Es schreibt Manfred Weinberg
(18. 8. 2014)Bücher lassen sich meist schon von ihrem Einband her charakterisieren – so auch Hartmut Binders Studie Kafkas Wien. Portrait einer schwierigen Beziehung (Prag, Vitalis 2013, 456 S.). Auf dem vorderen Teil des Schutzumschlags sind 6 Fotos gruppiert, wovon eines als größtes und unter dem Titel platziertes besonders heraussticht: Kafka mit Albert Ehrenstein, Otto Pick und Lise Weltsch in einer Flugzeug-Attrappe im Wiener Prater. Und siehe da: Kafka lächelt höchst entspannt, während Ehrenstein und Pick befremdet wirken, in welche Tiefen der Volksbelustigung sie sich da verirrt haben! Diesen ‚anderen‘ Kafka zeigt auch Binders Text immer wieder; so liest man u.a.: „Im persönlichen Verkehr pflegte sich Kafka [...] vor seinen Freunden mit lustig-bizarren Einfällen und Phantastereien hervorzutun, und in einigen seiner Werke finden sich Passagen von umwerfender Komik“ (S. 45). Von Komik und Lustigkeit war im Zusammenhang mit Kafka bisher viel zu selten die Rede ...
Der vordere Klappentext stellt Hartmut Binder als „besondere[n] Kenner von Leben und Werk Franz Kafkas“ vor. Auf dem hinteren Einband liest man: „Es ist ein weißer Fleck auf der Landkarte der Kafkaforschung: des Prager Schriftstellers Beziehung zu der Hauptstadt des Kaiserreiches, dessen Untertan er war.“ Weiter heißt es: „Dieser üppig mit Bildern ausgestattete Band führt an die Stätten, die der Schriftsteller mit seiner Anwesenheit nobilitierte, benennt die von ihm geschätzten und abgelehnten Wiener Schriftsteller und Bühnenkünstler und zeigt die Ursachen seiner Wien-Aversion auf. So erhält der Leser erstmals erschöpfend Auskunft über den Rang, den die Stadt und ihre Bewohner in Kafkas Leben und Denken einnahmen.“ Das ist tatsächlich eine gute Charakteristik des Buchs, doch auch ein erster Grund zur Verwunderung: Warum sollten „Stätten“ durch Kafkas Anwesenheit ‚nobilitiert‘ worden sein? Es zeigt sich in dieser Formulierung ein Hang zur Hagiographie, der zum Glück nicht den Stil des Buches bestimmt.
Auf dem rückwärtigen Einband findet sich ein anonymes Lob aus der Stuttgarter Zeitung: „Was die Sternwarte von Greenwich für die Zeitmessung, das ist Binder für die Kafka-Forschung.“ Bei näherem Nachdenken verwundert auch dieses Diktum. Die „Greenwich Mean Time“ war einmal die Orientierungsgröße zur Angabe der Zeit auf der ganzen Welt, die allerdings heute durch die Weltzeit UTC abgelöst worden ist. Es wäre billig, daraus zu schließen, dass auch Binders Ansatz überholt sei, wenn er auch sicher einer der letzten Vertreter einer derart faktengesättigten Variante der Germanistik ist. Die „Sternwarte von Greenwich“ ist jedenfalls das Paradebeispiel physikalischer Exaktheit. Was aber soll man mit solcher Exaktheit in kulturwissenschaftlichen Kontexten anfangen, in denen es ja eher um ein Verstehen von Zusammenhängen geht?
Dass Binder Kafkas Beziehung zu Wien in exaktester Weise ‚vermisst‘, ist Stärke wie Schwäche seines Buchs zugleich. Die Schwäche liegt darin, dass das Buch zwar ein Thema, aber keine eigene Fragestellung hat. Und auch wenn man sich bei den in ungeheuerlicher Exaktheit aneinander gereihten Fakten gelegentlich fragt, ob man auch dieses Detail noch wissen muss, geschieht einem doch Merkwürdiges bei der Lektüre: Folgt man dem Autor in die beschriebenen und in über 300 Abbildungen präsentierten Details, fühlt man sich manchmal tatsächlich ‚mittendrin‘ – und die stellenweise ermüdende Exaktheit vermittelt gleichzeitig ein Bild von Kafka, das sich weit von allen Klischees entfernt.
