Es schrieb: Ludwig Winder
(16. 4. 2025)Ludwig Winder (1889 Schaffa, Südmähren – 1946 Baldock) war ein deutschsprachiger tschechoslowakischer Schriftsteller und Journalist, Träger des tschechoslowakischen Staatspreises für Literatur (1934), Feuilletonist und Kulturredakteur der traditionsreichen Prager Tageszeitung Deutsche Zeitung Bohemia (DZB) (von 1914 bis zu deren Einstellung Ende 1938). Seine Verbundenheit mit der Tschechoslowakei – in ihrer mehrsprachigen, mitteleuropäischen Dimension – bewahrte er auch während der Kriegsjahre, die er im britischen Exil verbrachte. Dort schrieb er seinen Widerstandsroman aus der Zeit der Heydrichiade, Die Pflicht; dort kehrte er noch ein letztes Mal zu der Geschichte seines Vaters Max Winder zurück (der gegen die orthodoxe jüdische Erziehung rebellierte, ein tschechisch schreibender Dichter und schließlich Lehrer an einer jüdischen Schule in Holleschau war); im Exil schrieb er ferner einen Roman über die Bombardierung Londons, in dem er die Perspektive mitteleuropäischer, vor allem tschechischer Figuren verfolgte (Die Novemberwolke). Noch 1945 machte Winder sich in der britischen Exilpresse darüber Gedanken, unter welchen Bedingungen Deutsche und Tschechen in der neuen Tschechoslowakei nach dem Krieg zusammenleben könnten.
In seinen bekanntesten Romanen Die jüdische Orgel, Die nachgeholten Freuden oder Der Thronfolger sowie in vielen anderen literarischen und journalistischen Texten beschäftigt sich Winder mit der Frage der Macht und der Kontrolle des Menschen über den Menschen, mit der Frage der Unterwerfung und den Möglichkeiten, sich daraus zu befreien. Im Roman Die nachgeholten Freuden beispielsweise versklavt der konservative, auf seine Art ehrliche, aber auch ziemlich skrupellose Geschäftsmann vom Land und Spekulant Dupič buchstäblich eine ganze nordböhmische Kleinstadt, und zwar mit der Komplizenschaft der großen Mehrheit der Bewohner. Winder interessiert sich für faszinierende, undurchsichtige, ja bedrohliche Persönlichkeiten und versteht es, ihren paradoxen Charakter (als Herrschende und zugleich Beherrschte) darzustellen.
Deshalb ist seine Beschreibung der Person von Tomáš G. Masaryk interessant, die anlässlich des 70. Geburtstages von Masaryk am 7. März 1920 in der DZB veröffentlicht wurde. Das Jubiläum steht im Mittelpunkt der gesamten Nummer. Bereits im Leitartikel auf der ersten Seite wird der Präsident – kritisch, aber dennoch – gefeiert, und auf der dritten Seite ist ein Grußwort der Deutschen Universität Prag abgedruckt. Auf derselben Seite findet sich Winders Essay mit dem schlichten Titel „Masaryk“, der den Präsidenten mit einer Mischung aus Faszination für die große Persönlichkeit und Verständnis für seine Ohnmacht, ja Tragik, charakterisiert.
Winders Masaryk ist ein Mann der Kraft und der Tat, aber auch undurchdringlich und vor allem durch seine öffentliche Person gebunden. Das Feuilleton konfrontiert zwei Situationen, in denen Winder Masaryk persönlich erlebt hat: als Mann, der 1908 eine Studentendemonstration in Wien mit seiner Rede völlig beherrschte und sich sofort wieder in die Anonymität zurückzog, und als Präsidenten der Republik am Tag der Rückkehr nach Prag im Dezember 1918. Selbst in diesem scheinbar triumphalen Moment fühlt Winder, wie die öffentliche Rolle, für die er so viel getan und geopfert hatte, Masaryk einschränkte: „[N]iemals war dieser der Wahrheit, Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit herzlich zugetane Mann so unfrei wie in diesem Augenblick, da er als Präsident des von ihm erbauten Staates den heimatlichen Boden betrat.“ Die vom Präsidenten erwähnte Vorstellung von der Unfreiheit in „dessen“ Staat beleuchtet Winder logischerweise aus der Sicht der tschechoslowakischen Deutschen, die enttäuscht und dankbar zugleich waren. Winders Feuilleton ist somit eine viel aussagende Erinnerung daran, wie unkonventionell scharfsinnig der Blick eines Vertreters des demokratischen Journalismus aus der tschechoslowakisch-deutschen Minderheit sein konnte: ein Blick von innen und von außen zugleich.
