Es schreibt: Lenka Vodrážková
(E*forum, 28. 8. 2024)Das Interesse an der deutschen Sprache und Literatur in den Böhmischen Ländern, von dem auch das Projekt des Sudetendeutschen Wörterbuchs zeugt, geht auf das Erbe der langen geschichtlichen und gesellschaftlichen Entwicklung in Böhmen, Mähren und Schlesien zurück, wo jahrhundertelang Tschechen und Deutsche nebeneinander lebten, die im regionalen Kontext als Deutschböhmen oder auch Deutschmährer bzw. Deutschschlesier bezeichnet wurden. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts wird der Begriff Sudetendeutsche für die Bevölkerung deutscher Nationalität in den Böhmischen Ländern verwendet, abgeleitet vom traditionellen deutschen Siedlungsgebiet im gebirgigen Grenzgebiet der Sudeten, das sich vom Elbsandsteingebirge in Nordböhmen bis zur Mährischen Pforte in Ostmähren erstreckt. Die tschechisch-deutschen nationalen Beziehungen wurden seit dem frühen Mittelalter von der Christianisierung, der Heiratspolitik der oberen Gesellschaftsschichten und der Entwicklung der Handelsbeziehungen geprägt und durch die kontinuierliche deutsche Besiedlung im Zuge der Kolonisationsbewegung, insbesondere im 13. Jahrhundert intensiviert. Infolge der deutschen Kolonisation, die durch politische, wirtschaftliche und kirchliche Bindungen unterstützt wurde, wurden die Böhmischen Länder zu einem zweisprachigen – tschechisch-deutschen – Gebiet. Der Prozess der deutschen Besiedlung der Böhmischen Länder vollzog sich vor allem in der Grenznachbarschaft zwischen den Randgebieten der tschechisch- und der deutschsprachigen Länder, so dass eine große Ähnlichkeit zwischen den historischen Dialekten beiderseits der geografischen Grenze besteht: Die Deutschen zogen ab dem 12. Jahrhundert. In die böhmische Ebene zunächst von Westen her, aus Bayern, später vom Süden her, aus Österreich, später noch vom Norden her, aus Franken, Thüringen und Sachsen, und schließlich, im 13. Jahrhundert – nachdem auch in Schlesien deutsche Siedlungen entstanden waren – auch vom Osten her. Die deutschen Kolonisten kamen nicht nur aus den unmittelbaren Nachbarregionen, sondern auch von weiter her, zum Beispiel aus dem Rheinland oder aus Flandern. Mitte des 13. Jahrhunderts kam es zu einer weiteren Einwanderung von Deutschen, z. B. aus der Meißen-Region, der Oberlausitz und Schlesien. Von den deutsch besiedelten Gebieten Niederösterreichs aus wurde ab Ende des 11. Jahrhunderts Südmähren besiedelt. Wie der Besiedlungsprozess verlaufen ist, war dann entscheidend für die Entstehung deutscher Dialektgebiete in den Böhmischen Ländern – Mittelbairisch im Süden und Südwesten Böhmens, Nordbairisch im Westen Böhmens, Ostfränkisch in Nordwestböhmen, Obersächsisch in Nordböhmen und Schlesisch in Nordostböhmen, Nordmähren und Schlesien. Während in den südlichen und westlichen Dialektgebieten die süddeutschen Sprachelemente (das sog. „Oberdeutsch“) überwogen, herrschten in den nördlichen und östlichen Dialektgebieten ostmitteldeutsche sprachliche Aspekte (das sog. „Ostmitteldeutsch“) vor. Im Landesinneren bildeten sich Sprachinseln, deren Dialekt nicht immer unmittelbar den Dialekten des deutschen Sprachraums zugeordnet werden kann (z. B. der nordbairische Dialekt in Iglau und Deutschbrod). In Prag, wo eine weitgehende tschechisch-deutsche Zweisprachigkeit vorherrschte, wurde das Deutsche seit dem Ende des 13. Jahrhunderts sowohl von bairischen als auch von mittelhochdeutschen Elementen beeinflusst. Die deutsche Besiedlung veränderte die Bevölkerungsstruktur in Böhmen und Mähren bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts bzw. bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs.