Das Buch teilt sich nach einer knappen Vorbemerkung in 12 Kapitel. Das erste steht unter der Überschrift „Der Kaiser kommt“ (S. 9ff.) und behandelt die frühesten Begegnungen Kafkas mit Wienerischem – und zwar durch die Besuche Kaiser Franz Josefs I. in Prag; berücksichtigt werden aber ebenso jene Schulbücher, mit denen Kafka die österreichische Geschichte beigebracht wurde. Seinem zwischenzeitlichem Plan, nach seinem juristischen Referendariat zu einem Folgestudium nach Wien zu gehen, ist das 2. Kapitel „Projekt Exportakademie“ (S. 39ff.) gewidmet. Dann folgen minutiöse Darstellungen von aus Wien sozusagen nach Prag ‚importierten‘ Theater-Vorstellungen („Volkstheater“ [S. 45ff.] und „Im Kabarett“ [S. 63ff.]), wobei ein Effekt dieser Beschreibungen darin besteht, dass man vermittelt bekommt, wie sehr sich Kafka für dergleichen interessiert hat, was zu einer weiteren Zurechtrückung des üblichen Kafka-Bildes führt. Abgesehen davon zeigt sich hier am Beispiel Wiens die kulturelle Vernetzung Prags mit anderen europäischen Hauptstädten. In der Darstellung der Ziele der in Prag geplanten Kurt Krolop-Forschungsstelle für deutsch-böhmische Literatur heißt es: „Bisher nahezu völlig unerforscht sind Theateraufführungen sowie Vortragsveranstaltungen und -reihen, die nicht selten außer in Prag eben auch in anderen europäischen Metropolen wie auch teilweise in der ‚böhmischen Provinz‘ stattfanden“ (in Brücken, N. F., 20 [2012], S. 169–185, hier: S. 179). Das Material, das Hartmut Binder in diesen beiden Kapiteln präsentiert, zeigt jedenfalls, wie ergiebig eine solche Untersuchung sein kann, wobei er selbst jede auf einen größeren Horizont bezogene Schlussfolgerung unterlässt.
Es folgt in Kapitel 5 eine Schilderung der Wiener „Schriftsteller“ (S. 91ff.), die Kafka sehr oder gar nicht geschätzt hat und denen er begegnet ist. Ein eigenes Kapitel hat Binder dem „Fall Karl Kraus“ (S.189ff.) vorbehalten und geriert sich darin als aburteilender Richter, etwa so: „Kraus war von einer unerträglichen Selbstgerechtigkeit“ (S. 192). Anlässlich einer harschen Stellungnahme von Kraus gegen die „Autoren des Kurt-Wolff-Verlags“, die ja Kafka mit umfasste, heißt es: „Wie verblendet, von Haß zerfressen, muß Kraus gewesen sein, wie unfähig literarische Qualität zu erkennen, um zu einem solchen Urteil zu kommen“ (S. 215). Man fragt sich allerdings, was Binder dazu gebracht hat, sein eigenes Urteil über Kraus in gleicher Schärfe zu formulieren. Das 7. Kapitel beschreibt „Literatenzirkel und Kongresse“ (S. 243ff.) – u. a. Kafkas Teilnahme am II. Internationalen Kongress für Unfallversicherung und Rettungswesen und dem XI. Zionisten-Kongresses im September 1913 in Wien. Das 8., „Grabplattenbewunderer“ (S. 289ff.) überschriebene Kapitel (den Ausdruck hat Raoul Auernheimer zur Charakterisierung der Bevölkerung Wiens um die Jahrhundertwende geprägt) gilt der damaligen Rückwärtsgewandtheit des Wiener Kulturlebens, dem Binder Kafkas Faszination von Berlin kontrastiert.
Den Beschreibungen seiner Ungarn-Reisen („Nach Ungarn“ [S. 313ff.]) folgt das Kapitel „Helle Tage“ (S. 335ff.), das Kafkas Liebe zu Milena Jesenská und ihren Treffen in und bei Wien gilt, sowie „In Gmünd“ (S. 387ff.), einer minutiösen Darstellung des Treffens der beiden an diesem Ort. Dabei strapaziert zwar wiederum das genaue Nachrechnen von Zugverbindungen die Aufnahmefähigkeit der LeserInnen, doch führt gerade dies eben auch zu solchen Ergebnissen: „Die gelegentlich vertretene Behauptung, Milena und Kafka seien am Samstagabend angereist und hätten zusammen in Gmünd übernachtet – ein Kafka-Biograph erfindet sogar eine Übernachtung im dortigen Bahnhofshotel –, gehört ins Reich der Legende“ (S. 394). Adressat der Kritik ist Peter-André Alt – und man muss nur nachlesen, was dieser aus der gemutmaßten gemeinsamen Übernachtung schlussfolgert („Nahezu obsessiv umkreisen sie [die Briefe; M.W.] während der folgenden Wochen eine Erfahrung der Nähe, die mit sprachlichen Mitteln nicht darstellbar und daher für ihn auf unheimliche Weise inkommensurabel bleibt“, Franz Kafka. Der ewige Sohn. Eine Biografie, München, C. H. Beck 2005, S. 546), um Binder für solche Richtigstellungen höchst dankbar zu sein. Am Ende des Buchs steht die Darstellung von Kafkas Tod im Sanatorium in Kierling: „Alles ist in den besten Anfängen“ (S. 405ff.).
