Es schreibt: Jitka Ludvová

(19. 12. 2024)

Mit der Schrift sehen – der Prager deutsche Autor Oskar Baum“, so betiteln die drei Herausgeber den schmalen Band, der sich dem Leben und dem literarischen Werk des blinden deutschen Schriftstellers und Musikers Oskar Baum (geb. 1883) widmet. Die einzelnen Texte entstanden, wie es im Vorwort heißt, während mehrerer Studiensemester in Prag und Leipzig. Angesichts des Gegenstands ist das kein einzigartiger Sammelband. Seit mehreren Jahren arbeiten Studenten der Prager und der Leipziger Universität an Projekten zur deutschsprachigen Literatur in den Böhmischen Ländern. Die Herausgeber des Oskar Baum gewidmeten Bandes haben bereits mehrere ähnliche Publikationen zu deutsch-tschechischen Themen im Berliner Verlag Frank & Timme in der Reihe Literaturwissenschaft veröffentlicht: Als Nr. 60 erschien ein Band über Lenka Reinerová und Anna Seghers, als Nr. 61 über Hans Natonek und als Nr. 62 über Egon Erwin Kisch (alle Bände 2016 erschienen). Als Nr. 78 folgte ein Band über Max Brod und seinen Roman Tycho Brahes Weg zu Gott (2019).

 

Der neue Band Nr. 93, der sich auf Oskar Baum konzentriert, enthält siebzehn Studien von neunzehn Autoren und Autorinnen. Baum ist ein lohnendes Thema, weil sein Leben besonders vielfältig war. Trotz seiner schweren Behinderung war er ein kreativer Mensch mit literarischen und musikalischen Aktivitäten, großem Ehrgeiz und einer bemerkenswerten Fähigkeit, die Schwierigkeiten des Alltags zu meistern.

 

Von den siebzehn Studien im Band sind zwei biografisch. In der ersten gibt M. Žvachta einen kurzen Überblick über das gesamte Leben Baums (Oskar Baums Lebensgeschichte). A. Klimentová (Die Blindenanstalten in Prag und Wien) befasst sich mit der Prager und der Wiener Blindenanstalt, wo Baum seine Kindheit verbrachte. Sie verfolgt auch die Spuren, die das Milieu beider Anstalten in Baums Kurzgeschichte Der Weg des blinden Bruno hinterlassen hat. Beide Anstalten wurden im frühen 19. Jahrhundert gegründet. Sie entwickelten nach und nach verschiedene pädagogische Methoden, die es ihnen ermöglichten, blinde oder stark sehbehinderte Jungen und Mädchen zur Berufsfähigkeit zu erziehen. Baum erwarb hier seine Berufsqualifikation als Musiklehrer, es handelte sich um einen wenig einträglichen, aber zuverlässigen Beruf, der ihm eine langfristige Einkommensbasis bot. Es ist schade, dass man in dem Band keinen Platz für eine Studie fand, die sich mehr mit dem Stellenwert der Musik in Baums Leben beschäftigen würde. Es sei hinzugefügt, dass Baum zum ausgezeichneten Kenner von Gesangsstimmen wurde. Seit den 1920er Jahren schrieb er Konzert- und Opernkritiken für die Prager Presse, dann kurz für Die Kritik (1933–1935). Mit Hilfe von Solisten des Prager Deutschen Theaters arbeitete er mit dem deutschen Sender des Prager Rundfunks (Sender Mělník, ab 1925) zusammen, wo er u. a. eine Reihe von viel beachteten Vorträgen zur Musik des 20. Jahrhunderts hielt. Er war auch im Ausland bekannt. Aus den Programmen ausländischer Rundfunksender, wie sie von der österreichischen, deutschen und tschechischen Presse präsentiert wurden, geht hervor, dass die Tonaufnahmen seiner Vorträge aus dem Sender Mělník von deutschsprachigen Sendern in den Nachbarländern ausgestrahlt wurden.

 

Andere Studien (K. Polcarová und F. Hauser) widmen sich der Stellung Baums im sog. „Prager Kreis“, seiner Nähe zu Franz Kafka und anderen bekannten deutschsprachigen Autoren. In der letzten Studie der ersten Abteilung versuchte Anna Römer, Baums Persönlichkeit auch in die Welt der österreichischen Neuromantik einzuordnen, in die Gesellschaft von Sigmund Freud, Gustav Meyrink und seinem Golem.