Wie wichtig die Erforschung und Beschreibung der deutschen Dialekte in den Böhmischen Ländern für die Entwicklung von Sprache, Geschichte, Kultur und Literatur ist, zeigt auch die umfangreiche und langjährige Arbeit am Sudetendeutschen Wörterbuch. Teil des Wörterbuchprojekts ist der Sammelband Das Sudetendeutsche Wörterbuch. Bilanzen und Perspektiven, der als elfter Band der Reihe DigiOst im Rahmen der Kooperation deutscher Institutionen mit Bezug zur Geschichte und deutscher Sprache erschienen ist (Collegium Carolinum – Forschungsinstitut für die Geschichte Tschechiens und der Slowakei, München; Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz-Gemeinschaft, Marburg; Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropa, Regensburg). Auch wenn der Titel des Sammelbandes verschiedene (z. B. politische) Perspektiven auf das Thema Sudetendeutsches Wörterbuch hervorrufen mag, geht es in der rezensierten Publikation v. a. um die Bilanz und die philologischen bzw. lexikographischen Perspektiven. Die Publikation „vereint Beiträge zur facettenreichen Entstehungsgeschichte des Wörterbuchs, zu seiner dadurch bedingten spezifischen Konstruktion sowie zum Dokumentenreichtum der Wörterbuchkanzlei“. Neben einer Reflexion der bisherigen Arbeit an den ersten fünf Bänden des Sudetendeutschen Wörterbuchs werden in dem Sammelband aktuelle Fragen der Dialektgeographie und insbesondere die aktuelle und zukünftige Form digitaler Wörterbücher am Beispiel mehrerer Dialektwörterbücher und Spezialstudien behandelt. In diesem Zusammenhang gibt der Sammelband auch Anregungen für die nächste Phase der Arbeit am Wörterbuch und Perspektiven für dessen weitere Nutzung und Anwendung. Insgesamt lassen sich die Beiträge des Sammelbandes in drei Themenbereiche einordnen, die allerdings nicht der Reihenfolge der Beiträge in der Publikation entsprechen: 1) das sudetendeutsche Wörterbuch – Abriss seiner Ziele, Quellen, Konzeption und Bedeutung, 2) das sprachliche Material des Wörterbuchs und 3) die Perspektiven der digitalen Lexikographie.
Der erste Themenbereich enthält einen zusammenfassenden Beitrag von Otfried Ehrismann, einem der Mitautoren des Wörterbuchs, über die Bedeutung des Sudetendeutschen Wörterbuchs als kulturhistorisches Denkmal. Die Darstellung der Geschichte des Sudetendeutschen Wörterbuchs hat selbstverständlich ihren Platz in einem Sammelband, dessen Ziel es ist, die Entstehungsgeschichte des Wörterbuchs aufzuarbeiten. Im Zusammenhang der Erforschung der deutschen Sprache und Literatur in den Böhmischen Ländern im Bereich der universitären und außeruniversitären Germanistik widmeten v. a. die deutschen Germanisten ihre Aufmerksamkeit den deutschen Dialekten in den Böhmischen Ländern. Den ersten Beiträgen über die deutschen Dialekte in Böhmischen Ländern vom österreichischen Germanisten Hans Lambel (1842–1921) und nach ihm von Adolf Hauffen (1863–1930) folgte die nächste Generation der Prager Germanisten, insbesondere Erich Gierach (1881–1943) und Ernst Schwarz (1895–1983). Ihre enge persönliche Beziehung zum deutschen Grenzgebiet in Nordböhmen (Erich Gierach lebte während seiner Zeit an der Prager Universität ständig in Reichenberg und Ernst Schwarz stammte aus Haida) inspirierte sie neben ihrem Interesse an der Onomastik der deutschsprachigen Gebiete der Böhmischen Länder auch bei ihrer lexikographischen Arbeit. Primus Lessiak (1878–1937), Professor an der Prager Universität, österreichischer Dialektologe und einer der Pioniere der Dialektgeographie weckte bei Ernst Schwarz das Interesse an Onomastik und deutschen Dialekten. Der Anstoß zur Erforschung der deutschen Dialekte West- und Nordböhmens kam Anfang der 1930er Jahre von dem Leipziger Germanisten Theodor Frings (1886–1968), der zu dieser Zeit an einem Wörterbuch der sächsischen Dialekte arbeitete. Eine wichtige