Schon diese Angabe der genaueren Themen der Studie zeigt an, dass diese keinen rechten Zusammenhang haben: Außer dass alles thematisiert wird, was Kafka mit Wien verband, hat das Buch kein spezifisches Erkenntnisinteresse – und doch ist es, wenn man eine eigene Fragestellung mit Kafka und seiner Literatur verbindet, in höchstem Maße erhellend.
Dafür am Ende nur ein Beispiel: Das im Metzler-Verlag im Frühjahr 2016, von Peter Becher, Steffen Höhne, Jörg Krappmann und mir herauszugebende Handbuch zur Prager deutschen Literatur im regionalen Kontext wird die harten Grenzziehungen, die das Bild der Prager Literatur nach den beiden Konferenzen von Liblice bis heute bestimmt haben (‚dreifaches Ghetto‘, die humanistische Prager vs. die nationalistische sudetendeutsche Literatur etc.), verabschieden und Prag, Böhmen, Mähren und Sudentenschlesien als eine Region verstehen, in der eben auch die Literatur Franz Kafkas verortet ist. Eduard Goldstücker hat auf der „Weltfreunde“-Konferenz 1965 programmatisch zur Prager deutschen Literatur geäußert: „In ihren größten Werken und ihrer Bedeutung nach ist sie nicht nur über den regionalen, sondern auch über den nationalen Rahmen weit hinaus gewachsen“ („Die Prager deutsche Literatur als historisches Phänomen“, in: ders. [Hg.], Weltfreunde. Konferenz über die Prager deutsche Literatur. Berlin, Neuwied 1967, S. 21–45, hier: S. 25); so wird dieser singularisierend jeder regionale (und sogar nationale) Kontext genommen. Man kann dem allerdings ein Detail entgegenhalten, das Hartmut Binder in Kafkas Wien anführt, nämlich das ‚Studienbuch‘ Kafkas an der „k.k. Carl-Ferdinands-Universität in Prag“, in dem es neben Angaben zu „Geburtsort, Geburtsdaten, Religion“ auch die Rubrik „Vaterland“ gab, „die von Kafka recht nachlässig ausgefüllt wurde. Denn als Vaterland erscheint hier nicht etwa Österreich oder Österreich-Ungarn, sondern, und zwar in ganz und gar willkürlicher Abfolge, Böhmen, Prag (2., 3. und 7. Semester), Österreich, Prag (4., 5. und 6. Semester) oder Prag, Böhmen (8. Semester), einmal auch nur Böhmen (1. Semester). Ähnlich verhielt sich Max Brod, der Prag, Böhmen oder einfach Prag eintrug“ (S. 36f.). Auf die verwaltungstechnische Frage nach dem „Vaterland“ antwortete Kafka – wie Max Brod – also mit dem Eintragen seiner Heimatstadt Prag oder der Region, aus der er stammte: Böhmen, was die Relevanz des regionalen Kontextes – zumindest in der Selbstwahrnehmung Kafkas und Brods – an einem Detail unter Beweis stellt.
Binders Studie ist eine wahre Fundgrube solcher Details – und man muss ihm ausdrücklich danken, dass er sie alle und in solcher Gründlichkeit seinen LeserInnen übermittelt. Man kann sich jedoch fragen, was diejenigen mit dem Buch anfangen können, denen Binders Fakten nicht zu Argumenten in einer Neuausrichtung der Untersuchungen zu Kafka und zur Prager deutschen Literatur werden können. Insofern wäre es hilfreich gewesen, wenn Binder zumindest gelegentliche Hinweise auf die weitere Bedeutung der von ihm gesammelten Fakten in sein Buch aufgenommen hätte.