Es schreibt: Veronika Tuckerová
(Echos, 30. 3. 2015)Michelle Woods’ Publikation Kafka Translated. How Translators have Shaped our Reading of Kafka (New York, Bloomsbury 2014, 283 S.) geht der Frage nach, inwiefern die Untersuchung von Übersetzungen dazu beitragen kann, Kafka zu verstehen. Die Autorin, Anglistin an der State University of New York in New Paltz, analysiert neben Übersetzungen auch Anmerkungen von ÜbersetzerInnen, Rezensionen und theoretische Abhandlungen. Ihre Studie erscheint in einem günstigen Moment: Neben ursprünglichen Kafka-Übersetzungen ins Englische stehen Woods auch viele neuere Übersetzungen zur Verfügung, die seit Ende der 1980er Jahre auf der Grundlage der kritischen Kafka-Gesamtausgabe nach und nach erscheinen. In diesen neuen Ausgaben versuchten HerausgeberInnen und ÜbersetzerInnen „to recover what was felt to be lost: pieces of text [...], the ambiguity and strangeness of the language and the subsequent humor of it“ (S. 3). Zugleich belegt Woods’ Studie, dass das Thema Übersetzung im angloamerikanischen Raum im letzten Jahrzehnt auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Es werden mehr Übersetzungen als je zuvor publiziert und übersetzerische Fragestellungen sind Gegenstand kontinuierlicher kritischer und wissenschaftlicher Betrachtungen geworden (Woods selbst ist Autorin von Studien zu Übersetzungen der Werke Milan Kunderas oder über die Zusammenhänge zwischen Theater, Zensur und Übersetzung).
Kafka Translated widmet sich vier bedeutenden ÜbersetzerInnen Franz Kafkas (Milena Jesenská, Willa Muir, Mark Harman und Michael Hofmann). Die Wahl mag auf den ersten Blick ein wenig beliebig erscheinen (eine Übersetzerin ins Tschechische, drei ins Englische, zwei frühere und zwei zeitgenössische), doch sie verdeutlicht exemplarisch die Verschiebungen in den Herangehensweisen der ÜbersetzerInnen seit den 1920er Jahren bis in die Gegenwart. Den zentralen theoretischen Hintergrund von Woods’Arbeit bildet die Translationstheorie von Lawrence Venuti; dass dessen Theoriekonzepte von der Autorin bisweilen ohne Quellennachweis benutzt werden, zeugt davon, inwieweit diese Theorien in der amerikanischen Anglistik bereits heimisch wurden. In Anlehnung an seine Terminologie nennt sie Übersetzer und Übersetzerinnen „embodied agents“ (physische Mittler) und „holistic, gendered, and literary beings“ (holistische, geschlechtliche und literarische Wesen) (S. 6). Anstatt die jeweiligen Übersetzungen zu bewerten, gibt sie den ÜbersetzerInnen Raum, macht sie sichtbar und lässt sie über ihre übersetzerischen Herangehensweisen und Entscheidungen berichten. Ihre Übersetzungen bettet sie in den Kontext spezifischer übersetzerischer Denkweisen ein, sie skizziert, inwieweit die „Exilerfahrungen“ die literarische Sprache der ÜbersetzerInnen beeinflusst haben (Woods bezeichnet Jesenskás Aufenthalte in Wien und Muirs in Prag als Exil), aber sie stellt sie auch in Zusammenhang mit Verlags- und Editionspraxis und dem literarischen Umfeld zur damaligen Zeit.
