Es schreibt: Volker Strebel

(E*forum, 5. 9. 2024)

In seiner Jenaer Poetik-Vorlesung vom November 1993 hatte der Altmeister der tschechischen Literatur, der mährische Schriftsteller Ludvík Kundera (1920–2010), unter Bezug auf wechselhafte geschichtliche Hintergründe seines Landes auf Schicksale von Dichtern und deren zuweilen gefährdeten Publikationsmöglichkeiten aufmerksam gemacht: „Der gute alte tschechische Brauch, immerfort etwas ‚herauszugeben‘, beflügelte uns“ (Patera, Klamm und die anderen, in: Edwin Kratschmer /Hg./: Dem Erinnern eine Chance, Köln, 1995, S. 51–58). Schriftsteller verfügten in der Tschechoslowakei traditionell über ein hohes Ansehen, und die tschechische Literatur überzeugte auch jenseits der Landesgrenze durch ihren Reichtum an Formen, die Vielfalt bearbeiteter Themen wie auch die Eigenwilligkeit ihrer künstlerischen Verarbeitung. Die Bandbreite reicht von Schriftstellern wie Milan Kundera, deren Romane weltweit zu (auch verfilmten) Bestsellern wurden, über international beachtete Theaterstücke, eindrucksvoller Erzählkunst bis hin zu hermetischer Lyrik etwa eines Vladimír Holan.

 

Die bibliographische Sammlung Česká literatura v německých překladech (1989–2020) / Tschechische Literatur in deutscher Übersetzung (1989–2020) wird von einer kurzen Hinführung eingeleitet, in welcher Tomáš Kubíček den Entwicklungsstand deutscher Wahrnehmung tschechischer Literatur in den vergangenen dreißig Jahren bilanziert. Sein Beitrag Zur Einführung – Phönixe und Vogelhändler der tschechischen Literatur in deutscher Übersetzung (S. 12–17) unternimmt den Versuch, Erwartungen und Herausforderungen in den Blick zu nehmen, wobei er Polemiken des Feuilletons ebenso in seinem Blickfeld hat, wie die konkrete kulturpolitische Förderung seitens der Tschechischen Republik, die nicht zuletzt auf der Leipziger Buchmesse von 2019 bemerkenswerte Erfolge verbuchen konnte.

 

Die bibliographischen Sammlungen werden unter vier Aspekten bereitgestellt, wobei dankenswerterweise sämtliche Textbeiträge zweisprachig abgedruckt sind. Als Herzstück wird die Bibliografie tschechischer Literatur in deutscher Übersetzung (S. 203–570) nach Autoren geordnet in alphabetischer Form präsentiert. Diese Anordnung wiederholt sich bezüglich des jeweiligen Jahres der erschienenen Werke, also jeweils von 1989 bis 2022 (bis zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses). Mit der Kennzeichnung „PMK“ [Podpora na vydání od Ministerstva kultury ČR] werden Titel gekennzeichnet, die durch eine „Förderung für Veröffentlichungen durch das Kulturministerium der Tschechischen Republik“ zustande gekommen sind. Die Übersicht tschechischer Autor/innen und ihrer auf Deutsch erschienen Werke 1989–2020 (S. 572–665) ist durchgehend alphabetisch, also von AJVAZ, Michal bis ŽILÁK, Pavel, geordnet. Hinter den Namen der Autoren sind in Klammern die biographischen Jahreszahlen eingefügt. Die entsprechend angeführten Titel der Werke sind, wenn vorhanden, durch die tschechischen Ursprungstitel in eckigen Klammern ergänzt. Eine eigene Übersicht deutscher Anthologien mit Texten von tschechischen Autor/innen (S. 666–675) führt chronologisch nach Titeln sortierte Herausgaben an. Ergänzende Sekundärliteratur zur Bibliografie tschechischer Literatur in deutscher Übersetzung (1989–2020) (S. 676–688) halten wertvolle Informationen über weiterführende Veröffentlichungen bereit. Neben kurzen biographischen Hinweisen auf die Autor/innen der Studien (S. 733–735) rundet ein umfangreiches Namensregister (S. 689–728) diese außergewöhnliche Veröffentlichung ab.

 

Anne Hultsch präsentiert in ihrer quellengedeckten Längsschnittanalyse Wer kennt schon Böhmen? Oder die tschechische Literatur? Ein Blick auf dreißig Jahre tschechischer Literatur in deutschsprachigen Übertragungen (1989–2019) (S. 87–164) aufschlussreiche Hintergründe im komplexen Geflecht eines Büchermarktes unter den Bedingungen ökonomischer Rentabilität. Als Ausgangspunkt zieht sie die naheliegende Umbruchsituation in den Jahren 1989/1990 heran, um daran anknüpfend die Verlagerung der Wahrnehmung von politisch-gesellschaftlichen Ereignissen hin zu ästhetischen Kriterien zu skizzieren. Anne Hultsch analysiert Verlagsstrategien ebenso wie die Selbstvermarktung von Autoren nicht zuletzt unter dem Aspekt einer Medienpräsenz. Naturgemäß wird die Rolle der Übersetzer wie auch der Übersetzungsförderung in den Mittelpunkt gerückt, deren Arbeit letztlich für die Erfolge bei den Verlagen ausschlaggebend sind. Im Sinne ihrer Feststellung Übertragungen sind ein Kommunikationsangebot entfaltet Anne Hultsch die tückische Dialektik von Rezeption und Übertragung. Literaturen in Weltsprachen genügen oft sich selbst. Anhand so unterschiedlicher Stimmen wie Wolf Biermann oder Hans Dieter Zimmermann zeigt sie, dass es die Literaturen von kleinen Ländern sind, die sich – alles andere als provinziell – an den ‚großen‘ Literaturen orientieren.

