Es schreibt: Zuzana Jürgens
(4. 12. 2024)Anlässlich des 100. Geburtstags von Peter Demetz – er wurde am 21. Oktober 1922 in Prag geboren – erschien 2022 im Wallstein Verlag eine Auswahl seiner Beiträge für die Wochenzeitung Die Zeit, für die er seit Beginn der 1960er Jahre schrieb, und die Tageszeitung Frankfurter Allgemeine Zeitung, in der er seit Mitte der 1970er Jahre regelmäßig veröffentlichte. Der Band umfasst somit eine beachtliche Zeitspanne von fünfzig Jahren, und es ist spannend zu beobachten, wie sich die Interessen des Germanisten und Komparatisten wandelten und sein Schreibstil auch in den literarischen Kritiken in die Form reifte, die man aus seinen Erinnerungen und essayistischen Büchern wie Prag in gold und schwarz (2000) oder Mein Prag (2007) kennt. (Diese schrieb er allerdings auf Englisch.)
Vermutlich in diesem Zusammenhang hat die Herausgeberin Meike G. Werner für die Texte im Untertitel des Bandes die Bezeichnung „literarische Essays“ gewählt, vermutlich auch, um die Leserinnen und Leser nicht abzuschrecken, hätte dort stattdessen „literarische Kritiken“ gestanden. In diesem Buch ist beides versammelt: Rezensionen aktueller Veröffentlichungen und Texte, die zu aktuellen Anlässen, wie dem 100. Geburtstag von Jaroslav Hašek, verfasst wurden. Die Herausgeberin schreibt, dass sie aus etwa drei hundert Beiträgen zweiundsechzig ausgewählt hat.
M.G. Werner stellt in ihrer Einleitung „Einladung zum Wiederlesen“ zunächst die biographischen Daten von Peter Demetz zusammen. Sie schildert seine eigentlich typisch mitteleuropäisch heterogene Herkunft und skizziert seinen Weg aus Prag über das bayerische Bad Aibling und München in die USA, wo er bis zu seiner Pensionierung an der Yale University wirkte. Im Falle von Peter Demetz sind es bezüglich seiner Interessen als Literaturkritiker wichtige Informationen. Es prägte ihn die Erfahrung von Holocaust, Ausgrenzung, Verlust, Exil und Neuanfang, es prägte ihn das multikulturelle Prag und die nicht minder vielfältige kulturelle Szene in Brünn, deren Teil seine Familie und Freunde waren und die er selbst in jungen Jahren noch bewusst miterlebte. Er wuchs mit Tschechisch und Deutsch auf, aus dem Tschechischen hat er später Poesie und Prosa ins Deutsche übersetzt.
Bemerkenswert und beeindruckend ist, wie es Peter Demetz aus den USA, wo er seit 1953 lebte, gelang, den Kontakt über den Ozean hinweg, in den Zeiten ohne Internet, nach Europa zu halten, hier über die Jahre präsent zu sein. Auch dazu liefert M.G. Werner die Hintergrundinformationen. Im Falle der Rezensionen waren es wohl seine Bücher über René Rilkes Prager Jahre (1953) und Marx, Engels und die Dichter (1959), die als Initialzünder der Zusammenarbeit zunächst mit Der Zeit dienten, gepaart mit persönlichen Begegnungen bei seinen Reisen nach Europa. Entscheidend sei dabei das Kennenlernen mit Marcel Reich-Ranicki, der ab 1960 für Die Zeit schrieb und der mit seinem Wechsel zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Jahr 1973 Peter Demetz als Autor „mitnahm“.
Das Besondere an der Arbeit eines Literaturkritikers ist, dass er sich oft mit Büchern befasst, die ihm von der Redaktion aufgetragen werden, und nur bedingt mit denjenigen, die er selbst besprechen möchte. Im Hinblick auf das vorliegende Buch lassen sich dennoch bestimmte Schwerpunkte erkennen. (Da das Buch allerdings bedauerlicherweise keine komplette Bibliographie der Beiträge von P. Demetz für die beiden Zeitungen enthält, ist unklar, inwiefern die vorliegende Auswahl im Hinblick auf die thematische Breite seiner kritischen Tätigkeit repräsentativ ist.)
Zum einen ist es die gegenwärtige deutschsprachige Literatur, Autoren wie Heinrich Böll, Martin Walser oder Eva Menasse oder der ostdeutsche Franz Fühmann (der übrigens auch in Böhmen geboren wurde). Und wenn Bücher über die großen Filmstars wie Marlene Dietrich oder Brigitte Bardot erschienen, nahm er sie sich ebenfalls vor, denn auch hier kannte er sich bestens aus (s. sein Buch Diktatoren im Kino aus dem Jahr 2019).
