Es schreibt: Alžběta Peštová

(E*forum, 31. 7. 2024)

Spricht man über die Wiener Moderne, wird der Name Richard Schaukals nicht in der ersten, aber meist gleich in der zweiten Reihe eines breiteren Kreises ihrer Akteure genannt. Im Unterschied zu vielen seiner literarischen Zeitgenossen, die so wie er aus der mährischen Region stammten und deren (nicht selten) umfangreiches Werk sowie ihre Position im Feld des Literatur- und Kulturbetriebs um 1900 bis heute auf eine eingehende wissenschaftliche Verarbeitung warten (vor allen anderen sind Jakob Julius David und Karl Hans Strobl zu nennen) erschienen zum Werk sowie zur Persönlichkeit Richard Schaukals in den letzten 30 Jahren gleich drei Monographien sowie etliche Einzelstudien (vgl. die Monographien von Claudia Warum: Richard von Schaukal als Kritiker und Übersetzer aus dem Französischen. Dissertation. Universität Wien, 1993, Dominik Pietzcker: Richard von Schaukal. Ein österreichischer Dichter der Jahrhundertwende. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1997 oder Libor Marek: Die Erfahrung der Moderne im Werk Richard von Schaukals. Zlín: VeR-BuM, 2011).

 

Als literarischer Autor wurde Richard Schaukal (1874–1942) bereits in den 1890er Jahren bekannt durch seine Gedichtbände Tristia (1898) und Tage und Träume (1899), die poetische Strömungen der Jahrhundertwende (Dekadenz, Neuromantik, Ästhetizismus) kombinieren; nach 1900 weckten v. a. seine Verlaine-Übertragungen (Verlaine-Heredia, 1906) und der bis heute immer wieder aufgelegte Kurzroman Leben und Meinungen des Herrn Andreas von Balthesser, eines Dandy und Dilletanten (1907) die Aufmerksamkeit des Literaturbetriebs. Der Erste Weltkrieg leitete eine zunehmende Politisierung des Autors ein, der zunächst sowie viele andere eine Kriegsbegeisterung (vgl. den Lyrikband Kriegslieder 1914/15) und nach dem Zerfall der Monarchie eine immer mehr antidemokratische, konservative und nicht selten antisemitische Haltung zum Ausdruck brachte, während seine literarische Tätigkeit gleichzeitig abnahm. Die Hintergründe dieser Entwicklung werden in der neuesten, hier zu besprechenden Monographie detailliert beleuchtet. Von Cornelius Mitterer (2020) wird das Leben des Autors, der bis jetzt v. a. hinsichtlich seiner literarischen und weniger auch publizistischen Texten und in Bezug zur österreichischen Moderne untersucht wurde (vgl. v. a. Pietzcker, 1997), in einen breiteren mitteleuropäischen Kontext gestellt.

 

Mitterer, früherer Mitarbeiter am Wiener Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biographie, konstatiert zum Anfang seiner Studie einen bisherigen Mangel im Bereich der theoretischen Biographieforschung im deutschsprachigen Raum und grenzt sich gleichzeitig methodologisch von den Formen einer Lebensverlaufsbeschreibung und ‚lifewritingʻ ab, die einen kontinuierlichen, kausalen Lebensverlauf suggerieren. Schaukals öffentliches ‚Lebenʻ will er nicht verfälschend als chronologischen Ablauf bestimmter Ereignisse darstellen, sondern auf der Grundlage der Netzwerktheorie in den Verflechtungen der mitteleuropäischen Modernen (Wien, München, Berlin), was es erlaubt, sowohl die „Netzwerkzugehörigkeit von Akteuren, [ihre] Verhaltensweisen und den konkreten Nutzen der Kontakte als auch die im Netzwerk kursierenden (literarischen) Diskurse“ (S. 45) ins Auge zu fassen. Die recht offene und deswegen mit anderen theoretischen Modellen kompatible Netzwerktheorie grenzt Mitterer durch den Feldbegriff Pierre Bourdieus ein, um „die Gefahr, Hierarchien und Machtkonstellationen aufgrund der flachen Struktur von Netzwerken zu übersehen, [einzudämmen]“ (S. 38); in Betracht gezogen werden dementsprechend immer wieder die unterschiedlichen Formen und Strukturen von Kapital zwischen den einzelnen Akteuren des literarischen Lebens. Eine weitere Einschränkung der Studie ergibt sich aus der Beschaffenheit der Netzwerke – diese stellen „Momentaufnahmen“ dar: „Netzwerkuntersuchungen [können] nur einen synchronen Ausschnitt“ (S. 40) aus dem sozialen und literarischen Leben des Autors in Betracht ziehen. Trotzdem deckt das Bild, das sich schließlich aus den einzelnen Kapiteln ergibt, einen großen Teil des aktiven Wirkens Schaukals ab und wirft ein Licht auf seine Rolle als Rezensent, Vermittler und (nur partiell erfolgreicher) Selbstvermarkter.