 

Zugleich spart Anne Hultsch keine Doppelbödigkeit aus, wenn sie etwa anhand von ambivalenten Einschätzungen der tschechischen Schriftsteller Ludvík Vaculík und Jáchym Topol auf nichtauflösbare Widersprüche hinweist. Während Vaculík befürchtet, dass bereits die potentielle Möglichkeit einer Übersetzung des Textes das Schreiben deformiert, setzt Topol im Gegenteil darauf, dass ein übersetzerfreundlich geschriebener Text („euroromán“) näher an der modernen Gegenwart angesiedelt ist. Anhand konkreter Beispiele führt Anne Hultsch in erfrischend kritischer Weise Erfolge wie Enttäuschungen im Unterfangen an, tschechische Literatur einer deutschen Leserschaft nahezubringen. Sie führt die „Tschechische Bibliothek“ ebenso an, die mit ihrem 33. Band nach zehn Jahren intensiver Herausgebertätigkeit unter der Leitung von Hans Dieter Zimmermann 2007 zum Abschluss gekommen war, wie etwa auch das Ludvík Kundera-Institut im Peter Huchel-Haus in Wilhelmshorst.

 

Eine Vielzahl von Daten und Informationen bezüglich der Problematik der deutsch-tschechischen Nachbarschaft nicht zuletzt in Hinsicht auf die Vermittlung und Wahrnehmung tschechischer Literatur hält der Beitrag Übersetzungen von Büchern tschechischer Literatur von 1989–2020 ins Deutsche (S. 182-200) von Lenka Pokorná Korytarová bereit. Neben aufschlussreichen einschlägigen Grafiken und tabellarischen Auflistungen erläutert sie zudem Entstehung und Vorgehensweise wie etwa dem Schema eines Bibliographieeintrages der präsentierten Sammlung. Hinsichtlich des Erscheinungsortes der angeführten Titel werden Veröffentlichungen im deutschen, österreichischen und tschechischen Sprachraum sowie in der Schweiz herangezogen. Bezüglich der Gattungen werden neben Belletristik (Prosa, Lyrik, Drama) und Kinderbüchern die Grenzbereiche hin zu Ausgaben philosophischer oder theologischer Thematik erweitert. Zudem unterstreicht Lenka Pokorná Korytarová, dass die dokumentierten Namen hinsichtlich ihrer „territorialen Zugehörigkeit“ ausgewählt wurden. Darunter fallen also solche Autoren, die in Tschechien geboren sind, aber aufgrund verschiedener Umstände im Ausland leben oder auch nicht mehr in tschechischer Sprache schreiben.

 

Zu den bekannten Tücken bibliographischer Zusammenstellungen gehört es nahezu unvermeidbar, dass Titel angeführt werden, die zwar von Verlagen angekündigt waren, eine Auslieferung aber aus verschiedenen Gründen nicht stattgefunden hat. So lässt sich etwa in einschlägigen philosophischen Publikationen immer wieder der weiterführende Hinweis auf Karel Kosíks Kritik der technischen Vernunft (Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 1973) finden. Im vorliegenden Band etwa wird Ivan Blatnýs Hilfsschule Bixley (Klagenfurt / Wien, Wieser Verlag, 2001) in der Übersetzung von Christa Rothmeier aufgeführt, eine Ausgabe, welche ebenfalls nie erschienen ist.

 

Die Herausgabe dieser umfangreichen Präsentation ist der Mährischen Landdesbibliothek zu verdanken. Die „Moravská zemská knihovna“ [MZK] (Mährische Landesbibliothek) ist die zweitgrößte Bibliothek der Tschechischen Republik und hat sich seit Langem durch aufwendige wie außergewöhnliche Unternehmungen für die Forschung verdient gemacht. Dass die vorliegende Zusammenstellung Tschechische Literatur in deutscher Übersetzung (1989–2020) zugleich im Internet frei zugänglich ist, unterstreicht das Engagement der Mährischen Landesbibliothek wie auch der beteiligten AutorInnen bezüglich einer grenzüberschreitenden Wahrnehmung tschechischer Literatur. Dieses in jahrelanger mühevoller Kleinarbeit entstandene Kompendium bildet eine unerlässliche Fundgrube für BohemistInnen, PhilologInnen, ÜbersetzerInnen und VerlegerInnen. Zugleich lässt sich bei der Durchsicht feststellen, dass man sich auch ganz unwissenschaftlich festlesen kann. Dann finden sich Überraschungen oder längst entfallene Autoren und Werke. Auf diese Weise kann die Beschäftigung mit dieser umfangreichen Ausgabe den angenehmen Nebeneffekt einer Inspiration annehmen, sich mit Ausgaben tschechischer Literatur zu beschäftigen.

 

 

Anne Hultsch / Lenka Pokorná Korytarová / Tomáš Kubíček: Česká literatura v německých překladech (19892020) / Tschechische Literatur in deutscher Übersetzung (19892020). Moravská zemská knihovna v Brně, Brno (Brünn), 2022, 735 S.


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