Ingeborg Fiala-Fürst über L. A. Frankl

(4. 4. 2016)

Zur Serie illustrer Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, die seit 2011 in der Reihe „Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert“ im Böhlau Verlag Steffen Höhne, Alice Stašková und Václav Petrbok vorstellen (bisher August Sauer, Franz Spina, Johannes Urzidil, Max Brod, Vilém Flusser, Bedřich Utitz und dreimal Franz Kafka), tritt nun im 10. Band eine prominente Gestalt des 19. Jahrhunderts hinzu, Ludwig August Frankl (1810–1894), eine „polyphone“ Persönlichkeit „zwischen Okzident und Orient“ (so der Untertitel des von Louise Hecht herausgegebenen Buches), Jude zwischen Orthodoxie und Assimilation, Dichter deutscher Zunge und österreichischer Patriot zwischen Deutschen und Tschechen, Journalist und Herausgeber zwischen Revolution und konservativer Restauration, Historiker zwischen Dichtung und Wahrheit, eine Gestalt, an deren breitgefächerten Aktivitäten und reichem Schrifttum fiktiver sowie non-fiktiver Art fast die gesamte Problematik des 19. Jahrhunderts abzulesen ist. Nach Gebühr widmen sich dem Leben und Werk Ludwig August Frankls Forscher eines breiten interdisziplinären Spektrums (dies ist auch die einzige Möglichkeit, der renaissanceartigen Figur beizukommen), Historiker, Genealogen, Literatur- und Kulturhistoriker, Musikwissenschaftler, Linguisten und Museumspraktiker, die – indem sie jeweils eine Facette des Lebens und Wirkens Frankls herausgreifen – zusammen ein abgerundetes Bild dieser Persönlichkeit erschaffen, in welchem einzelne Zugangsweisen und Blickwinkel sich aufeinander beziehen und ergänzen.

 

Biographische Darstellungen, wie sie vor allem die Einleitung Louise Hechts, Eine polyphone Biographie, und der nachfolgende Aufsatz Dieter Hechts über die Frauen im Leben von L. A. Frankl liefern, stützen sich auf die lückenlose Genealogie der Familien Frankl und Frankl von Hochwart (mit Basch) von Georg Gaugusch und die präzise ausgearbeitete biographische Zeittafel und den Stammbaum im Anhang des Bandes.

 

Der für die tschechische Bohemistik nach wie vor wesentlichen Frage nach den Bezügen zur tschechischen Kulturwelt geht Václav Petrbok im Aufsatz L. A. Frankl als tschechischer Dichter? nach, in welchem er über Frankls deutschen und tschechischen Spracherwerb berichtet, über Frankls Beziehungen zu tschechischen Persönlichkeiten (u. a. Klicpera, Štěpánek, Nebeský) und Themen (Frankls belletristische Bearbeitungen böhmischer historischer Figuren und Stoffe: Hl. Wenzel, Hus, Wallenstein, dreißigjähriger Krieg etc.) schreibt und zum Schluss kommt, dass „Frankls gesamtösterreichischer (kritischer) dynastischer Patriotismus mit deutlichen Zügen von böhmischem Landespatriotismus deutschkultureller Prägung [durchsetzt ist]“ und dass Frankls „Herausbildung der vielfachen Identitätskonstruktionen […] – religiösen, kulturellen und politischen Loyalitäten folgend“ (S. 118f.) – als plastisches Beispiel für das gesamte 19. Jahrhundert dienen kann. Zugleich lässt Petrbok Frankls eigene – ebenso von Herder wie von Bolzano inspirierte – Überzeugung gelten, dass die „Dichtung […] ein mögliches Versöhnungs- und Bindungsglied zwischen den sich immer mehr entfernenden Nationen“ (S. 111) sein könnte.

 

Die Aufzählung böhmischer und slawischer/serbischer Bezüge Frankls bereichert Gertraud Marinelli-König (L. A. Frankl und die Wiener Unterhaltungsblätter im Vormärz) noch um einige weitere Namen, Werke, Daten und Fakten, während Ernst Wangermann in seinem Aufsatz L. A. Frankls Bedeutung in der Revolution von 1848 u. a. kurz auf die durch die nationale Polarisierung in den ethnisch gemischten Gebieten hervorgerufene Verwirrung und Ratlosigkeit hinweist, die im Frankl-Kreis (der „den kulturellen Bestrebungen der nicht-deutschen Völker des Habsburgreichs immer große Aufmerksamkeit schenkte“, S. 196) 1848 ausbrach.

 

Dem anderen Balance-Akt Frankls, zwischen Judentum und Assimilation, zwischen säkularisierter Religiosität und Orthodoxie, mit Louise Hechts Metapher gesprochen: „zwischen Okzident und Orient“, widmen sich die Aufsätze von Carsten Wilke (L. A. Frankl als historischer Mythograph der Marranen), Marie Krappmann (L. A. Frankls. Nach Jerusalem!), Yochai Ben-Ghedalia („My Heart is in the East“) und in einzelnen Absätzen auch Louise Hechts („Durch Wort und That“: Motto und Credo) und Gerlinde Kohlbauer-Fritz‘ Artikel (L. A. Frankl und das jüdische Museum) über jüdische bzw. israelische Memoria in Frankls Sammlungen „teils wertvoller, teils kurioser Objekte“ (S. 297). Diese drei Aufsätze sind für einen Literaturhistoriker wohl am spannendsten, denn hier erfolgt endlich auch eine Textanalyse und Literaturinterpretation, die ansonsten im überwiegend historisch‑beschreibenden Duktus des Bandes rar sind.