Woods spricht Jesenská und Muir Verdienste zu, die ihnen in jener Zeit abgestritten wurden, in der das Übersetzen als zweitrangige literarische Tätigkeit galt (eine Tendenz, die laut der Autorin im englischsprachigen Kontext noch immer anhält), sowie aufgrund ihrer marginalisierten Position als Frauen. Bei Jesenská, der ersten Kafka-Übersetzerin überhaupt, hebt Woods die Qualität ihrer eigenen journalistischen Texte hervor und trägt somit zu ihrer „Demystifizierung“ als Kafkas Geliebte bei, einem Bild, das im anglophonen Kontext vorherrscht. Positiv bewertet Woods ihre wortgetreue Übersetzung der Erzählung Der Heizer, die Kafka in einem seiner Briefe thematisierte. Im Unterschied zu einigen Kritikern, die diese „Treue“ als Ergebnis von Jesenskás mangelnden Deutschkenntnissen und fehlender übersetzerischer Erfahrung kritisierten, sieht Woods darin eine Offenheit gegenüber dem literarischen Experiment und stilistischer „Transgression“. Mit Verweis auf die von Stanislav Kostka Neumann herausgegebene Zeitschrift Kmen, wo Der Heizer als die erste Übersetzung von Kafkas Werk in eine andere Sprache erschien (Kmen 4, 1920–21, Nr. 6 vom 22. 4. 1920, S. 61–72), behauptet Woods von Jesenská: „She was fortunate also to be translating in a place and era in which these transgressions were actively sought out for their perceived enunciation of their potential for aesthetic, and with it social, change.“ (S. 27) Dies ist durchaus ein interessanter Blick auf Jesenskás Übersetzungen, denen, wie Woods zurecht anmerkt, die Kritik kaum Aufmerksamkeit schenkte. Die Autorin berücksichtigte allerdings nicht den Artikel von Josef Čermák, der die Wortwörtlichkeit in Jesenskás Übersetzungen, diese sklavenhafte Beibehaltung deutscher Wortstellung, auf historische Gründe zurückführt. Ist Wortwörtlichkeit Ausdruck unbewusster sprachlicher Interferenz oder Ergebnis einer durchdachten Entscheidung? Woods lässt die lange Tradition der Übersetzung aus dem Deutschen ins Tschechische außer Acht, mitsamt ihrer spezifischen stilistischen und syntaktischen Problemen, und mit klarer Sympathie für Jesenská bewertet sie ihre Übersetzung mit heutigen Maßstäben, die Genauigkeit fordern. Übersetzer wie Harman versuchten Kafkas Sätze möglichst wortgetreu wiederzugeben und die Sparsamkeit oder gar Kargheit des Originals zu erhalten.
Erste Kafka-Übersetzungen ins Englische stammen von Willa und Edwin Muir, die von 1921 bis 1924 in Prag gelebt hatten (1930–1948 übersetzten sie Das Schloß, Der Proceß und Amerika). Auch wenn die Übersetzungen meist Edwin Muir zugeschrieben wurden, erkennt Woods anhand von Archivmaterialien eine wesentliche Beteiligung Willa Muirs an der Autorschaft. Die Übersetzungen der Muirs wurden für ihre mangelnde Genauigkeit kritisiert, dafür, dass sie dem modernistischen Stil Kafkas nicht entsprochen und die Sprache „normalisiert“ hätten. Woods versucht die Autoren zu rehabilitieren und argumentiert, dass die Muirs Kafkas Stil sehr wohl verstanden und geschätzt hätten – letztendlich war es ihr Verdienst, dass Kafka auf Englisch erscheinen konnte –, doch sie seien sich auch dessen bewusst, dass sie die Sprache eines unbekannten Autors „domestizieren“, sie in ein „natürliches Englisch“ übertragen müssten, das dabei für die beiden Schotten alles andere als natürlich war. Nur so hätten sie Kafka den Weg zu einer englischsprachigen Leserschaft ebnen können. Wie Woods in ihrem fesselnden Portrait Willa Muirs erwähnt, war diese selbst Autorin moderner experimenteller Prosa.
Mit Harman und Hofmann gelangen wir in die „große Ära neuer Übersetzungen“ (Harmans Aussage, S. 91) nach 1987, in der Verleger aus den USA und Großbritannien begannen, neue Kafka-Übersetzungen in Auftrag zu geben. Sehr aufmerksam liest Woods, was Harman und Hofmann über ihre Herangehensweisen und konkreten übersetzerischen Entscheidungen in unterschiedlichen Vorworten, Essays oder Interviews schreiben. Interessant ist ihre Abhandlung über das Englische der beiden Übersetzer (Harmans irische Herkunft, Hofmanns deutscher Vater) und ihre literarische Sprache (zum Beispiel, was Harman von Beckett, über den er schrieb, gelernt hat und was er davon in seine Übersetzung einfließen lässt).