Rolle bei der Entstehung und Erarbeitung des sudetendeutschen Mundartwörterbuchs spielte natürlich auch der politische Kontext des aufkommenden deutschen Nationalismus in den 1930er Jahren, der mit der Absicht verbunden war, die Bedeutung der deutschen Sprache bzw. der deutschen Dialekte in den Böhmischen Ländern zu stärken und zu betonen. Die umfangreichen Unterlagen zum Sudetendeutschen Wörterbuch, einschließlich des kartographischen Materials und der Fragebögen zur Erforschung der einzelnen deutschen Dialekte in den Böhmischen Ländern, die Ernst Schwarz und seine Schüler nach Gierachs Abreise nach München 1936 bearbeiteten, befinden sich derzeit in den Beständen „Deutsche Universität“ im Archiv der Karls-Universität. Ernst Schwarz nahm die durch die Vertreibung (1945) unterbrochene Arbeit nach einigen Jahren wieder auf und initiierte im Jahr 1957 in Zusammenarbeit mit seinem ehemaligen Prager Kollegen Franz Joseph Beranek (1902–1967) und mit Unterstützung des Münchner Vereins Collegium Carolinum die Wiederaufnahme der Arbeiten am Wörterbuch. Er erlebte die Veröffentlichung des ersten Heftes des Sudetendeutschen Wörterbuchs im Jahr 1982, der erste Band (aus den ersten acht Einzelheften zusammengestellt) wurde jedoch erst nach seinem Tod 1988 veröffentlicht. Die Arbeit am Wörterbuch war Teil eines Projekts zur „Sprach- und Kulturgeschichte der deutschsprachigen Bevölkerung Böhmens, Mährens und Schlesiens“, an dem sich eine Abteilung des Collegium Carolinum Sudetendeutsches Wörterbuch mit Sitz an der Justus-Liebig-Universität Gießen beteiligt. Die Aufgaben, Ziele, Quellen und methodologische Verfahren der lexikographischen Arbeit werden im Sammelband von der Herausgeberin des Sudetendeutschen Wörterbuchs, Isabelle Hardt, zusammengefasst. Ziel der Arbeit ist es – angesichts der Nachkriegsentwicklung und der nationalen Verhältnisse in der Tschechoslowakei – die Einzigartigkeit und Eigenart der deutschen Dialekte in Böhmen, Mähren und Schlesien und ihr Wortschatz für die west- und mitteleuropäische Sprach-, Kultur- und Sozialgeschichte zu dokumentieren und gleichzeitig die Form der vom Aussterben bedrohten deutschen Dialekte auf der Grundlage des dialektalen Sprachstandes zur Zeit der und vor der Vertreibung zu bewahren. Die Arbeit am Wörterbuch wird durch grundlegende Informationen zum Wörterbuch, einschließlich der methodologischen Vorgehensweise bei der Erstellung der Lemmata, sowie durch eine umfassende Zusammenfassung der bisherigen Arbeit am Wörterbuch veranschaulicht. Die informativen Verzeichnisse der Bibliographie zum Sudetendeutschen Wörterbuch, die von den Redaktionsmitgliedern bei der Arbeit am Wörterbuch zusammengestellt und verwendet wurden, sind nützlich und wertvoll. Dazu gehört auch eine Übersicht über das Quellenmaterial, d. h. über sie Zeitschriften und Periodika für die Lemmata-Exzerpte, die von Bettina Hofmann-Käs erstellt wurde (Zeitschriften und Periodika der Redaktion des Sudetendeutschen Wörterbuchs, sowie Beschreibungen der Bestände und Kataloge der Redaktion und Bibliographien der jeweiligen erschienenen Bände des Wörterbuchs und ferner der thematisch mit dem Sudetendeutschen Wörterbuch verbundenen Beiträge (Die Bestände der Redaktion des Sudetendeutschen Wörterbuchs und Bibliografie zum Sudetendeutschen Wörterbuch), die von Otfrid Ehrismann für den Sammelband zusammengestellt wurden. Der einzige Beitrag in diesem Themenkreis, der sich mit weiteren Perspektiven des Sudetendeutschen Wörterbuchs befasst, stammt vom Leiter der Wörterbuchredaktion, Prof. Thomas Gloning, er widmet sich dem interessanten und aktuellen Thema einer digitalen Version des Sudetendeutschen Wörterbuchs, die nicht nur eine bessere Zugänglichkeit des Wörterbuchs für den Benutzer bedeuten, sondern auch neue Möglichkeiten der Arbeit mit den Lemmata ermöglichen würde.
