Es schrieb: Erich Heller
(7. 2. 2025)Erich Heller wurde 1911 in Komotau, Nordböhmen, geboren und studierte von 1930 bis 1935 Rechtswissenschaften an der deutschsprachigen Universität in Prag. Schon seine ersten öffentlichen Auftritte zeichneten sich durch einen offensichtlichen politischen Aktivismus aus: Im August 1931 veröffentlichte er in der sozialdemokratischen Brünner Tageszeitung Volksfreund einen Artikel Die Bilderzeitung des Hakenkreuzes (gemeint war das Wochenblatt Illustrierter Beobachter), und auch seine Rundfunklesungen aus den „verbrannten Büchern“ wurden in der Tagespresse vom August 1933 besprochen. In den folgenden Jahren arbeitete er mit der Redaktion der Prager „sozialistischen Revue“ Der Kampf zusammen: Im Juni 1937 veröffentlichte er beispielsweise einen Artikel über Alfred Polgar und im September desselben Jahres schrieb er über den Film Svět patří nám (Die Welt gehört uns; Regie: Martin Frič) von Voskovec und Werich. Der letztgenannte Text ist unten angefügt.
1938 veröffentlichte Heller im Wiener Saturn-Verlag sein Buch Flucht aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Eine kulturkritische Skizze, in der er sich mit Thomas Mann, Sigmund Freud und Karl Kraus beschäftigt. Im August 1939 gelang es ihm, mit dem letzten Schiff aus Polen nach England zu emigrieren (während sein Bruder, der Arzt Paul Heller /1914–2001/, in der Nacht des 31. August von der Gestapo verhaftet wurde; er wurde in Konzentrationslagern inhaftiert, überlebte und ließ sich nach dem Krieg schließlich in den USA nieder). Erich Heller absolvierte sein Doktorstudium an der Universität Cambridge, wo er bei der Familie des in Prag geborenen Philosophen Paul Roubiczek (1898–1972) wohnte; im März 1943 erhielt er seinen Doktortitel für seine Dissertation über Thomas Mann im Kontext der wichtigsten Strömungen des deutschen Denkens des 19. Jahrhunderts. 1947 nahm Heller die britische Staatsbürgerschaft an. Er unterrichtete am University College in Swansea (Wales), wo er Leiter des Lehrstuhls für Germanistik war und 1950 den Rang eines Professors erlangte. Seine Überlegungen zur Literatur in dieser Zeit konzentrierten sich u.a. in den Büchern The Disinherited Mind (1952, deutsch 1954) und The Ironic German. A Study of Thomas Mann (1958, deutsch 1959). Im Jahre 1960 siedelte er in die USA über und arbeitete an der Northwestern University in Evanston (Illinois).
Die Herausgeber haben einen Teil von Hellers Studie The World of Franz Kafka in das kürzlich erschienene Buch Čtení o Franzi Kafkovi (Lektüren zu Franz Kafka) aufgenommen. Hellers Interesse an Kafkas Werk kann als systematisch und langjährig bezeichnet werden; er veröffentlichte u.a. 1967 zusammen mit Jürgen Born Kafkas Briefe an Felice Bauer (die berühmten Briefe an Felice), die Publikation wurde daraufhin weithin vervielfältigt und 1973 erstmals auch in englischer Sprache veröffentlicht, in tschechischer Sprache erschienen die Briefe zunächst in einer Auswahl (1991, hg. und übers. von I. Vízdalová), 1999 erschien das Buch vollständig (übers. von V. Fischerová, im Rahmen der Werkausgabe Díla F. K. /Band 11/) – mit einem früheren Nachwort von E. Heller, leider posthum, denn Heller starb im November 1990.
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Erich Heller: [Die Welt gehört uns]
Die Welt gehört uns heißt ein neuer tschechischer Film, in dem Voskovec und Werich dieselben Rollen spielen, die sie in ihrer sehr erfolgreichen Revue „Rub a líc“ am Prager „Befreiten Theater“ agiert haben. Es ist trostreich, daß das Prager Kinopublikum der radikal demokratischen Tendenz dieses Films begeistert applaudiert. Auch ist es eine Nettigkeit der Filmindustrie, daß sie hier einmal ihre Mittel, wenn auch nicht ganz so freiwillig, für ein Sujet verwendet hat, das bewußt und energisch eine saubere, anständige Gesinnung zur künstlerischen Form zu bringen versucht.
Dieser Versuch ist aber so gut wie in allem mißglückt und es ist erstaunlich, wie gründlich selbst Voskovec und Werich, diese kostbaren Erscheinungen des gegenwärtigen Theaters, die man für so unverlierbar geborgen hielt in den Abgründen ihres komischen Genies, den Sinn ihres Daseins und ihrer Kunst zu verkennen imstande sind. Und weil hier künstlerischer Wesensverlust droht, mag man es uns nicht als Undankbarkeit gegen die guten Absichten und die gute Gesinnung der beiden so liebenswerten Künstler auslegen, wenn wir sie dieser Gefahr gern entrückt sähen.
