Es schreiben Alena Jakubcová und Eva Jelínková

(24. 11. 2014)

Jitka Ludvovás Buch Až k hořkému konci. Pražské německé divadlo 1845–1945 [Bis zum bitteren Ende. Prager deutsches Theater 1845–1945], das monografisch das Thema der Prager deutschsprachigen Theaterlandschaft aufarbeitet, erschien vor fast genau zwei Jahren (Prag, Academia, 798 S. sowie weitere Materialien auf CD-ROM). Es wurde zum Höhepunkt der langjährigen Arbeit Ludvovás auf dem Gebiet der historischen Theaterforschung – und unlängst wurde der Autorin dafür eine erste öffentliche Anerkennung zuteil: Am 22. Oktober 2014 nahm sie im sächsischen Chemnitz den Ehrenpreis zur deutsch-tschechischen Verständigung entgegen, der unter dem Vorsitz des Adalbert-Stifter-Vereins von deutschen und tschechischen Institutionen verliehen wird.

 

Die veröffentlichte Monografie basiert prinzipiell auf den eigenen langjährigen und intensiven Quellenstudien der Autorin. Die erste auf dieses Thema ausgerichtete Gesamtpublikation, an der Ludvová als Autorin wie auch als Herausgeberin mitwirkte, war der 2001 erschienene Sammelband Deutschsprachiges Theater in Prag. Begegnungen der Sprachen und Kulturen (der u. a. einen äußerst nützlichen Überblick über die historischen Spielstätten und Theater enthält, an denen auf Deutsch gespielt wurde). Ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einer monografischen Gesamtdarstellung bestand in der Veröffentlichung einer (gemeinsam mit Helena Pinkerová erstellten) kommentierten Auswahl von Theaterkritiken Ferdinand Břetislav Mikovec‘, die einen tieferen Einblick in die Situation der „Prager Thalia um 1850“ (so der Untertitel der 2010 auf Tschechisch erschienenen Edition) bietet. Mit der Herausgabe der Monografie ist für Ludvová jedoch die Forschung zu diesem Thema keineswegs abgeschlossen. Davon zeugt ihre gegenwärtige Beteiligung an dem anspruchsvoll konzipierten Lexikonprojekt Německá činohra v českých zemích v 19. století (dt. u. d. T. Deutschsprachiges Schauspiel in den böhmischen Ländern im 19. Jahrhundert), dessen leitende Redakteurin sie ist. Die fortlaufend ergänzten und (auf der Webseite der Tschechischen Theaterenzyklopädie) auch online zugänglichen biografischen Artikel sind Resultat umfangreicher heuristischer Forschungen und ihr Bearbeitungsniveau hält zweifelsohne einem Vergleich mit dem Lexikon české literatury [Lexikon der tschechischen Literatur] stand.

 

Das Buch Až k hořkému konci schildert die Geschichte der Prager Theaterlandschaft ab Mitte des 19. Jahrhunderts, nach deren endgültiger, vom Prager Ständetheater ausgehender Spaltung in einen tschechischen und einen deutschsprachigen Zweig. Es verfolgt die Entwicklung des deutschsprachigen Theaters im Kontext der deutsch-tschechischen Beziehungen, in Nachbarschaft zum tschechischen Kulturleben und im Vergleich zu tschechischen Pendants. Gegenstand der Betrachtung sind Schauspiel und Oper, deren wirtschaftlicher und administrativer Kontext, ihr Repertoire wie auch bedeutende Persönlichkeiten der beiden großen Prager deutschen Bühnen. Was die Aufarbeitung dieses Kapitels der Theatergeschichte betrifft, bestand bereits seit Jahrzehnten eine spürbare Lücke. Die bisherige Forschung brachte zwar Teilerkenntnisse, die jedoch nicht in konzentrierter und kohärenter Form vor einem breiteren historischen Hintergrund ausgeführt und interpretiert wurden. Die Gesamtdarstellung der Autorin füllt damit in vorbildlicher Weise einen „blinden Fleck“ der Kulturgeschichtsschreibung.

