Es schreibt Štěpán Zbytovský

(9. 6. 2014)

Die Editionsreihe „Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft“ des Bielefelder Verlags Transcript präsentiert seit 2012 wissenschaftliche Publikationen, die sich verschiedenen Aspekten interkultureller Begegnungen, Konflikte und Interferenzen widmen – detailliert betrachtet und auch auf der allgemeineren Ebene der Debatten über Globalisierung, Migration, Postkolonialismus u. Ä. Unter den Titeln, deren Schwerpunkte bisher in der Linguistik, Urbanitätsforschung sowie Kulturgeographie und -soziologie lagen, erschien im letzten Jahr (als vierter Band) auch ein genuin literaturwissenschaftliches Buch: Allerhand Übergänge. Interkulturelle Analysen der regionalen Literatur in Böhmen und Mähren sowie der deutschen Literatur in Prag (1890–1918), Habilitationsschriftdes Olmützer Germanisten Jörg Krappmann. Nicht nur durch die zeitliche Abgrenzung signalisiert der Titel, dass hier dem breiteren Kontext der Moderne Aufmerksamkeit gewidmet wird – Grenzstörungen und -überschreitungen spielen im Programmdiskurs der Moderne eine zentrale Rolle und sind auch, worauf im Buch hingewiesen wird, auffallend oft in der Literatur und Publizistik der böhmischen und mährischen Regionen vorhanden. Krappmann behandelt vor allem drei thematisch definierte Bereiche: literarische Bilder der nationalen Konflikte, die Darstellung von sozialen Problemen und die Relevanz der Religionsproblematik in der zeitgenössischen Literatur.      

 

In dem einleitenden Kapitel („Erklärungen“, S. 23–92) diskutiert Krappmann ausführlich seine Arbeitsmethode. Eher als um eine systematische Begriffskonstruktion handelt es sich um mehrere Abgrenzungsakte (in Bezug auf ähnlich orientierte Vorläuferarbeiten), die in einen flexiblen theoretischen Apparat münden, welcher die vielfältigen Diskursansätze regionaler Literaturen wahrnimmt und die regionale Subversivität gegenüber jeglicher Zentrum-Peripherie-Ordnung – sowie jeglicher generalisierenden Beschreibung – berücksichtigt. Das heißt nicht, dass Krappmann die Region in die Rolle eines neuen Zentrums rücken würde oder dass der methodologische Diskurs irrelevant wäre. Seine skeptische (jedoch vorhandene) Offenheit für verschiedene Theorien, die er in der Forderung der genreübergreifenden materiellen Komplexität und philologisch orientierten methodologischen „Schlichtheit“ an einem anderen Ort artikuliert (vgl. Jörg Krappmann: Komplexität, Schlichtheit und Abstraktion in der regionalen Literaturforschung, in: Regionalforschung zur Literatur der Moderne, hrsg. von S. Voda Eschgfäller, M. Horňáček, Olomouc 2012, S. 23–40), begründet hier Krappmann auf sieben „Säulen“. Zu diesen gehört die Forderung einer Rekanonisierung im Sinne der Einbindung der „Provinz“ in den wissenschaftlichen Diskurs und das damit zusammenhängende „komplementäre Verständnis der Moderne“ (S. 39), welches die „antimodernen“ Positionen als Pendant der Moderne versteht, das im erheblichen Maße durch die Moderne selbst hervorgerufen wird und sie gleichzeitig reflektiert. In Auseinandersetzung mit Christian Jägers Buch Minoritäre Literatur (2004) kritisiert Krappmann weiterhin ein Vorgehen, in dem eine theoretische Perspektive (bei Jäger: Deleuze/Guattari) die Interpretation der Texte deutlicher bestimmt als die (lückenhafte) Kenntnis der historischen und Genre-Kontexte. Eindeutig positiv knüpft Krappmann hingegen an den positivistisch-philologischen Ansatz Kurt Krolops an, der auch ohne ostentativ angekündigte „turns“ die Grenzen der Philologie im Blick auf die Kulturgeschichte und die Grenzen des Kanons der Prager deutschen Literatur in Richtung ihrer regionalen Kontexte erweitert hat. Für Krolops sowie Krappmanns Schreiben ist u. a. bezeichnend, dass die Faktenfülle nicht in eine Aufzählung zerfällt, sondern schließlich allgemeinere Zusammenhänge wahrnehmbar werden lässt und ihnen Gestalt gibt. Nicht zuletzt geht Krappmann von den Forschungen der Olmützer Arbeitsstelle für deutschmährische Literatur aus. Seine methodologische Betrachtung schließt er mit einem Hinweis auf die Abduktionsmethode, die Umberto Eco mit dem Verfahren von Sherlock Holmes illustrierte, einer Methode also, mit der man nach möglichen allgemeinen Thesen bzw. Regeln sucht, bei deren Geltung die ursprünglich überraschenden Fakten selbstverständlich werden.