Die theatralische Sendung von Voskovec und Werich war vom Beginn ihres Wirkens an die Entlarvung der Phrase in jeglicher Form. Schon die stereotype Maske, mit der sie durch die Kostüme und Kulissen aller Zeiten gehen, ist ein Plakat der Demaskierung: Voskovec, der stilisierte Beau, blasiert von tausend Streichen der einenen subtilsten Lausbübischkeit, daher bis zum Schein der Dummheit begriffstützig gegen die viel gröberen Bübereien des Dasein; Werich, umstrahlt von der Gloriole, die Ur-Blödheit dort gewinnt, wo sie, vereint mit der Ur-Weisheit, an den Quellen des Lebens sitzt; – so tummeln die zwei sich als die temperamentvollsten, die quecksilbrigsten ruhenden Pole, die je es gab, in der Langweile von der Erscheinungen Gedankenflucht. In ihrer Nähe verläuft der Wendekreis der Phrase. Wehe dem Schiff, und sei es noch so selbstbewußt gesteuert, hoch bepackt mit der Phrasen-Fracht sich unnahbar dünkender Würde, wehe ihm, wenn es in ihre Gewässer gerät. Es wird leck im Augenblick und brausend, brodelnd, johlend umfangen das Wrack die Sturzfluten des aufgebrachten Elements. Der Poseidon des Wort-Meers selber hat seine Helfer ausgeschickt. Unvergeßlich, welch teuflisch-göttlichen Schabernack die zwei, losgelassene Geister über den Wassern, mit dem Treibgut der Sprache trieben; wie sie es wendeten und warfen, zerrten und stießen, bis sie es in ihrem Hafen hatten. Und ihre Stapellager dort sind immer zum Bersten voll von abgetakeklten Prunkschiffen, von arg zerschlissenen Segeln, noch unlängst vom Wind irgendeiner hochgemuten Ideologie gebläht, von Fähnchen aller Art, die ihre kühnen Farben ließen im Katarakt der Komik. Was hier gegen die gedopte Würde, gegen geheucheltes Pathos, gegen die auf nationalen Hochglanz gewichste Phrase wütete, war mehr als befreites Theater; es war eine entfesselte Naturgewalt: der Genius der tschechischen Sprache selber. Der Rachezug des Sprachgeists gegen die Sprecher, der im Bereich des deutschen Worts, das lang und längst schon von Goethe auf die Professoren, Demagogen und Journalisten gekommen war, stets nur mit den schweren Gewichten glücken konnte, mit dem pathetischen Pamphlet und der pathetischen Satire, gelingt im Tschechischen, das näher seinem Ursprung lebt, in schwereloser Ausgelassenheit und mit gelöstem Humor. V + W schöpfen von den Quellen einer Sprache, die wie kaum eine andere widerspenstig ist gegen alles Ideologisch-Alarmierende, Aufgepflustert-Zeremoniöse, Pathetisch-Vorlaute. Noch keiner durfte ihr damit kommen, den sie nicht selbst, aus eigener Macht- und Humorvollkommenheit, dem Gelächter preisgegeben hätte. Die Aufrüstung dieser Sprache gegen ihre lächerlichen Feinde, die sie mit fremdem Klang bedrohten, ward zur vis comica des „Befreiten Theaters“. Wie belustigend wehrlos blieb darum gegen die elementare Publikumswirkung der zwei wahrhaft nationalen Akteurs noch jeder nationalistische Redakteur, der es mit ihnen aufzunehmen suchte, und wie beglückend selbstverständlich leben V + W in einer geistigen Gegend, in der der Rest europäischer Menschlichkeit zu Hause ist.
