Es schreibt Eva Jelínková
(Echos, 15. 9. 2014)Kurt Krolop und Prag
„Wenn irgendwo, hatte ich hier heimatliches Gefühl,“ schrieb der Schriftsteller Ernst Weiß über sein Leben in Prag. Seine Stellungnahme, warum er Prag verließ (in Prager Tagblatt 47, 1922, Nr. 127, 2. 6., S. 6), ist eine von hunderten Entdeckungen, die der deutsch-tschechische Germanist Kurt Krolop (1930) bei seinen Forschungen zur deutschsprachigen Literatur aus Böhmen zu Tage förderte und zur weiteren Verfügung bereitstellte. Er selbst, gebürtig aus dem nordböhmischen Kravaře (Graber), wurde nach dem Krieg aus der Tschechoslowakei vertrieben; nach einem Studium der Anglistik, Germanistik und Slavistik in Halle kam er erstmals für längere Zeit im Jahre 1957 wieder nach Prag als Lektor für deutsche Literatur an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität. Innerhalb von fünf Jahren trug er hier Material und Literatur zu seinen beiden fachlichen Lebensthemen zusammen, zur Prager deutschen Literatur und zu Karl Kraus. Von der Universität in Halle kam er 1967 erneut nach Prag, um der Abteilung für Geschichte der Prager deutschen Literatur an der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften vorzustehen. In den einsetzenden „Normalisierungsverhältnissen“ nach der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Truppen des Warschauer Pakts ging die Arbeitsstelle unter; 1970 wurde Krolop zum zweiten Mal ausgewiesen und man entzog ihm die (kurz zuvor wiedererworbene) tschechoslowakische Staatsbürgerschaft. Dauerhaft siedelte er im Dezember 1989 nach Prag über, zunächst als Gastprofessor, später als Leiter des Lehrstuhls für Germanistik an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität.
Obwohl seither ein Vierteljahrhundert verstrichen ist, hat ein breiteres tschechisches Publikum erst in letzter Zeit die Gelegenheit, mit dem literaturhistorischen Werk des Pragers Kurt Krolop Bekanntschaft zu schließen. Václav Petrbok und Michal Topor stellten den Literaturhistoriker, Herausgeber und Pädagogen 2011 mit einem Kurzportrait und -interview in der bohemistischen Zeitschrift Slovo a smysl ([Wort und Sinn], Nr. 16, S. 153f.) vor. Die letztjährigen Eseje o německéromantice ([Essays zur deutschen Romantik], Červený Kostelec, Verlag Pavel Mervart) konzentrierten sich auf Krolops begleitende Studien zu den im tschechoslowakischen Verlag Odeon erschienenen Übersetzungseditionen der 1970er und 80er Jahre (Novalis, Bonaventura, Ludwig Tieck und E. T. A. Hoffmann). Anfang des Jahres erschien endlich eine Publikation, die Einblick ins Herz von Krolops Forschungen gewährt – die Übersetzung zweier grundlegender literaturhistorischer Abhandlungen gemeinsam mit einer ausführlichen Werkbibliografie des Autoren unter dem Namen O pražské německé literatuře ([Zur Prager deutschen Literatur], Prag, Verlag Franz Kafka, 120 S.).
