Es schreibt: Jan Budňák

(11. 5. 2015)

Die brüchigen Netzwerke

 

Mit denZusammenhängen zwischen der Wiener modernistischen Wochenzeitschrift Die Zeit und der tschechischen bzw. mitteleuropäischen Moderne haben sich in den letzten Jahren zwei komplementär gestaltete Publikationen auseinandergesetzt, deren HauptautorInnen und MitherausgeberInnen Lucie Merhautová (Kostrbová) und Kurt Ifkovits sind. 2011 haben sie, unter Mitarbeit von Vratislav Doubek, den Band Die Wiener Wochenschrift Die Zeit (1894–1904) als Mittler zwischen der tschechischen und Wiener Moderne (Masarykův ústav a Archiv AV ČR und Österreichisches Theatermuseum, Prag und Wien) verfasst und herausgegeben und 2013 die kollektive Monographie Die Wiener Wochenschrift Die Zeit (1894–1904) und die zentraleuropäische Moderne (Masarykův ústav a Archiv AV ČR und Klartext Verlag, Prag – Essen – Wien) herausgegeben.

 

Die erste der beiden Monographien enthält neben einer theoretisch und methodologisch stark profilierten Einleitung vor allem Studien der drei MitverfasserInnen zum tschechisch-österreichischen politischen Kontext der Zeit (Doubek), zu ihrer Rolle im Kontext der tschechischen Literatur im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts (Merhautová) und zu der Rolle, die im Rahmen der Entwicklung der deutschen und österreichischen Moderne die tschechischen Autoren der Zeit und tschechische Themen im Allgemeinen spielten (Ifkovits). Die zweite Monographie ist eher „kollektiver“ Art, was sich aus der Intention ergibt, den Großteil der überaus umfangreichen Geltungsbereiche abzudecken, die der Wochenschrift von ihrem Begründer, dem ‚Pro-Motor‛ der Wiener Moderne Hermann Bahr (1863–1934), eingeschrieben wurden. Dieser Band folgt zum einen der „multi-nationalen“ Linie (polnische bzw. südslawische Themen in der Zeit), zum anderen auch der „multi-disziplinären“ („Soziologie, Volkswirtschaft, Politik, Antisemitismus, Frauenfrage“, S. 9), und knüpft somit gewissermaßen an die Ziele der Zeit an.

 

Beide Bücher enthalten neben den Studien auch einen umfangreichen Dokumentations- und Bibliographieteil. Das ist aus vielen Gründen praktisch und spannungsreich. Im Dokumentationsteil der ersten Monographie kommen insbesondere die (Germano-)Bohemisten kulturanalytischer Prägung auf ihre Kosten, die einem Einblick in die polemische Selbstpräsentation der tschechischen Moderne außerhalb Böhmens durch die Zeit-Beiträge von J. S. Machar oder F. V. Krejčí kaum werden widerstehen können, die hier in Gänze abgedruckt werden. Äußerst wertvoll – vor allem für zukünftige Arbeiten zum Thema – ist die Bibliographie von Beiträgen mit tschechischer Thematik in der Wochenschrift (2011, S. 375–398). Der Dokumentationsteil des zweiten Bandes fordert noch dringender zu einer parallelen Lektüre der Studien und der in diesen behandelten Zeit-Beiträge auf. Es wurden erneut – nun aber im multinationalen und multidisziplinären Rahmen – aufschlussreiche Texte ausgewählt, die außerdem durch die spezielle situative Einbettung verbunden sind, nämlich die exklusive Präsentation nach außen, auf das „Zentrum“ hin, die es zugleich ermöglichte, „daheim“ symbolisches Kapital zu schlagen. 

