Es schreibt: Markus Grill
(19. 11. 2024)Am 28. April jährte sich der Geburtstag von Karl Kraus zum 150. Mal. Es war der Auftakt zu einer Reihe von öffentlichen Veranstaltungen und Aktivitäten, die den großen Sprach- und Kulturkritiker ins kollektive Gedächtnis riefen. Der Österreichische Rundfunk strahlte anlässlich des Jubiläums die TV-Dokumentation Karl Kraus – Die Macht des Wortes (2024) aus. Bei den Wiener Festwochen wurden die Karl Kraus lectures abgehalten: SchauspielerInnen, AutorInnen und MusikerInnen experimentierten auf der Bühne mit publizistischen Texten, Dramentexten und Rechtsakten. Wissenschaftlich getragen wurde das Jubiläum maßgeblich von der Wien-Bibliothek im Rathaus, die den größten Teilnachlass von Kraus verwahrt. Sie erweiterte ihr Karl-Kraus-Archiv um eine Sammlung von Manuskripten und Briefen, startete ein partizipatives Online-Portal und zeigt eine neue Ausstellung. Führende Kraus-Forscherin im Haus ist die Historikerin und Kulturwissenschaftlerin Katharina Prager. Gemeinsam mit dem Literatur- und Medienwissenschaftler Simon Ganahl von der Universität Wien wurde sie vom Metzler-Verlag beauftragt, rechtzeitig vor dem Jubiläumsjahr die aktuellen Erkenntnisse aus der Forschung zusammenzutragen.
Noch 2022 legten sie das Karl Kraus-Handbuch vor, das umfassend in – so der Untertitel der renommierten Reihe – Leben, Werk und Wirkung einführt. Versammelt sind Beiträge von über 30 ExpertInnen. Die große Mehrheit von ihnen ist in Österreich tätig. Eine Vielfalt an Positionen ist der Gattung Handbuch inhärent – das unterscheidet es etwa von der Biographie (vgl. S. 3). Von den HerausgeberInnen wird diese „Multiperspektivität“ (S. 3) bewusst gefördert, wie sie in der Einleitung betonen. Das zeigt sich bereits am AutorInnenverzeichnis. Darin finden sich nicht nur WissenschaftlerInnen, sondern auch ein Journalist, ein Schriftsteller sowie ein Jurist. Die meisten von ihnen beschäftigen sich seit vielen Jahren mit Kraus. Prager, Ganahl und ihr Team verzichteten darauf, die mitunter gegensätzlichen Positionen der BeiträgerInnen ‚wegzuredigieren‘(vgl. S. 3). Sie setzen auf die „Mündigkeit der Leser*innen“ (S. 3). Ohnehin sei Wissen immer subjektiv und situiert; ein zeitgemäßes kulturwissenschaftliches Arbeiten müsse dem Rechnung tragen (vgl. S. 3).
Das Handbuch bietet, inklusive Einleitung, 36 Beiträge. Sie machen knapp 460 Seiten aus und gliedern sich in vier Teile: Leben, Werke, Kontexte, Wirkung. Im ersten Teil schreibt Prager über das unterbeleuchtete private Umfeld des jungen Kraus, insbesondere die ersten Lebensjahre im böhmischen Jičín und sein Elternhaus. Daniela Strigl dekonstruiert im Beitrag Beziehungen das –von Kraus selbst gepflegte – Image des unnahbaren, ewigen Einzelgängers, dessen Leben gänzlich seinem Werk gewidmet war: „Im wirklichen Leben jedoch pflegte Kraus zahlreiche Freundschaften, Bekanntschaften und Liebschaften“ (S. 41). Stärker am Text freilich orientieren sich im zweiten Teil Sigurd Paul Scheichl („Essayistik“), Jacques Le Rider („Vorlesungen“), Simon Ganahl („Dritte Walpurgisnacht“), Richard Schuberth („Aphoristik“) und andere. Letzterer diskutiert am aphoristischen Werk die schwierige Frage nach sexistischen und feministischen Tendenzen. Dabei nimmt er stilistische Anleihen bei Kraus selbst auf (vgl. etwa auf S. 145–147 die penible Auflistung von Namen, die ihn falsch zitieren). Der dritte Teil ist Themen wie Antisemitismus (Paul Reitter), Sexualität (Konstanze Fliedl), Technik (Gottfried Schnödl) und Weltkrieg (Andreas Weigl und Alfred Pfoser) gewidmet, der vierte unter anderem der archivarischen (Hermann Böhm), literarischen (Wolfgang Straub) und journalistischen Wirkung (Armin Thurnher) von Kraus.
Eine Beurteilung der einzelnen Beiträge müsste naturgemäß sehr unterschiedlich ausfallen. Überraschenderweise hat sich die Fachwelt mit Meinungen zu diesem editorischen Prestigeprojekt bislang zurückgehalten. Immerhin hat mit Jens-Malte Fischer ein bekannter Kulturwissenschaftler und Kraus-Biograph (Karl Kraus: Der Widersprecher, Zsolnay, 2020) das Handbuch besprochen. Er lobt dessen Neuigkeitswert, bringt aber auch Kritik vor (die folgenden Zitate und Paraphrasierungen beziehen sich, wenn nicht anders angegeben, auf die Online-Version von Fischer, Jens-Malte: Wo der Polemiker zu verteidigen wäre. In: Süddeutsche Zeitung, 21. November 2022). Positiv erwähnt er beispielsweise die Beiträge von Prager, Gilbert Carr („Bildungsweg“), Gerald Stieg („Die Fackel“) und Ron Mieczkowski („Wissenschaftlich“). Andere lässt er durchfallen. So konfrontiert er Joseph Wälzholz („‚Schweigen‘“ und „Rückzug?“) mit dem Vorwurf, ein „Kraus-Demontierer“ zu sein, sieht durch ihn den „größte[n] Satiriker und Polemiker der Weltliteratur“ ungerecht behandelt. Eine Verteidigungshaltung meint er auch gegenüber Werner Anzenberger („Parteipolitik“) einnehmen zu müssen (der sich seinerseits kritisch auf Fischer bezieht; vgl. S. 316). In beiden Fällen geht es um ein altes Streitthema in der Forschung: Kraus’ Eintreten für den autoritär regierenden Bundeskanzler Engelbert Dollfuß (1892–1934).
Die (wissenschaftliche) Diskussion über Kraus’ Leben, Werk und Wirkung wird sich mit dem vorliegenden Handbuch nicht erledigt haben. Fast 90 Jahre nach seinem Tod vermag er weiterhin zu faszinieren und zu polarisieren. Die HerausgeberInnen waren bemüht, einen neutralen Zugang jenseits der überkommenen „Anhänger-versus-Gegner-Schemata“ (S. 4) zu finden. Ihnen ging es darum, „möglichst viele Leser*innen im 21. Jahrhundert zu einer Auseinandersetzung mit Karl Kraus anzuregen“ (S. 5). Zweifelsfrei wird das Buch wesentlich dazu beitragen, dass man sich noch lange nach dem Jubiläumsjahr für Kraus interessiert; und dass auf einer festen Wissensgrundlage produktiv weitergestritten werden kann.
Katharina Prager und Simon Ganahl (Hg.): Karl Kraus-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Unter Mitarbeit von Isabel Langkabel und Johannes Knüchel. Berlin: J.B. Metzler, 2022, 560 S.