 

Der zweite Teil des Bandes enthällt spezialisierte Studien, die zwei von Baums Kurzgeschichten analysieren: den autobiographischen Text Der Weg des blinden Bruno und Der Geliebte, eine Geschichte aus dem Ersten Weltkrieg über den verzweifelten Versuch einer jungen Frau, ihren Bräutigam davon abzuhalten, an die Front zu gehen, in dem Glauben, dass sie sein Leben retten kann. Die Autoren und Autorinnen der Studien (M. Schulz, A. Mehnert, Ch. Ristein, L. Eckle, M. Lebel, L. S. Voss, K. Thomas, A. Genders, J. Hahn, D. Jirková, J. Mädler und V. Kroll) untersuchen die Verbindungen der beiden Texte zu Baums Leben und suchen nach detaillierten Reflexionen des Lebens im Werk aus verschiedenen Blickwinkeln und mit verschiedenen Methoden: in Lebenssituationen, in Themen, in individuellen Erinnerungen, in den Eigenschaften der Figuren usw.

 

Der letzte der enthaltenen Texte (L. Smejkalová: Rezeptions- und Entstehungsgeschichte) liefert ein Teilverzeichnis von Baums öffentlichen Auftritten und erwähnt damit einen wesentlichen und bisher wenig erforschten Punkt in seinem Leben. Trotz seiner Erblindung verlor Baum nicht sein intensives Bedürfnis, einen lebendigen Kontakt mit seinem Publikum zu pflegen. Er widmete einen großen Teil seiner Energie Vorträgen und anderen öffentlichen Veranstaltungen in Prag und außerhalb Prags. Dabei war er natürlich auf die Hilfe einer sehenden Partnerin angewiesen. Das war Margareta, geb. Schnabel, seine Frau seit 1907. Obwohl sie zweifelsohne eine Frau von großem Format war und viel beigetragen hat, bleibt sie nach wie vor im Schatten.

 

Die offiziellen Dokumente über sie, die direkt eingesehen werden können, sind arm an Informationen und sogar unzuverlässig. Im Nationalarchiv gibt es drei verschiedene polizeiliche Aufzeichnungen. Laut der Eintragung vom 11. Januar 1899 kam Margareta an diesem Tag in Prag an und ließ sich am Heuwaagsplatz nieder. Sie kam aus Nový Bydžov, wo sie 1878 in einer jüdischen Familie geboren wurde. Sie war Englischlehrerin. Das angegebene Geburtsjahr ist nicht glaubwürdig, da sie sich kaum als Minderjährige anmelden konnte (sie wurde erst mit 24 Jahren volljährig). Auf jeden Fall war es nicht selbstverständlich, dass ein Mädchen aus einer Kleinstadt, aus dem jüdischen Ghetto, beschloss, eine Ausbildung zu machen und ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Hatte sie womöglich Verwandte in Prag, von denen sie sich Hilfe erhoffte? Oder stand ihr andere Hilfe zur Verfügung? In den nächsten Jahren zog sie mehrmals in Prag um, in der Gegend von Vinohrady und Florenc. Die zweite Aufzeichnung datiert vom 7. Januar 1908, wurde also nicht lange nach der Heirat erstellt. Sie lautet immer noch auf den Namen „Margarete Schnabel“, die sich „bei Vilém Fischer“, Prag 2, Nr. 887 (Mánesova-Straße in Vinohrady) meldet. Nový Bydžov ist auch diesmal als ihr Geburtsort angegeben, aber das Geburtsjahr ist 1874. Der dritte Eintrag mit dem Stempel 27. 1. 1908 stammt aus der Mariengasse, wo Oskar Baum, Klavierlehrer, und mit ihm Grete Baum, geb. Schnabel, geboren 1874, und Sohn Leopold, geboren 1909, eingetragen sind. Vielleicht werden diese Rätsel eines Tages gelöst werden.

 

Und noch ein P.S. Ich habe wirklich ein Namensverzeichnis vermisst.

 

Übersetung: Lukáš Motyčka

 

 

Viera Glosíková / Ilse Nagelschmidt / Kilian Thomas (Hgg.): Mit der Schrift sehen – der Prager deutsche Autor Oskar Baum. Berlin: Frank & Timme. Verlag für wissenschaftliche Literatur, Literaturwissenschaft, Band 93, 2020, 194 S.


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