 

Jitka Ludvová erforscht das Theater in einem Kontext, der gesellschaftliche, politische, nationale, wirtschaftliche, soziologische, kulturhistorische wie auch persönlich-individuelle Existenz-, Funktions- und Wirkungsbedingungen des deutschsprachigen Theaters umfasst. Ihre Argumente und Schlussfolgerungen gewinnen hierdurch eine große Überzeugungskraft, sie sind neu und bahnbrechend. Das Vorgehen der Autorin imponiert zudem durch das Bemühen um einen möglichst objektiven Blick und eine nüchterne Bewertung. Das Theater erscheint so per se an einer Schnittstelle aller bedeutenden historischen Ereignisse der jeweiligen Zeit, als deren Spiegelbild und Mitgestalter. Dieses Erfassen der Funktion des Theaters als eines sensiblen Indikators verschiedenster Tendenzen und Konflikte – und dies nicht nur in den böhmischen Ländern, sondern auch im gesamteuropäischen Kontext – ist neben all den konkreten und detaillierten Feststellungen zur Geschichte des Theaterbetriebs der wertvollste Beitrag dieser Publikation.

 

Ludvovás Darstellung verdeutlicht auf mehreren Ebenen, in welch engen gegenseitigen Bezügen, anfangs auch Abhängigkeiten, sich das tschechische und das deutsche Theater entwickelten: Eine „Bewegung“ in einer der beiden miteinander verbundenen Waagschalen machte sich früher oder später auch auf der anderen Seite bemerkbar. Die 1862 erfolgte Spaltung der Prager Theaterlandschaft, d. h. die sprachliche Teilung des vormals gemeinsamen Ensembles am Prager Ständetheater, war – so Ludvová – für das deutschsprachige Theater der „Beginn einer Katastrophe“: „Die Krise des separaten deutschsprachigen Ensembles erreichte ihren Höhepunkt gerade zu jener Zeit, als das tschechische Theater Boden unter den Füßen gewann“ – in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts, und zwar insbesondere durch den Verlust des tschechischen Publikums, das nun gänzlich aufhörte, deutschsprachige Vorstellungen zu besuchen (S. 30f.). Doch auch in den Jahren der erneuten Stabilisierung, im „goldenen Zeitalter“ der Intendanz Angelo Neumanns (1885–1910), als neben dem Königlich Deutschen Landestheater (dem vormaligen Ständetheater) ab 1888 auch das Neue Deutsche Theater (die heutige Prager Staatsoper) zu spielen begann, verlor das deutsche Theater das Geschehen auf der tschechischen Seite nicht aus den Augen. So gewann z. B. für das Prager deutsche Theater die Frage nach der Aufnahme einheimischer deutschsprachiger Theaterstücke in das Repertoire erst mit der wachsenden tschechischen Konkurrenz durch das Nationaltheater (Národní divadlo) an Bedeutung (vgl. S. 116f.). Mit der Beschlagnahmung des Ständetheaters im Jahr 1920 musste sich nicht nur das deutsche Theater abfinden, dessen damaliger Intendant Leopold Kramer (1918–1927) gezwungen war, schnell eine Ersatzspielstätte zu suchen, sondern auch das tschechische Theater, das damit zwar um eine neue große Bühne, aber ebenso um einige personelle, ökonomische und konzeptuelle Schwierigkeiten reicher wurde. Trotz anhaltender Spannungen zwischen beiden Lagern begannen in den zwanziger Jahren allmählich auch tschechische Stücke auf die deutsche Bühne vorzudringen (insbes. von Karel Čapek und František Langer).

