dabei geraten Spezifika der österreichisch-jüdischen Geschichte, wie beispielsweise der moderate, auch auf die katholische Umgebungskultur zurückzuführende Charakter der jüdischen Reformbewegung in Wien und Prag, aus dem Blickfeld. Es sind meines Erachtens jedoch auch diese kulturgeschichtlichen und rechtshistorischen „Eigenheiten“, die Komperts Haltung und Erzählstrategien erklären können.

 

Das gilt sicherlich in besonderem Maße für den bereits erwähnten Roman Zwischen Ruinen. Er ist der Fluchtpunkt der Textanalyse, die Steiger-Schumann im vorletzten Abschnitt ihres auf vier Teile – Einführung und Forschungsüberblick, Biographie Leopold Komperts, Werkanalyse sowie ein Blick auf verwandte Motivik bei jüngeren Schriftstellerkollegen – geteilten Buches vornimmt. Dieses Kapitel ist unzweifelhaft das gelungenste des gesamten Buches, da die Verfasserin hier ihre These unmittelbar an den Quellen – Komperts Erzählungen – entfalten kann. Sehr überzeugend zeichnet sie die Entwicklung nach, die Kompert in seinem Streben nach einer eigenständigen jüdischen Position zwischen Tradition und Akkulturation durchlief. Anfangs schien ihm eine Beziehung zwischen einem jüdischen und einem christlichen Partner nicht nur aus halachischen (religionsgesetzlichen) und staatsrechtlichen Gründen undenkbar – Ehen zwischen Juden und Christen waren ohne vorherige Taufe des jüdischen Partners bis zu den Maigesetzen 1868, die erstmals eine zivile Eheschließung gestatteten, ausgeschlossen; auch die tradierten Lebenswelten beider Liebenden standen dem entgegen: Eine potentielle Konversion bräche mit der Tradition und stellte daher einen unwiederbringlichen Verlust dar (so beispielsweise in den Kindern des Randars, 1848). In späteren Erzählungen wandelt sich dieses Motiv mehrfach in verschiedenen Facetten: auf die schmerzvolle Ablehnung der Konversionsentscheidung durch die jüdischen Verwandten folgt allmähliches Verstehen (Eine Verlorene, 1851), die Liebenden verbleiben in ihrer jeweils angestammten Religion und finden erst im Alter als Unverheiratete zusammen (Christian und Lea, 1862/63), schließlich die zivile Eheschließung zweier selbstbewusster Partner, die ihren angestammten Glaubensgemeinschaften allerdings nur dem Gewissen nach, nicht aber nominell treu bleiben, da die zivile Trauung in Österreich nur im Falle der Konfessionslosigkeit mindestens eines der beiden Brautleute möglich war (Zwischen Ruinen).

 

Bezeichnenderweise fehlt ein Motiv in diesem Reigen: die Konversion eines der beiden Liebenden zum Judentum, die zumindest seit 1868 relativ problemlos möglich gewesen wäre. Steiger-Schumann begründet dies mit dem Unverständnis, das christliche Leser, die Kompert ebenfalls eifrig rezipierten, einer solchen Lösung entgegenbracht hätten. Ich bin nicht sicher, ob diese Deutung zutrifft, oder ob dem nicht vielmehr auch Komperts Selbstverständnis, das auf Ebenbürtigkeit, nicht aber auf Angleichung zielte, im Wege stand. In jedem Falle boten seine Erzählungen eine vorsichtig optimistische Perspektive auf das Zusammenleben von Juden und Christen, die sich, wie die Autorin vorwiegend implizit, aber dennoch überzeugend argumentiert, gerade aus der Spannung zwischen der rechtlichen Benachteiligung der jüdischen Bevölkerung und ihrer allmählichen, behutsamen gesellschaftlichen Teilhabe bis zur Emanzipation 1867 speiste.

 

Spätere Generationen konnten diese Sicht aufgrund des wachsenden Antisemitismus trotz nomineller rechtlicher Gleichstellung nicht mehr teilen, wie der stimmige Vergleich mit dem Werk Karl Emil Franzos’ zeigt, den Steiger-Schumann im letzten Teil ihrer Arbeit vornimmt. Der aus Galizien stammende Franzos, der mit Kompert gut bekannt war, griff das Thema der interreligiösen Ehe in seinen Texten mehrfach auf, so besonders in der tragisch endenden Erzählung Judith Trachtenberg (1890).

 

Es ließe sich daher darüber spekulieren, ob es gerade Komperts positive, zukunftsorientierte Deutung jüdisch-christlichen Miteinanders war, die zu seinem späteren Vergessen beitrug. Ingrid Steiger-Schumanns beachtenswerte Untersuchung weist jedenfalls in diese Richtung.

 

 

Ingrid Steiger-Schumann: Jüdisch-christliche Liebesbeziehungen im Werk Leopold Komperts. Zu einem Zentralmotiv des böhmisch-jüdischen Schriftstellers (1822–1886). Berlin, Boston: de Gruyter / Oldenburg, 2015, 362 S.


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