Für das Buch wurden vom tschechischen Germanisten Jiří Stromšík zwei klassische Arbeiten Krolops ausgewählt und übersetzt, die seine beiden hauptsächlichen, „am intensivsten bearbeiteten Forschungsfelder“ (so der Übersetzer bei der Prager Buchvorstellung am 2. April 2014) repräsentieren: Für die Forschungen zur Prager deutschen Literatur steht hier die ursprünglich als Referat auf der zweiten Liblice-Konferenz vorgetragene Studie Zur Geschichte und Vorgeschichte der Prager deutschen Literatur des „expressionistischen Jahrzehnts“ (1965, zuerst in Weltfreunde, 1967), während zu Werk und Wirkung von Karl Kraus die 30 Jahre jüngere Abhandlung Prager Autoren im Lichte der „Fackel“ abgedruckt wurde (in Prager deutschsprachige Literatur zur Zeit Kafkas, 1989). Der schmale Band mit der schwarzweißen Fotografie des Kinsky-Palais mit dem Laden von Kafkas Vater auf dem Umschlag erweckt zunächst den Eindruck, dass man als Leser einen einfachen Schlüssel zum Verständnis des Phänomens der deutschsprachigen Literatur aus Prag in die Hand bekommt. Einen Schlüssel sehr wohl, jedoch keineswegs einen einfachen: Wie bekannt, gibt Kurt Krolop keine simplifizierenden Lehrsätze vor, sondern liefert ein weit ausgebreitetes Netz an Fakten, deren Interpretation es ermöglicht, Beziehungen zu weiteren, zusammenhängenden Tatsachen zu knüpfen (dies ist das Reich von Krolops berüchtigtem Anmerkungsapparat); der Autor begnügt sich freilich nicht mit der Beschreibung gründlich ausgewählter Quellen, das ausgewertete Material dient ihm als Stütze, Schlussfolgerungen und Thesen von allgemeinerer Gültigkeit zu formulieren.
Beide Themenkomplexe, die Prager deutsche Literatur sowie Karl Kraus, verfolgt Kurt Krolop zeitlebens in ihren wechselseitigen Beziehungen – und eben jene Liblicer Studie, in der die allmähliche Emanzipation der Prager deutschen, vorwiegend jüdischen Literaten von der traditionellen bourgeoisen Welt und dem liberalen Programm ihrer assimilierten Väter in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts beschrieben wird, weist bereits hin auf die „große Bedeutung [...], die Karl Kraus mit seiner ‚negativen Art des Protestes‘ als Beförderer dieser ‚Gegenbewegung in der Jugend‘, als Analytiker und Kritiker bürgerlich-liberaler Denk- und Lebensformen gerade für die jungen deutschen Autoren Prags gehabt hat“ (S. 29f.). Die aufgenommene Studie über Kraus bringt eine Reihe weiterer Belege mit sich; „Die Fackel“ hatte in Prag (nach Wien) wohl die meisten Leser, Prag war ein wichtiger Ort von Kraus‘ Vorlesungstätigkeit. Kurt Krolop entwickelt an dieser Stelle (S. 82f.) seinen außerordentlichen Fund aus den 60er Jahren weiter: Er skizziert die Gedankenwelt des jungen Prager „antiliberalen Frondeurs“ Max Steiner (1884–1910), des ersten Autoren, „der sich mit Gehalt und Tendenz der ‚Fackel‘ rückhaltlos identifizierte“ (S. 26 u. 83). Krolop belegt auch überzeugend – anhand von Passagen aus dem Nachlassband Steiners (Die Welt der Aufklärung, hrsg. von Kurt Hiller, 1912) –, dass der Lehrer selbst sich von dem Philosophen, seinem „Meisterschüler“, inspirieren ließ.
Dies ist jedoch nur eine von vielen Linien, die Krolop in seinem Artikel verfolgt. Die fachlichen Arbeiten des Autors, und dies gilt auch für weitere Prag- und Kraus-Studien, die im deutschen Original nach und nach in den Büchern Sprachsatire als Zeitsatire bei Karl Kraus (1987), Reflexionen der Fackel. Neue Studien über Karl Kraus (1994) sowie Studien zur Prager deutschen Literatur (2005) erschienen, sind nämlich größtenteils auf eine solch glückliche Weise divergent; ihr Schwerpunktthema wird durch die sorgsam erstellte, geräumige Konstruktion des literarischen und geistigen Kosmos der gegebenen Zeit beleuchtet. Eine solche Schreibweise erlegt dem Leser verständlicherweise gewisse Anstrengungen auf, und es stellt sich die Frage, ob das vermeintlich gut lesbare Kleinformat und der spärliche Satz des Haupttextes (von dem durch die Überfülle des fortlaufend abgedruckten Anmerkungsapparats auf einer Seite öfters kaum zehn Zeilen übrig bleiben) dem Charakter des Textes gerecht wird und seine Aufnahme wirklich erleichtert.