 

Die literarische Darstellung der nationalen Auseinandersetzungen in den böhmischen Ländern wird in dem ersten der drei Kernkapitel behandelt (S. 93–162). Als sehr förderlich zeigt sich die differenzierte Wahrnehmung des Nationalismus seitens des Autors, wie auch die Berücksichtigung mancher öfters übersehenen historischen Zusammenhänge: z. B. zwischen der Modernisierung europäischer Gesellschaften und der Nationalismusgeschichte. Krappmann stellt die angebliche kulturelle Isolierung nationalistisch gerichteter sudetendeutscher Schriftsteller infrage, indem er u. a. das Programm von regionalen Theatern analysiert, in denen mit einer relativ kurzen Verspätung moderne Stücke von Hauptmann, Schnitzler u. ä. gezeigt wurden. Ausgezeichnet ist das Unterkapitel „Grenzlandroman“, das anfangs zeigt, wie deformiert der bis heute angewandte Kanon dieser bedeutenden Gattung des Nationalromans ist. Auch wenn Mauthners Text Der letzte Deutsche von Blatna (1887) immer wieder für den ersten Beleg gehalten wird, orientierte sich der Genrekanon bisher an den Vorbildern aus den 1930er Jahre und an Autoren, die sich durch die Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten kompromittiert hatten (z. B. Wilhelm Pleyer oder Gottfried Rothacker). Krappmann konzentriert sich dagegen primär auf die bis 1914 gedruckten Werke und deckt in dem Genre eine überraschende stilistische und gedankliche Vielfältigkeit des nationalen Diskurses auf. Karl Wilhelm Fritschs Roman Um Michelburg (1911) zeige so die nationalen Gegensätze keineswegs rein schematisch und konzentriere sich nicht nur auf sie, sondern sei von unterhaltsamen und humorvollen Episoden durchsetzt, ähnlich wie die Erzählungen von Ottokar Stauf von der March. Umgekehrt erfahre in Alois Fietz‘ Toten Scholle (1914) oder in Ferdinand Bernts Drama Zwischen zwei Sprachen (1906) der nationale Kampf in den böhmischen Ländern eine existenzielle Aufladung – freilich noch ohne die später verstärkt biologisierende Dimension. Eine triviale Version des Grenzlandromans, eine Mischung mit dem Kolportage-Liebesroman stelle Deutsches Erbe (1903) von Anton Ohorn dar, der mit einem Happy End sowohl in der Liebesbeziehung als auch im nationalen Ringen endet (nämlich der Erhaltung des deutschen Charakters des Gebiets), was mit der unausweichlichen nationalen Katastrophe im Kampf gegen die Tschechen bei Fritsch kontrastiere. Eine grundlegende Interpretation der Texte zeigt nicht nur ihre unterschiedliche Struktur, sondern weist bemerkenswerterweise auf eine noch engere Verbindung und ein Zusammenwirken vom nationalen, religiösen und literaturästhetischen (realistischen) Diskurs hin, als es die bisherige Literatur zuließ.