jb (* přel. lm)
Masaryk
Zweimal habe ich den Präsidenten bisher gesehen. Einmal in Wien, vor zwölf oder dreizehn Jahren. Vor dem Tor der tierärztlichen Hochschule hatten sich ein paar Dutzend Studenten zusammengerottet, die streiken wollten, weil ihre Schule unter Diktatur des k. u. k. Kriegsministeriums stand: Pedell war ein Feldwebel, die Diener waren Feldwebel, und man sah selbst als Außenstehender, daß die Diener hier die Herren waren. Das wollten die Studenten nicht länger dulden: sie hielten vor der Hochschule eine Versammlung ab und beschlossen, in Streik zu treten. Aber es war ihnen anzumerken, daß es ihnen mit dem Streik nicht ganz ernst war; sie berauschten sich bloß an dem Fortissimo ihrer Reden und an der Inszenierung, die ihnen Spaß machte. Viele waren ungeduldig und riefen Schluß, weil der Himmel blau war und in allen Straßen Mädchen warteten. Da trat plötzlich ein Mann unter die Studenten und begann zu sprechen. Er sagte, man müsse ganz tun, was man tut, halbe Maßnahmen seien ganze Niederlagen. Er entwickelte einen bis ins kleinste Detail ausgearbeiteten Feldzugsplan gegen das Kriegsministerium, jedes Wort war sachlich und hatte Zweck. Die Fortissimo-Redner waren längst verstummt, alles lauschte dem Fremden, der niemals zu diesen Studenten gehört hatte und trotzdem so sprach, als hätte er alle ihre Leiden immer schon erduldet. Er sprach wie einer, dessen Platz dort ist, wo es gilt, einen Massenwillen zu formen. Das tat er damals, erreichte sein Ziel und ging anonym, unauffällig, wie er gekommen war. Dieser Mann war Professor Masaryk.
Zum zweitenmal sah ich ihn im Dezember 1918, an dem Tag seiner Rückkehr nach Prag. Er stand entblößten Hauptes in der Halle des Wilsonbahnhofs und ließ die Begrüßungsreden über sich ergehen, die ihn als Nationalhelden und Retter des Vaterlands feierten. Diesmal hatte er mehr geleistet als damals vor dem Tor der tierärztlichen Hochschule in Wien, mehr gewollt, mehr erreicht, aber auch mehr geopfert. Diesmal konnte er nicht mehr nach vollbrachter Tat in seine Anonymität zurückkehren. Ein Zeremonienmeister bestimmte, wie lange er auf dem Bahnhof entblößten Hauptes zu stehen, in welchem Tempo sein Automobil in die Burg zu fahren, in welchem Abstand das Volk ihn zu begrüßen hatte. Diesmal durfte er auch nicht mehr seiner Art gemäß sachlich sein, wenn er den Mund auftat, um zu reden. Man erwartete vielmehr von ihm, daß er die Kunst verstehen werde, viel zu reden, ohne viel zu sagen, niemals war dieser der Wahrheit, Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit herzlich zugetane Mann so unfrei wie in diesem Augenblick, da er als Präsident des von ihm erbauten Staates den heimatlichen Boden betrat. Wäre Masaryk nichts weiter als ein geschickter, erfolggekrönter Diplomat gewesen – er hätte damals triumphieren und leichten, befreiten Herzens die Last auf sich nehmen können, die, wie man glauben möchte, nicht so sehr einen Mann wie einen Staatsmann erfordert. So aber war das Triumphgefühl in ihm hinter eine siebenfache Mauer von Realitäten zurückgedrängt. Denn er, politisch jahrzehntelang Führer einer Realistenpartei, er, der durch nüchternste Realpolitik ans Ziel gelangte, er, der es verstanden hatte, mit französischer Sensibilität gleich gut wie mit amerikanischer Geschäftstüchtigkeit auszukommen – er ist immer viel mehr als ein nüchterner Realpolitiker gewesen. Niemals war ihm Humanität ein lukratives Schlagwort, niemals Menschlichkeit eine tönende Phrase gewesen, die man mit Augurenlächeln weitergibt. Seine Philosophie hatte immer auf dem Selbstbestimmungsrecht des Menschen basiert; er war ein Mann, nehmt alles nur in allen. Und dieser Mann hatte mit seinem Namen, mit dem Nimbus seiner Persönlichkeit ein Werk zu decken, das er zwar zusammengefügt, dessen Räder aber von Leuten angetrieben wurden, die ihm menschlich und geistig fremd waren. Er hatte gutzuheißen, was er innerlich verurteilen mußte; er hatte das Amt, sich einer Mentalität unterzuordnen, die der seinen zuwiderlief, die ihn zuweilen sogar zwang, seine ganze Vergangenheit zu vergessen. Dies alles mußte Präsident Masaryk wissen, als er den Boden der Republik als ihr Oberhaupt betrat, und die Träne, die er beim Empfang auf dem Wilsonbahnhof vergaß, war gewiß nicht nur eine Träne der Rührung, sondern auch eine Abschiedsträne. Masaryk mußte damals von seiner Vergangenheit Abschied nehmen.
Wie schwer ihm dieses Opfer geworden ist, fühlt heute jeder Deutsche dieses Staates. Kein tschechischer Politiker der Republik genießt bei den Deutschen so starkes Vertrauen wie er der dem Deutschtum so wuchtige Schläge versetzt hat. Gefühlsmäßig glaubt man immer wieder daran, daß sein Wille rein, sein Wort wohlgemeint sei; gefühlsmäßig glaubt man immer wieder, in ihm einen Verteidiger aller erblicken zu können, die gezwungen sind, um ihr Menschenrecht zu kämpfen. In diesem Gefühl gedenken auch die Deutschen dieses Staates des Präsidenten an seinem siebzigsten Geburtstag mit einem der Persönlichkeit geltenden Respekt, der sich nicht aller Hoffnung auf die bessere Zukunft begeben möchte. Die Deutschen haben die Empfindung, daß Präsident Masaryk aufgetan würde, wenn es ihm vergönnt ware, an einer solchen Besserung mitzuarbeiten. Das ist nicht viel – aber es ist so viel, als man in einer Zeit billig fordern darf, die von Raubtierinstinkten beherrscht ist und nur mühselig beginnen kann, sich auf den Weg von Mensch zu Mensch zurückzutasten, zurückzufinden.