 

Die Frage des Transfers, um die es hier geht, verstehen die HerausgeberInnen nicht nur als ein literarisches Problem, sondern im breiten, auch politischen und weltanschaulichen Sinne, als ein kulturelles Problem. Somit stimmen sie, wie sie auch in der Einleitung zu der ersten der beiden Monographien betonen, mit der aktuellen Perspektive auf die Wiener Moderne überein, die als „ein komplexes System von sozialen, ökonomischen, mentalen und ästhetischen Interaktionen“ gesehen wird, und entfernen sich so von dem Verständnis der (tschechischen) Moderne als eines „selbständigen ästhetischen Phänomens“, das vor allem in der strukturalistisch geprägten Bohemistik überwiege (S. 9). Merhautová und Ifkovits erliegen aber nicht der idealisierten Vorstellung von reibungsloser Übertragung von Kulturgut zwischen Zentren und Provinzen, zwischen verschiedenen Nationalkulturen oder zwischen dominierenden und progressiven Diskursen. Sie haben ein „ausdifferenziertes Modell der Vermittlung“ (2011, S. 11) im Blick, das sie mit Verweis auf Michael Werners und Bénédicte Zimmermanns Ansatz der „histoire croisée“ folgendermaßen verdeutlichen: „Vermittlung muss nicht immer Brückenbauen heißen, sie erscheint öfters gar nicht als erwünschtes Ziel, sondern ist eher das sekundäre Produkt von Strategien und Positionen der Beteiligten. Missverständnisse, unterschiedliche Erwartungen und daraus resultierende Enttäuschungen, das Auseinandergehen und Zurückkehren als auch das gegenseitige bewusste Ausnützen und das Finden eigener Strategien sind für den Vermittlungsprozess oft symptomatischer als der Wille zur Annäherung im Sinne des Pathos der Vermittlung.“ (2011, S. 13)

 

Das aus tschechischer Sicht wohl interessanteste und in gewisser Hinsicht sehr beunruhigende Beispiel für diesen dornenreichen Transfer ist die Geschichte der Annäherung und der späteren Entzweiung von J. S. Machar – für den Modernismus „unser Mann in Wien“ – mit der Zeit, wie sie von Lucie Merhautová geschildert wird (2011, S. 58–94). Merhautová beginnt mit den bekannten, aber aus einer bestimmten Perspektive nur scheinbaren Dissonanzen zwischen der „nationalen Schule“ und der „kosmopolitischen Schule“ in der vormodernistischen tschechischen Literatur. Diese Perspektive wird anhand der Rezeption der deutschen Literatur sichtbar: „Die Tschechische Moderne durchbrach das übelgesinnte Misstrauen zur deutschen Literatur, wie es nicht bloß für konservativere Autoren, sondern durchaus auch z. B. für die Zeitschrift Lumír charakteristisch war.“ (S. 70) Merhautová stellt also Machar und die tschechische Moderne der 1890er Jahre als die Generation dar, die eine „literarische Revolution“ (S. 67) unter der Fahne des Individualismus (S. 69), des Internationalismus (S. 70) und der „programmatischen Erneuerung des Kontakts mit dem kulturellen und literarischen Deutschland“ (S. 71) angestrebt habe. Obwohl „die neue österreichische Literatur und das Jung-Wien für die tschechische Moderne nicht denselben betörenden Glanz wie das Jüngste Deutschland“ (S. 75) hatten, stürzt sich Machar im Jahre 1894, als er von Bahr das Angebot bekommt, die tschechischen bzw. slawischen Themen für die entstehende Zeit zu koordinieren, mit Begeisterung in die Arbeit; er überzeugt T. G. Masaryk, politische Artikel beizusteuern, und verpflichtet F. V. Krejčí zu Kritiken und synthetischen Studien zur tschechischen Literatur. Er ist sich sofort im Klaren darüber, dass sich mit der Zeit nun die ersehnte, europaweit sichtbare Plattform für junge tschechische Literatur und realistische Politik bietet sowie ein wirkungsstarkes Instrument zu deren Durchsetzung in Prag. Die Konstellation dieses Kulturtransfers erscheint hier also auf beiden Seiten als ideal: gestaltete doch Bahr die Zeit auf dem Grundsatz des „guten Europäertums“, das er als international und modern verstand (wozu Kurt Ifkovits richtig ergänzt, dass diese Begriffe vage und daher unberechenbar waren). Machars Tätigkeit für die Zeit erlahmt jedoch am Ende des national aufgewühlten Jahres 1897 (Badenis Sprachverordnungen), und zwar ausschließlich aus nationalpolitischen Gründen: „Ich verkündete ihnen [d. h. den Herausgebern der Zeit, Kanner und Singer], dass wir an dem Punkt angekommen sind, wo wir uns trennen, dass ich doch nationaler bin, als ich ahnte, und dass nicht nur ich, sondern auch viele bei uns ihnen dankbar dafür sind, was sie für uns getan haben [...], aber dass wir diesbezüglich nicht übereinstimmen. Ich habe sie vor dem deutschen Nationalismus gewarnt. [...] Kurzum: ich stehe ihnen heute wie mit einer geladenen Pistole in der Hosentasche gegenüber.“ (2011, S. 358) Obwohl Machar (genauso wie Masaryk) auch nach 1897 mit der Zeit in Kontakt blieb und in Bezug auf sie noch immer gewisse Hoffnungen hegte, lässt sich, wie Merhautová belegt, das nationale Fundament seiner Aktivität kaum bestreiten.