Was beglückende Selbstverständlichkeit war, wird aber in diesem letzten Film zur unglückseligsten Aufdringlichkeit. Es sei hier von einer Problematik abgesehen, die überhaupt die filmische Entwicklungsmöglichkeit für Voskovec und Werich in Frage stellt: ob ihre eigentliche Welt, die eben die der Sprache bleibt, in den Film übersetzbar ist, der seine Akzente vornehmlich von Bild und Bewegung bezieht; ob nicht jede Konzession des Theaters an die Leinwand, wie etwa schon die Preisgabe der starren Clownmaske eine ist, der spezifischen Wirkung dieser Komiker abträglich sein muß; – es sei davon abgesehen und nur eine Gefahr registriert, die allmählich auch das Bühnendasein der beiden bedroht: die krampfhafte Vermengung von Clownerie und Gesinnung, von Knock-about-Komik und „Es-lebe-hoch“-Ideologie, von Narrenweisheit und Agitatorenklugheit, von quellender Ursprünglichkeit und kurzatmiger Tendenz. Die Kunst V + W’s, die das grenzenlose Staunen über den tierischen Ernst der Ewig-Diesseitigen ist, mindert ihren Gehalt und ihren Ertrag, wenn sie sich vorsätzlich-wissend und agitierend gibt. Und andrerseits werden die Parolen eines konstruktiven Realismus kompromittiert von der skurrilen, komödieantischen Verspieltheit. Was kein andres Theater mehr zustande bringt, war bei Voskovec und Werich tägliches Ereignis: Von ihrer Kunst und Komik gingen Impulse aus, so stark und edel, daß sie aus den guten Tiefen der menschlichen Natur selber kommen mußten. Agitation aber ist allemal Surrogat für so elementare Wirkungsmöglichkeit. Wie peinlich wäre eine Fehlentwicklung, die die Unmittelbarkeit einer Naturkraft an die Produktion von Ersatz verschwendet, den Winter für die Erzeugung von Kunsteis anlernt und den strömenden Regen zwingt, seinen Weg durch Gartenschläuche zu nehmen. –
Nein, wes’ innerer Rhythmus der des Cancan ist, soll nicht Musik machen zum Marschieren in Reih und Glied, und sei’s auf den Wegen zu den glänzendsten Zielen. Es kommt dabei nur alles aus dem Schritt. Wen der liebe Gott zum Klabautermann gemacht, soll nicht Matrose spielen auf schwerer Überfahrt. Es gibt ein Debacle. Wen innere Stimmen zum Abenteuer locken, soll sich mit der Polizei nicht verbünden, und sei’s die demokratischste, und nicht mit Organisationen, und seien’s die revolutionärsten. Es gibt ein Kuddelmuddel. Wer Finger hat, denen alles zum Theaterrequisit wird, zur Attrappe, zum Spielzeug, zum Zauberhut, soll die Hände lassen von Handgranaten, Gasphiolen und Schießgewehren, die so entsetzlich echt sind wie das Jahr 1937. Es gibt sonst ein barbarisches Gelächter. Wem die Gnade ward, aus dem Alltag zu steigen, wie der Zirkusclown mit Krach und Bum aus der großen Trommel, bleibe einer Szene fern, auf der wirklich geschossen und wirklich gestorben wird. Es wird sonst eine haarsträubende Taktlosigkeit.
Welch ein trostloses Mißverständnis zwischen Theater und Kino, zwischen Exzentrik-Komik und Realistik, zwischen Symbol-Allotria und Manifest, zwischen Tanz und Politik ist dieser Film „Die Welt gehört uns“! Nehmt V + W die Clownmasken, die sie auf dem Theater tragen – und das profunde Gleichnis löst sich in zwei prosaische Spaßmacher auf; gebt ihnen statt der Pappegranaten ihres Bühnenfundus’ wirkliche Skodaerzeugnisse in die Hände – und aus der Beschwörung höllischen Spuks wird ein nervenpeinigender Unfug; übertragt ihre Streiche aus der Zauberwelt bunter Kulissen in die photographierte Realität – und frecher Zynismus grinst uns an. Wenn anders es nicht Unfug ist und Zynismus, komische Wirkungen von einem Fangballspiel mit garantiert echten Handgranaten zu beziehen, und ein Kinopublikum, das gerade erst die Wochenschau über Spanien und China hinter sich hat, zum Lachen zu bringen, weil in einem mit garantiert wirksamen Giftgas gefüllten Raum Menschen sowohl drollig als auch sterbend durcheinanderpurzeln; es haben ihnen nämlich die dummen Auguste die Gasmasken vom Gesicht geschnitten. Nein, auch wenn man selbst nicht tot ist, entsteigt man, wo Proletarier ihre Toten feiern, nicht der Versenkung, um fröhlich zukunftweisende Lieder zu singen.
Hat man Chaplins „Modern Times“, sehr deutlich als Vorbild dieses Films erkennbar, so wenig verstanden? Dort war alles unwirklich und überwirklich, Allegorie und ad absurdum geführtes Dasein, Angst- und Lachtraum. Indessen ist, was in diesem Film zur Schau gestellt wird, einer entsetzlichen Wirklichkeit abphotographiert: Handgranaten und Gesinnungsmord, Giftgas und Faschisten – und das ist nicht zum Lachen. Auch gehört die Welt nicht uns, nicht mehr uns und noch lange nicht wieder uns – und um so länger nicht, je billiger letzte, bewahrungswürdige Substanz unsrer Welt verramscht wird. Es wäre schön, wenn Voskovec und Werich sich von den ideologischen Ausverkäufen wieder zurückzögen und ein wenig Zeit fänden, in die Tiefen ihres Wesens zu horchen: sie müßten dort den Strom von Melancholie rauschen hören, von dem der Übermut und die Komik nur die plätschernden Wellen der Oberfläche sind. Solche Entdeckung würde sie ferner vielleicht bewahren vor diesem lebfrischen, pausbäckigen, den Trübsinn provozierenden Agitatoren-Optimismus: „Die Welt gehört uns“.