Zum anderen widmete sich Demetz den Übersetzungen: aus dem Amerikanischen, von Autoren wie Ernst Hemingway, Philip Roth oder Harald Bloom. Nur bei Ezra Pound schrieb er gleich zu Beginn seiner literaturkritischen Arbeit für die Zeit über die englischsprachige Ausgabe seiner Literary Essays (1961), was für die Bedeutung, die Pound für ihn hatte, sprechen mag. Weiterhin verfolgte er die Übersetzungen aus dem Portugiesischen – dies führt die Herausgeberin auf seine Nähe zu dem Land durch seinen Freund František Listopad – oder auch Italienischen oder Französischen. Und aus dem Tschechischen, verstärkt vor allem nach der Wende, zum Beispiel über die Bücher von Jáchym Topol, Bohumila Grögerová, Radka Denemarková oder Milena Jesenská. Es wäre übrigens ein Zeichen der Achtung vor dem Autor, vor seiner deutschböhmischen Herkunft, wenn die Redaktion dafür gesorgt hätte, dass alle tschechischen Namen richtig geschrieben wären, es sind überflüssige Fehler, die an manchen Stellen richtig wehtun (s. zum Beispiel Karel Polatschek, Tonka Schibenice, Masarek).
Einen besonders gewichtigen Platz nehmen bei Demetz die Autoren der deutschsprachigen Literatur Böhmens ein, Rainer Maria Rilke, Egon Erwin Kisch und mehrfach Franz Kafka, über den er seit dem Kriegsende schrieb, u. a. in seiner Dissertation. In einer umfangreichen Reportage berichtet er über seine Fahrt in den mährischen Geburtsort von Sigmund Freud Příbor/Freiberg Ende der 1990er Jahre und nutzt die Gelegenheit zu einem Umriss der politischen und gesellschaftlichen Geschichte des Ortes seit dem 19. Jahrhundert.
Dies ist überhaupt ein Merkmal der hier versammelten Texte: Demetz schafft es immer wieder, auf dem eingeschränkten Platz einer Zeitungsrezension auf Zusammenhänge und Kontexte hinzuweisen, oft spannt er den Bogen von der Geschichte in die Gegenwart, von einer Person zur anderen in einem Satz, in einer Art stilistischer Äquilibristik. Die vielfache Kenntnis der Sprachen, der Kulturen und der Geschichte, die Offenheit gegenüber Neuem, auch im hohen Alter – wie zum Beispiel in der Besprechung der Zirkuszone von J. Topol – prägt sein Schreiben. Er ist ein aufmerksamer Leser, kein „Henker“, dennoch bestimmt in seinem Urteil. Deutlich zeigt sich dies beispielsweise in der Besprechung von M. Kunderas Identität (1998), in der Demetz den Roman nicht nur in den Kontext der französischen Literatur einordnet, sondern auch auf Kunderas tschechische literarische Vorbilder hinweist, um dann auf das aus seiner Sicht eigentliche Thema zu kommen, nämlich die Flucht vor der Geschichte. „Jetzt ist es so weit,“ schreibt Demetz, „er hat sich in eine neue Sprache und in eine neue geschichtslose Epik begeben, in welcher er seine solipsistischen Forderungen an sich erfüllen darf; mit welchem Ergebnis? Seine ersten französischen Prosastücke sind nichts mehr als Vorübungen und Trainigstexte“ (S. 234).
Das Verhältnis der Literatur und Geschichte beschäftigte Peter Demetz auch im Nachruf auf seinen Dozenten in Yale und böhmischen Landsmann René Wellek (1995). Wellek „glaubte daran, dass jedes Kunstwerk aus der Geschichte kam (denn es trat in einem bestimmten Moment in die Zeitläufe ein), aber er war auch davon überzeugt, dass es eine ausgeprägte Geschichtslosigkeit besaß; einmal geschaffen war das Kunstwerk eine bewegte Struktur ‚für uns‘, die ihre Ansprüche an unsere genaue Kenntnis des Textes stellte“ (S. 211–212). Ich meine, dass dieser Zugang zur Literatur, der beides enthält, das Wissen um den geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext als auch eine dem Text gegenüber offene, zugewandte Interpretation, auch für Peter Demetz gilt.
Peter Demetz ist dieses Jahr am 30. April verstorben. Am 21. Oktober hätte er den 102. Geburtstag gefeiert. Diese so verspätete Rezension erscheint zu diesem Anlass.
Peter Demetz: Was wir wiederlesen wollen. Literarische Essays 1960–2010. Herausgegeben von Meike G. Werner. Göttingen: Wallstein Verlag, 2022, 320 S.