 

Der „sozialen Frage“ widmet sich Krappmann im zweiten Teil des Buches (S. 163–270). Nach einer Polemik gegen die übliche Meinung vom Ausbleiben oder einer höchstens spurenmäßig erkennbaren Existenz des österreichischen Naturalismus stellt er eine Reihe in Vergessenheit geratener Texte vorwiegend deutschmährischer Autoren vor, die sowohl thematisch als auch stilistisch zum Naturalismus gehören: Philipp Langmanns Erzählungen und Dramen, Texte der Brünner Modernisten Franz Schamann und Eugen Schick u. a. „Das mährische Triumvirat“ Marie von Ebner-Eschenbach, Ferdinand von Saar und Jakob Julius David werden als unterschiedliche „Übergangsphänomene“ behandelt – zwischen der realistischen und der naturalistischen Sichtweise (moralischer Optimismus Ebner-Eschenbachs, Saars Resignation), zwischen der bürgerlichen Epoche und der Moderne (am Beispiel von Jakob Julius Davids Roman Der Übergang, 1903) oder zwischen dem Naturalismus und der ästhetischen Moderne (in Eugen Schicks Projekt Die Mährische Moderne, 1906).

 

Das Abschlusskapitel (S. 271–332) konzentriert sich auf einen Aspekt, der in den vorigen zwei Kapiteln schon wiederholt betont wurde, und zwar die Wandlungen des religiösen Denkens und ihre literarische Reflexion. Hier fließen am deutlichsten die kulturgeschichtlichen Zusammenhänge ein, breiter Raum wird nichtliterarischen Schriften gewidmet: die grundlegenden Gegensätze repräsentieren einerseits die Verteidigung der katholischen Kirche gegen die Moderne (und ihre angeblichen historischen Folgen in der Gestalt des Großen Krieges und des Bolschewismus) in Franz Machs Modernes oder katholisches Kulturideal? (1923), anderseits die Religionsschrift Emile Mario Vacanos Die Gottesmörder (1870), die die Kirche als Machtapparat kritisiert und ein situativ und individuell orientiertes Christentum vertritt. Als „Zwischenpositionen“ werden dann Otto von Leixners und Johann Peters Religionsschriften behandelt und schließlich die Prosa und Gedichte der beiden Letztgenannten sowie von Marie Knitschke, Marie von Ebner-Eschenbach oder Gustav Leutelt. Sosehr die vorher entworfene Polarität einen sinnvollen Vergleich der unterschiedlichen Texte ermöglicht und auch hier den Übergangscharakter der „Provinz“ nahelegt, bleibt die Frage offen, ob sie nicht allzu reduktiv eine eindimensionale Linie für die letztendlich sehr unterschiedlichen Positionen schafft. Die Kritik der (katholischen) Religionslehre und -institution stellt dennoch eine Perspektive dar, die in den böhmischen Ländern sowohl historisch als auch in der Rezeption um 1900 zweifellos eine maßgebliche Bedeutung hat.

 

Die Holmessche Abduktionsmethode birgt für den Leser das Risiko, sich stellenweise mit der Rolle des Dr. Watson abfinden und Ausführungen folgen zu müssen, deren Logik erst im Nachhinein in ihrer Gänze aufgedeckt wird. Manchmal ist der Effekt überzeugend, manchmal etwas weniger – beispielsweise wäre es vielleicht sinnvoller, den Hinweis auf Joseph P. Strelkas Konzeption als eine wichtige methodologische Inspirationsquelle früher als am Ende (S. 333) aufzuführen, wo er eher wie eine nachträgliche „Apologie“ von Krappmanns Vorgehen wirkt. Seltene Redaktionsversehen können etwas verwirrend wirken (wie das wiederholte Erwähnen von Christiane Ida Spirek als „Spierek“),andere sind nur unangenehm (Moritz Csáky wird z. B. konsequent „Csaky“ genannt). Der Fußnotenapparat ist an manchen Stellen etwas zu knapp geraten, wenn er z. B. ohne konkrete Titel oder Begründungen „die Publikationen von Ivan Stupek und František Mezihorák“ als negative Beispiele von regionaler Literaturforschung anführt (S. 36). Dies sind allerdings nur kleine Randbemerkungen. Insgesamt kann Krappmanns Buch als eine Pionierleistung gesehen werden: ein energischer Schritt aus den verfestigten Mustern der Beschreibung von deutschböhmischer Literatur, ein wissenschaftlich solider sowie provokativer Übergang zu einem neuen Kanon und Verständnis von regionaler Literatur.

 

Übersetzung Katka Ringesová

 


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