Es ist jedoch nicht nur Krolops positivistisch-philologische Methode, die das schmale Bändchen meilenweit von einer leichtbekömmlichen, „auf den Punkt gebrachten“ Lektüre entfernt, die keine Konzentration erfordern würde, geschweige denn eigenes Denken. Krolop ist nicht an Wortwörtlichkeit gelegen, vielmehr nutzt er, ähnlich wie „sein“ großer Satiriker, alle erdenklichen Möglichkeiten seiner Muttersprache (dies insbesondere in der jüngeren Studie). Lange Nebensätze mit einer ganzen Reihe elaborierter Attribute, Abschweifungen und Einschüben sind für den Übersetzer eine harte Nuss. Jiří Stromšíkhat bewiesen, dass man Krolop ebenso gut auf Tschechisch lesen kann. Das Ergebnis seiner Übersetzungsarbeit liefert darüber hinaus einen bedeutenden Beitrag zur bislang nicht festgelegten Terminologie auf diesem Gebiet: Die tschechischen Übersetzungen von Namen wie Rede- und Lesehalle der deutschen Studenten in Prag, Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag, Verein „Allmutter Schlaraffia“ und weitere Begriffe sind das greifbare Nebenprodukt und der Gewinn der Edition, auf dem man weiter aufbauen kann.
Ein großer Beitrag des Buchs besteht in der detaillierten Bibliografie von Krolops in Buchform sowie in Zeitschriften publizierten Arbeiten, erstellt von Jiří Stromšík. Dieser war es auch, der bei der Vorstellung des Buchs die Absicht bekannt gab, eine umfangreichere Übersetzungsauswahl herausgeben zu wollen, die von den ungefähr 115 angegebenen Titeln an die 40 beinhalten soll. Abdecken soll die Auswahl beide Haupttätigkeitsfelder, in denen Krolop Jahrzehnte lang als „die erste Autorität“ galt und weiterhin gilt: Das tschechische Publikum wird dann endlich die Gelegenheit bekommen, neben seinen rein germanistischen auch die komparatistischen Arbeiten „über wechselseitige, von der tschechischen Seite bisher übersehene Beziehungen zwischen der tschechischen und deutschen Kultur“ und seine „Aufsätze oder gelegentliche[n] – allerdings fundamentale[n] – Bemerkungen über Karel Čapek, Hašek, Peroutka, Poláček, Šalda und viele andere“ (J. Stromšík in Stifter Jahrbuch, N. F., 2000, B. 14, S. 113) wertschätzen zu können.
Das ist gewiss nicht wenig und gewiss längst nicht alles. So hebt Kurt Krolop bei Max Steiner beispielsweise die Forderung hervor, „dass als aufgeklärt sich verstehendes Denken auch und gerade im Namen wahrer Aufklärung sich bedingungslos und konsequent dem kritischen Imperativ intellektueller Redlichkeit zu unterwerfen habe“, und weist darauf hin, dass jener mit intellektueller Schärfe und sprachlichem Schliff die „Aporien linearen Fortschrittdenkens, die seit der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno zu ideologiekritischen Gemeinplätzen geworden sind“, offengelegt habe (S. 82). Mit ähnlichen Kommentaren geht Krolop oft über den abgegrenzten (nämlich doch nur im Speziellen eingeengten, literaturhistorischen) Rahmen und Bestimmung seines Artikels hinaus und wirft Fragen von allgemeinerer Bedeutung auf. Für tschechische Leser dürfte von Interesse sein, wie man einem solchen überindividuellen Anspruch gerecht werden und für ihn mit einem literaturhistorischen Werk bürgen kann, das sich zum großen Teil in einer Zeit kommunistischer Willkür entfaltete.
Übersetzung Martin Mutschler
(Die Auszüge aus den Abhandlungen Kurt Krolops werden gemäß der Originalfassung in den Studien zur Prager deutschen Literatur, 2005, zitiert.)