Woods’ Analysen verdeutlichen, wie sich im Laufe der Zeit die Anforderungen an literarisches Übersetzen gewandelt haben. Ihre Herangehensweise negiert implizit die gängige Behauptung, dass neue Übersetzungen die älteren zwangsläufig ersetzten. Sie vertritt die interessante Meinung, dass es Autoren neuerer Übersetzungen „leichter haben“, weil sie einen etablierten Klassiker und keinen neuen Autor übersetzten und es sich deswegen leisten könnten, eine anspruchsvollere, experimentelle Sprache zu verwenden (S. 89). Neue Übersetzungen, wie die von Harman, bieten uns mit David Damrosch „einen modisch postmodernen Kafka“. Heute könnten wir seinen Stil wertschätzen, denn wir sind durch „postmodernism's love of fragments, internal contradiction and incompletion“ geschult (S. 88). Erst in neueren Übersetzungen, so Woods, kann Kafkas Humor richtig in Erscheinung treten.
Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich einerseits mit „Übersetzung“ als Thema in Kafkas Prosa und andererseits mit der „Übersetzung“ von Kafkas Texten in unterschiedliche filmische Gestaltungen, unter anderem auch Vladimír Micháleks Amerika-Verfilmung von 1993. Woods lässt sich von zeitgenössischen Studien über „literarische ÜbersetzerInnen“ in der englischsprachigen Literatur inspirieren. Besonders umfassend ist ihre Analyse des zentralen Kapitels in Der Proceß, in der Übersetzung konkret thematisiert wird. Die Betrachtung von Josef K. als Dolmetscher oder Übersetzer (in der Begegnung mit dem italienischen Gast, den er durch Prag führen sollte) bietet die Möglichkeit einer ausdifferenzierten Interpretation der Kernparabel im Prosatext Vor dem Gesetz. In Woods’ Analyse überzeugen am meisten die Stellen, wo sie sich mit spezifischen Aspekten des Übersetzens und Dolmetschens befasst: in der nonverbalen Kommunikation des Josef K. (seiner Körpersprache mit Händen und Lippen) oder in der Konstruktion des Erzählers als Übersetzer im übertragenen Sinne. Weniger konstruktiv und methodologisch fragwürdig erscheint mir hingegen die Verwendung des Begriffs „Übersetzung“ für „fehlende oder mangelnde Kommunikation“, eine durchaus häufige Interpretationsfigur in Fachtexten über Kafka.
Doch an Woods’ Analyse ist vor allem fraglich, inwiefern es überhaupt sinnvoll ist, ein und denselben Begriff der „Übersetzung“ (translation) sowohl für eine interlinguale Übertragung (Roman Jakobson) wie auch filmische Adaption des Textes und sogar auch im Sinne von Interpretation zu verwenden. In anderen Sprachen ist im Übrigen eine solche begriffliche Flexibilität nicht möglich, oder zumindest nicht ganz so einfach. Somit zeigt Woods’Studie nebenbei, dass auch Übersetzungsdiskurse nicht immer übersetzbar sind. Konstruktiv ist hingegen der von der Autorin vorgeschlagene Begriff „transreading“ für solche Übersetzungsanalysen, die eine neue Lesart des Ausgangstextes ermöglichen.
Das Buch bietet einen Einblick in den „englischen Kafka“, in die spezifische Rezeption seines Werkes in englischer Übersetzung, und ist eine Inspirationsquelle für alle, die sich für Kafka im Speziellen oder für Übersetzung im Allgemeinen interessieren. Die Stärke der Studie liegt in der sorgfältigen Präsentation von bisher auf Englisch nicht zugänglichen Materialien, sowie im Umfang und der fundierten Analyse der Quellen. Das tschechische Publikum kann die mit Eleganz und Humor verfasste Publikation dazu anregen, über die Unterschiede zwischen verschiedenen Kafka-Übersetzungen ins Tschechische nachzudenken.
Übersetzung: Martina Lisa