 

Das Textkorpus, mit dem Mitterer arbeitet, setzt sich hauptsächlich aus der Korrespondenz des Autors sowie aus essayistischen Texten zusammen. Der Umfang der in der Wienbibliothek im Rathaus aufbewahrten Korrespondenz Schaukals und das Spektrum der Persönlichkeiten, mit denen er im Kontakt stand, ist kaum zu überblicken und liest sich wie ein Autorenlexikon der europäischen literarischen Moderne. Es umfasst u. a. die Autoren der Wiener Jahrhundertwende (Hermann Bahr, Stefan Zweig, Arthur Schnitzler), der Prager (Max Brod, Rainer Maria Rilke) und Münchner Moderne (Thomas und Heinrich Mann, Franz Blei, Otto Julius Bierbaum, Arno Holz) sowie geographisch entferntere Kontakte (u. a. Filippo Tomas Marinetti) und Künstler (u. a. Adolf Loos, Alfred Kubin). Mitterer zeigt dabei in den einzelnen Kapiteln, die sich jeweils auf die Beziehungen zu den Vertretern bekannter literarischer Gruppierungen (George-Kreis, Jung-Wien) bzw. literarischer Zeitschriften (Jugend, Das Gewissen) konzentrieren, dass die zahlreichen Kontakte von Schaukal hauptsächlich aus pragmatischen Gründen geknüpft wurden, um den Einfluss der angesprochenen Persönlichkeiten (allen voran Thomas und Heinrich Mann) bei seiner eigenen Suche nach Publikationsmöglichkeiten und seiner Etablierung in der Publikationslandschaft der deutschsprachigen Moderne zu nutzen.

 

In der Terminologie Bourdieus, auf die Mitterer in seiner Studie konsequent zurückgreift, versuchte Schaukal dadurch sein – ökonomisches, soziales, symbolisches sowie kulturelles – Kapital zu erhöhen. Das Erstere spielte dabei sicherlich die geringste Rolle: Schaukal war durch seine Heirat und die Stellung eines Staatsbeamten gut aufgestellt und somit nicht auf die (ohnehin nicht exorbitanten) Verdienste aus seinen Publikationen angewiesen. Die Vermehrung des sozialen und kulturellen Kapitals war vielmehr das Ziel der literarischen und künstlerischen Bekanntschaften. Davon zeugen beispielweise die in der Monografie beschriebenen Annäherungsversuche mit den hierarchisch höher gestellten Adeligen wie Marie von Ebner-Eschenbach, die zwar Schaukal beruflich von keinem größeren Nutzen war, allerdings durch ihre langjährige Freundschaft Schaukals gesellschaftliches Prestige erhöhte. Oder auch die bereits erwähnten Kontakte zu den im Literaturbetrieb bereits etablierten Brüdern Mann, die Schaukal zu Publikationen im Simplicissimus und einem Kontakt beim Langen-Verlag verhalfen. Der Autor konnte sich auch auf diese Weise in den bedeutenden literarischen Medien (neben Simplicissimus u. a. auch Wiener Rundschau, Ver Sacrum und v. a. Jugend) und Verlagen (Georg Müller, E. Pierson, Hermann Seemann, Insel, Wiener Verlag) der Zeit durchsetzen. Seine literaturkritische und essayistische Tätigkeit, die sich nicht auf zeitgenössische Literatur und Kunst beschränkte, sondern ein breites Epochenspektrum bis hin zur Romantik und Klassik abdeckte, machte ihn zum respektierten Literaturkenner, zu dem viele Autoren selbst Kontakt suchten, um durch ihn bei einem breiteren Publikum bekannt zu werden. Mitterer macht gleichzeitig deutlich, dass Schaukal seine Essayistik und seine biographischen Porträts (u. a. E. T. A. Hofmann und Karl Kraus) aber auch als Mittel zur gut durchdachten Selbstdarstellung als erhabener Dichter nutzte, um seinen Status innerhalb der literarischen Landschaft zu erhöhen.