 

Doch ist es eigentlich kein Wunder, dass die heutige Nachwelt alles Andere an Frankls Wirken fesselt als dessen „genuin schriftstellerische Leistungen“ (S. 123) und die literarischen Qualitäten seiner Texte. „Warum ein Autor mit so hohem Ansehen im Kultur‑ und Gesellschaftsleben Österreichs ein so rasches literaturgeschichtliches Ende fand“ (S. 124), erklärt Jörg Krappmann in seinem Aufsatz Der Mitgenannte. L. A. Frankl und die Literaturgeschichte, indem er die Behandlung Franklscher Werke in Literaturkritiken seiner Zeit (u. a. Lorm, Horn, Kürnberger, Spitzer) und in jüngeren und jüngsten Literaturgeschichten (etwa von Wolkan, Szegeda, Meyer, Sengle, Zeman, Lengauer) verfolgt, all die kritischen Stellungnahmen von Frankls Kritikern und manchmal gar Kontrahenten zu seiner Art, Literatur zu produzieren, zusammenfasst („publizistische Betriebsamkeit, literarische Umtriebigkeit, Erinnerungsindustrie, Verwertungsökonomie, Bewirtschaftung von Erlebniskapital, politisch korrekte Gelegenheitsdichtung, schöngeistiges Dilettieren, politische Irrelevanz“, S. 124) und durch den Vergleich Frankl’scher Dichtung mit Texten anderer Dichter des österreichischen Vormärz und der Spätromantik (Grün, Beck, Lenau) zu dem zweifachen Schluss kommt, dass es zum einen dem gesellschaftlich hoch erfolgreichen Frankl an einer echten und tiefen individuellen Krise mangelte, so dass „spätestens ab der Revolutionszeit Erlebnislyrik und autopoetische Überlegungen versiegen“ (S. 136) – ein etwas romantisch-psychologischer Schluss –, und zweitens, dass „Frankls literarisches Werk zwischen biedermeierlicher Weltschmerzdichtung und revolutionärem Vormärz steht und damit zwischen Skylla und Charybdis der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, was seine Stellung als Mitgenannter erklärt“ (S. 135).

 

Zu einem etwas anderen Schluss kommt Herlinde Eichner im Aufsatz L. A. Frankl, Politiker der Erinnerung,welcher Jörg Krappmanns Befunde teils bestätigt („Frankls eigene Wirkungsgeschichte ist […] eine Chronologie des Vergessens […]. Von einer Forschungsgeschichte zum Werk des Schriftstellers Frankl lässt sich nicht sprechen“, S. 276) und teils um weitere Überlegungen ergänzt – etwa zu Frankls ausgiebiger Pflege bereits untergegangener, unmoderner Gattungen wie Dichterbiographie oder literarische Anekdote: „Frankls Projekt der Zusammenführung der Rollen von Schriftsteller und Zeitgenosse, Geschichtsschreiber und Menschenfreund war schon bald gescheitert“ (S. 289). Freilich schließen sich beide Befunde gegenseitig nicht aus.

 

Mit Frankls Position im Vormärz und der Revolution von 1848 beschäftigen sich einige weitere Aufsätze und führen die von Jörg Krappmann angesprochene Dichotomie weiter: Einerseits steht Frankl als geschätzter Herausgeber der anerkannten Sonntagsblätter, als Mitglied der Akademischen Legion und als Autor „des ersten zensurfreien Gedichtes Die Universität […], das den Anteil der Studenten und der akademischen Intelligenz an der Revolution bestätigte“ (S. 140) und „so etwas wie die Marseillaise der österreichischen Revolution geworden ist,“ (S. 197) mitten im Zentrum der Wiener Revolution; Frankl habe „konsequent auf der Seite der Revolution“ gestanden, „weil für ihn die Revolution ein möglicher Weg war, das Habsburgreich in eine konstitutionell-demokratische Monarchie zu verwandeln.“ (Wangermann, S. 199). Andererseits erschien Frankls „Erinnerungspolitik“, seine lebenslange Bemühung, diese seine Position und den Ruf des Revolutionärs auch ex post (etwa in seinen Erinnerungen) zu befestigen, so manch einem Zeitgenossen (v. a. Ferdinand Kürnberger und Daniel Spitzer) suspekt, wie Hubert Lengauer in seinem Aufsatz Konkurrenz und Kompensation berichtet.

 

Die beiden musikgeschichtlichen Aufsätze, Barbara Boisits’ Die Bedeutung der Sonntagsblätter L. A. Frankls für die Wiener Musikkritik und Stefan Schmidls Gedichte von L. A. Frankl in ihren Vertonungen, runden das Bild des erfolgreichen Herausgebers und viel gelesenen Lyrikers ab, so dass nun tatsächlich nichts mehr zu Frankl zu fehlen scheint. Freilich könnte man sich noch eine weitere Frankl‑Konferenz und einen weiteren Frankl‑Band denken (als Literaturhistorikerin würde ich mir – wie bereits angedeutet – mehr Literaturanalysen und Interpretationen wünschen – vielleicht etwa im Hinblick auf die mögliche Festlegung eines Dichterkreises deutschböhmischer [und deutschmährischer] Romantiker), doch hätten es die etwaigen kommenden Organisatoren einer Frankl‑Nachfolgetagung und eines Frankl‑Nachfolgebandes schwer, neue, bei Louise Hecht nicht bereits bearbeitete oder zumindest gestreifte Ansätze zu finden.

 

 

Ludwig August Frankl (1810–1894). Eine jüdische Biographie zwischen Okzident und Orient.Hg. Louise Hecht. Köln: Böhlau, 2016, 430 S.


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