Der zweite Themenbereich des Sammelbandes bringt Beiträge v. a. zum deutschen Wortschatz aus den Böhmischen Ländern. Ein anregender Beitrag ist die Untersuchung von Klaas-Hinrich Ehlers über den Wortschatz der Deutschen aus den Böhmischen Ländern, die sich nach der Vertreibung 1945 in der Mecklenburg-Region niedergelassen haben (Verliert sich alles – eine kurze Tradierungsgeschichte des Herkunftswortschatzes immigrierter Vertriebener im mecklenburgischen Sprachumfeld). Anhand von Beispielen alltäglicher Wortschatzlexeme, z. B. Kren – Meerrettich, Karfiol – Blumenkohl, Schmetten – Sahne, Paradeiser – Tomate, heuer – dieses Jahr usw., veranschaulicht der Autor, wie die ursprünglichen regionalen Ausdrücke aus dem Wortschatz der nachfolgenden Generationen der aus Böhmen, Schlesien und der Slowakei vertriebenen Deutschen durch den Einfluss der neuen Mehrheitsumgebung allmählich verdrängt wurden. Aus dem sprachlichen Material des Sudetendeutschen Wörterbuchs schöpft der Beitrag von Štěpán Balík über die Aschkenazismen im böhmischen Deutsch (Woas host – du’n heit fier an Schabesdeckl auf? Vzorek aškenazismů v české němčině stanovený na základě jazykového materiálu ze Sudetoněmeckého slovníku a jeho katalogu v Gießenu). In diesem Fall ist der Beitrag im Tagungsband in identischer Fassung in englischer und tschechischer Sprache abgedruckt, was die Herausgeber des Tagungsbandes mit dem Hinweis auf die Adressaten beider Sprachkulturen – der tschechischen und der deutschen – begründen. Da die anderen Beiträge nur in einer Sprachfassung veröffentlicht wurden, erscheint diese Entscheidung nicht unbedingt plausibel, zumal dieser Beitrag keine grundlegenden Informationen zum Sudetendeutschen Wörterbuch enthält, sondern sich nur mit einem Teilthema dessen sprachlichen Materials beschäftigt.
Der letzte Themenbereich berührt die Perspektiven der Weiterentwicklung des Sudetendeutschen Wörterbuchs, insbesondere die Frage der digitalen Version, am Beispiel von digitalen Wörterbüchern (Almut König: Das Fränkische Wörterbuch. Ein Werkstattbericht) und Computerprogrammen, die in der Dialektlexikographie eingesetzt werden (Alfred Lameli: Dialektwörterbücher zwischen Web 0.0 und Web 3.0 und Eckhard Eggers: Python und SQLite in der Dialektlexikographie). V. a. der Weg der Digitalisierung ist in der Lexikographie aktuell, wie u. a. das Beispiel des Frühneuhochdeutschen Wörterbuchs von Oskar Reichmann (1989f.) zeigt, das den deutschen Wortschatz von Mitte des 14. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts erfasst und beschreibt und dessen ursprüngliche Druckfassung seit 2017 um eine Online-Version erweitert wird. Die digitalen Versionen der Wörterbücher bieten eine breitere Palette von Möglichkeiten für die Arbeit mit Sprachmaterial und Referenzen. Dies ist unter dem Gesichtspunkt der Zugänglichkeit für Wörterbuchbenutzer aus verschiedenen Disziplinen wichtig, die sich im Falle des Sudetendeutschen Wörterbuchs mit dem deutschen Element in den Böhmischen Ländern aus historischer, archivarischer, sprach- oder literaturwissenschaftlicher Sicht beschäftigen.
Die Arbeit an dem Sudetendeutschen Wörterbuch, das die deutsche Sprache als einen wichtigen Teil des sprachlichen und kulturellen Reichtums der Böhmischen Länder präsentiert, ist in jeder Hinsicht eine verdienstvolle Leistung. Da es sich um ein langfristiges Werk handelt, muss es als richtig betrachtet werden, dass die Herausgeber und die anderen Mitarbeiter des Wörterbuchs beschlossen haben, eine Bilanz der lexikographischen Arbeit und der bisher erzielten Ergebnisse zu ziehen, aber auch die Perspektiven für die weitere Entwicklung und Konzipierung des Wörterbuchs zu diskutieren. Es ist zu wünschen, dass die Arbeit an dem Sudetendeutschen Wörterbuch bis zu dessen Fertigstellung sowohl in gedruckter als auch in digitaler Form erfolgreich fortgesetzt wird.
Übersetzung: Lukáš Motyčka
Otfrid Ehrismann / Isabelle Hardt (Hgg.): Das Sudetendeutsche Wörterbuch. Bilanzen und Perspektiven [DigiOst, hg. von Martin Schulze, Peter Haslinger und Ulf Brunnbauer, Bd. 11]. Berlin: Frank Frank & Timme, 2021, 258 S.