 

Anhand zahlreicher Briefe illustriert Mitterer allerdings, dass die meisten Beziehungen Schaukals mit anderen literarischen Akteuren nur einige Jahre währten und dass dies meistens Schaukals Verhaltensweise geschuldet war. In seinen Briefen legte er offenbar ein hohes Selbstbewusstsein hinsichtlich seiner eigenen literarischen Texte und ein elitäres Gehabe eines von der Gesellschaft und kommerzialisierten Literatur distanzierten Künstler an den Tag. Vielfach konfrontierte er seine Korrespondenten aber auch mit einer harschen Kritik ihrer Werke, die er durch einige positiven Elemente auszubalancieren versuchte. Durch diese offensive Vorgehensweise hoffte er wohl Anerkennung zu finden. Manche Kontakte (z. B. zu Heinrich und bald danach auch Thomas Mann) brachen danach allerdings ab oder entwickelten sich kaum weiter (Richard Dehmel). Um sich in den erwünschten Kreisen zu vernetzen, scheute er wiederum nicht vor dreisten Anbiederungsversuchen (wie im Falle des George-Kreises oder des Jung-Wiens Hermann Bahrs, wobei beide Versuche erfolglos blieben).

 

Schaukal schaffte es, sich nach 1900 im deutschsprachigen Raum als anerkannter Autor, Übersetzer und Kritiker einigermaßen zu etablieren. Mitterer zeigt jedoch, dass dies trotzdem „nicht zu einer dauerhaften Festigung seiner Position im literarischen Feld“ (S. 224) führte, denn er konnte seine Vernetzungen nicht bündeln und seine Kontakte nahmen nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs immer mehr ab. Der Zerfall der Monarchie und Schaukals Hinwendung zur Politik und einem teils latenten, teils expliziten Antisemitismus führten zur fortschreitenden Ablehnung seitens der zeitgenössischen Akteure auf dem Feld der Literatur. Daran änderte die 1929 ins Leben gerufene Richard-Schaukal-Gesellschaft wenig, die das Werk des Autors in Österreich propagieren sollte. Sie verlor Ende der 1930er Jahre aufgrund ihrer ablehnenden Haltung zum Deutschen Reich auch den verbleibenden Einfluss.

 

Obwohl der (mglw. Zu vorsichtig) formulierte Anspruch der Monographie Mitterers, nur auf eine Analyse einiger zentraler und zeitlich begrenzter Aspekte im Schaffen Schaukals abzuzielen, gelingt der Studie ein komplexer Einblick in die publizistischen und marktorientierten Strategien und somit auch in das prekäre Autorschaftskonzept Schaukals. Die Monographie erhellt gleichzeitig viele Aspekte des Literaturbetriebs der Jahrhundertwende – das Funktionieren des österreichischen und deutschen Verlagswesens, die Möglichkeiten und Notwendigkeiten einer Selbstvermarktung der Autoren, wobei dieser Blick „hinter die Kulissen“ auf den Leser etwas ernüchternd wirken kann. Nicht zuletzt sind die Vernetzungen des aus Brünn stammenden Schaukal mit den Münchner und Prager Schriftstellern ein Beispiel dafür, dass die Verbindungen der mährischen Autoren der Jahrhundertwende auch in andere Richtungen gingen als nur in das nahegelegene Wien. Für die weitere Forschung (nicht nur) zu Schaukal wird sicherlich auch das erstmals vollständige Werkverzeichnis des Autors vom Nutzen sein, das nun auch die literarischen sowie publizistischen Texte in Buchform sowie Zeitungs- und Zeitschriftenveröffentlichungen auflistet.

 

 

Cornelius Mitterer: Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne. Berlin – Boston: De Gruyter, 2020, 302 S.


zpět | stáhnout PDF