 

In der Zeit seit ihrer Veröffentlichung ist Ludvovás umfangreiche und bahnbrechende Publikation mehrfach von Literaturhistorikern (Peter Demetz, Dalibor Tureček, Brigitte Schultze, Steffen Höhne) wie auch von Musikhistorikern (John Tyrrell, Tereza Berdychová) rezensiert worden. Zu Recht wurde dabei auf die Genauigkeit, Kenntnis und Gewissenhaftigkeit der Autorin bei der Behandlung dieses elementaren Kapitels der böhmischen Kulturgeschichte hingewiesen. Der Umfang der Publikation macht es jedoch – selbst in einer noch so detaillierten Rezension– schier unmöglich, alle Entdeckungen und Beiträge des Buches zu würdigen. Nur am Rande wurde daher registriert, dass Až k hořkému konci auch die überhaupt erste moderne Zusammenfassung zum Drama deutschsprachiger Autoren aus den böhmischen Ländern beinhaltet. Während Lyrik und Prosa der sog. Prager deutschen Schriftsteller insbesondere seit dem letzten Vierteljahrhundert erneut die Aufmerksamkeit einheimischer und ausländischer Forscher auf sich ziehen, wird das Drama nach wie vor nur marginal wahrgenommen (die vielleicht letzte „Gesamtdarstellung“ zur deutschböhmischen und deutschmährischen Dramenproduktion hat Otto Pick vorgelegt, und zwar in einem wenige Zeilen umfassenden Absatz des Artikels „Německá literatura v ČSR“ [Deutschsprachige Literatur in der ČSR] im Lexikon Ottův slovník naučný nové doby [Ottos Konversationslexikon der neuen Zeit] aus dem Jahr 1931; ein Jahr zuvor war im Sammelband Prager Theaterbuch ein Überblicksartikel von Josef Mühlberger erschienen). Einer der Gründe hierfür ist wohl, dass sich die Forschung zur deutschsprachigen Literatur der böhmischen Länder nach wie vor zu stark und zu unkritisch auf die Memoiren Max Brods beruft, in denen das Theater (obgleich Brod in der Presse eine Reihe von Artikeln und Kritiken zu Neuinszenierungen publizierte) schlichtweg zu kurz kommt.

 

Erst Ludvovás Monografie vermittelt einen detaillierten Überblick über Dramen deutschböhmischer und deutschmährischer Autoren, die an Prager deutschen Theatern inszeniert wurden oder inszeniert werden sollten. Neben Schriftstellern, die allgemein eher als Lyriker oder Prosaautoren bekannt sind, deren Werk jedoch unter anderem Dramen umfasst (F. Adler, H. Salus, L. Winder, F. Werfel, M. Brod, P. Leppin – reiner Dramatiker war vielleicht nur P. Kornfeld), führt die Autorin auch weniger bekannte oder gänzlich unbekannte Persönlichkeiten an: So werden Stücke von Louis Weinert, Peter Riedl, Robert Michel, Emil Faktor, Hans Müller-Einigen, Christian von Ehrenfels, Karl Kreibich, Hans Klaus, Dietzenschmidt u. a. vorgestellt. Über jenen Peter Riedl (1852 – ca. 1925) zum Beispiel, Autor von zehn Theaterstücken und zwei Libretti, konnte man bislang nur in Artikeln lesen, die in den detailliertesten Literaturlexika verborgen waren.

 

Biografische Daten wie auch Informationen zu Bühneninszenierungen der jeweiligen Dramatiker werden von Ludvová in einem weiteren, nahezu dreihundert Seiten umfassenden Text vermittelt, der dem Buch auf CD-ROM beigelegt ist. Diese enthält neben einem wertvollen biografischen Wörterbuch eine Auflistung der Ensemblemitglieder beider deutschsprachiger Bühnen während deren gesamter Bestehensdauer, neben dem Repertoire des Schauspiels auch das von Oper und Operette, die Programme der Prager Mai-Festspiele, das Repertoire ausländischer Gastensembles sowie eine Übersicht zu Inszenierungen von Werken tschechischer Autoren. Ebenfalls profitieren kann man von dem am Ende der CD-ROM befindlichen Quellen- und Sekundärliteraturverzeichnis, das in drei zeitliche Abschnitte gegliedert ist. Im Ganzen geht Až k hořkému konci weit über das eigentliche Gebiet der Theaterwissenschaft hinaus und bietet auch für andere Fächer wertvolle Erkenntnisse und Bereicherungen, so neben der Literatur- und Musikgeschichte insbesondere für die allgemeine Geschichte, konkret zum deutsch-tschechischen Verhältnis in den böhmischen Ländern von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg.

 

 

Übersetzung: Ilka Giertz


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