 

Auf die Darstellung der Intentionen von Seiten der tschechischen Modernisten, die ihre Durchbruchschance ergriffen hätten, folgt die Top-Down-Betrachtung Kurt Ifkovits´ über die Rolle der Tschechen bei der Herausbildung der Wiener Moderne vor dem Hintergrund der medialen Strategien der Zeit (2011, S. 95–112). Ifkovits stützt sich in seiner Studie, die von der Entwicklung von Bahrs Ambitionen für die Zeit ausgeht, besonders auf Bahrs Selbstpräsentation in den Briefen an seinen Vater, zeigt aber auch, wie „solitär“ (S. 103) die Nische der Zeit war, in welcher sich die tschechische Moderne durch Machars Zutun medial einrichtete. Mit Bahrs Abwendung vom „guten Europäertum“ als der Leitidee der Wochenschrift in der 2. Hälfte der 1890er Jahre und dem neuen, obgleich immer noch als modernistisch (2013, S. 95) bezeichneten Programm der „Entdeckung der Provinz“ kommen auch in der Zeit konservativere Stimmen zu Wort. Lucie Merhautová argumentiert in ihrer Studie aus der zweiten Monographie (Hermann Bahrs Programm der „Entdeckung der Provinz“ und die Thematisierung Prags als „deutsche Literaturstadt“ in der Zeit, S. 93–103), dass sich Bahr Ende der 1890er Jahre etwa mit Peter Rosseger einig war, dass der Wiener „Dilettanten- und Literatenkreis“ (S. 99) überwunden werden sollte. Die Frage, inwieweit diese Position noch als modernistisch gelten kann, bleibt hier jedoch unbeantwortet. Eine gewisse Antwort darauf bietet die Beobachtung Jörg Krappmanns (Allerhand Übergänge, 2013, vgl. das Echo Štěpán Zbytovskýs), dass Eugen Schick, Verfasser einer Überblicksdarstellung über die Mährische Moderne (1906), seinen Gegenstand „rein zeitlich“ (S. 265) auffasste, d. h. Autoren diesem Begriff nur nach Lebens- bzw. Schaffensdaten zuordnete. Daraus folgt, dass der Begriff der „Moderne“ das meiste von seiner ästhetisch distinktiven Bedeutung spätestens in dem Moment verlor, als er die „entdeckte Provinz“ erreichte. Trotzdem, so zeigt Merhautová abschließend, trug Bahrs Aufforderung zur „Entdeckung der Provinz“ zur Emanzipierung der deutschsprachigen literarischen Produktion nicht nur in Brünn (Schick), sondern auch in Prag bei (Alfred Klaar, Prag als deutsche Literaturstadt, erschienen in der Zeit im Juni 1900).

 

Besonders die zweite der beiden Monographien bietet eine Fülle weiterer Impulse. Bahrs Wochenschrift erweist sich in Beiträgen zur Geburt der Soziologie aus dem Geist der Zeit (Peter Stachel) oder zum diskursiven und institutionellen Kontext der Attacke Ivan Frankos auf Adam Mickiewicz auf den Seiten der Wochenschrift (Stefan Simonek) unmissverständlich als ein außergewöhnlich starker „Knoten der Vermittlung“ (2011, S. 12), dessen Analyse schließlich auf die Bestätigung der Herausgeber-These hinausläuft, dass nämlich der Prozess der Vermittlung sich hier vorwiegend als Abgrenzung manifestierte, nicht als Integration (2011, S. 13). 

 

Übersetzt vom Autor


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