Es schreibt: Markus Grill
(19. 7. 2024)„Ein übersetztes Buch ist wie eine Leiche.“ Thomas Bernhard war kein Freund von Übersetzungen. Nicht überliefert ist seine Meinung zu Rückübersetzungen: Ein Text, der in eine Zielsprache übersetzt wurde, wird in einem erneuten translatorischen Akt zurück in die Originalsprache übertragen. In der Bernhardschen Übertreibungsrhetorik käme das einer geschminkten Leiche gleich. Doch sollte man nicht von einem Vergehen am sprachlichen Kunstwerk ausgehen. Denn Bücher gehen bisweilen verloren. Geschehen ist das mit dem einzigen Roman von Bibiana Amon (1892–1966). Er erschien 1939 unter dem Titel Barrières in französischer Übersetzung. Das deutschsprachige Originalmanuskript ist verschollen. Die vorliegende Rückübersetzung ist also als editorische Notmaßnahme gerechtfertigt, um den Roman überhaupt in deutscher Sprache zugänglich zu machen.
Erzählt wird der Existenzkampf einer jungen Frau im Wien des frühen 20. Jahrhunderts. Anna Lisser wird in eine ärmliche Familie hinein geboren. Sie wächst ohne Vater auf; bei einer Mutter, die das Kind hasst und misshandelt. Als Jugendliche entflieht sie den toxischen Verhältnissen in die Großstadt, wo sie um sozialen Aufstieg ringt. Anna ist attraktiv und berechnend. Allein die Männer, auf die sie sich einlässt, sind berechnender. So wechseln mit den Liebhabern ihre Lebensumstände zwischen Luxus und Elend. Ihre Beziehung zu sich und ihrem Körper ist gestört: Während sie sich selbstbewusst gibt, kämpft sie mit Gefühlen von Minderwertigkeit. Barrières (deutsch: Barriere, Hindernis) ist ein eindringliches Psychogramm; kein innovativer, aber ein allemal lesenswerter Text über das Scheitern weiblicher Selbstermächtigung in einer männerbeherrschten Gesellschaft.
Neuentdeckt und übersetzt wurde der Roman von Literaturwissenschaftler Walter Schübler. Er präsentiert ihn als Schlüsselroman zum Leben der Autorin. Den Erlebnissen von Anna Lisser schaltet er Informationen zu Bibiana Amon und ihrer Zeit zwischen, sodass Parallelen hervortreten. Das ist gewöhnungsbedürftig. Zumal zur Erzähler- und zur Stimme des Biographen eine dritte hinzukommt. Sie fasst Passagen des Romans, der nicht vollständig abgedruckt ist, zusammen. Amon ist uns bislang nur als Randfigur in den Biographien berühmter Männer bekannt gewesen; als Muse von Egon Schiele oder Franz Werfel. Schilderungen zu ihrer Person waren nur wenige überliefert. Zeitgenossen erinnerten überwiegend abschätzig an eine halbgebildete, quirlig-freche Schönheit an der Seite von Peter Altenberg und Anton Kuh in den prominenten Kaffeehauszirkeln der Stadt – gleichsam Truman Capotes Holly Golightly im alten Wien. Als Autorin von eigenem Recht ist Amon jedenfalls eine Neuentdeckung.
Schüblers Buch ist ein unorthodoxer Hybrid: halb Roman, halb Biographie. Der Verlag Edition Atelier musste in der Vermarktung auf eine etablierte Gattungsbezeichnung verzichten. Bibiana Amon. Eine Spurensuche lautet daher der vollständige Buchtitel. Das ist klug gelöst. Bekanntlich wecken „Entdeckungsreisen“, „Erkundungen“ und ähnliche vage-verheißende Nebentitel die Explorationslust von Sachbuch-LeserInnen. Ohnedies hätte man bloß von einer Biographie wider Willen sprechen können. Schübler hat bereits mit alternativ angelegten Studien etwa zu Johann Nestroy (2001) und Anton Kuh (2018) seine Abneigung gegen den herkömmlichen biographischen Ansatz demonstriert. Er wendet sich gegen eine Art von Lebensgeschichten, die sich in allzu großer Fabulierlust von den Quellen entfernen und Lücken in der Überlieferung erzählerisch stopfen. „O weg mit diesem poetischen Geschichtschreiber!“(S. [6]) – Lessings Ausspruch ist dem Buch als Motto vorangestellt.
Schübler steht in einer langen Tradition des Vorbehalts gegen die Biographik. Pierre Bourdieu führte 1986 den Begriff der „biographischen Illusion“ (L'illusion biographique, 1986) ein. Sigmund Freud hielt bereits 1936 in einem Brief fest: „Die biographische Wahrheit ist nicht zu haben, und wenn man sie hätte, so wäre sie nicht zu brauchen.“ (Briefe an Arnold Zweig, 1968, S. 137). Und Robert Musils Essay-Roman Der Mann ohne Eigenschaften ist überhaupt ein großer ironischer Kommentar auf das Bedürfnis der Menschen, dem Leben durch eine erzählerisch konstruierte Ordnung Sinn zu verleihen: „Wohl dem, der sagen kann ‚als‘, ‚ehe‘ und ‚nachdem‘! Es mag ihm Schlechtes widerfahren sein, oder er mag sich in Schmerzen gewunden haben: sobald er imstande ist, die Ereignisse in der Reihenfolge ihres zeitlichen Ablaufes wiederzugeben, wird ihm so wohl, als schiene ihm die Sonne auf den Magen“ (Der Mann ohne Eigenschaften, 1930, S. 1043–1044).
Mit einer perfekt stringenten Erzählung verwöhnt Schübler seine LeserInnen dezidiert nicht. Vielmehr fordert er sie – mit Offenheit, Fragmentarität und Widerspruch. Er stellt, wie er im Vorwort ankündigt, „Fiktion und Fakten hart neben-, ja gegeneinander“ (S. 8) anstatt sie einer Synthese zu unterwerfen. Und er stellt den Konstruktionscharakter biographischen Wissens heraus, indem er darlegt, wie er es erlangt. Das Schlusskapitel Making of … a Torso oder Leere Kilometer zuhauf ist ein Protokoll der Mühen und Tücken und Freuden bei der Recherche nach Manuskripten, Buchausgaben sowie grundlegenden Lebensdaten – zu einer Person, von der weder Geburtsdatum noch -ort vorlagen, ja bei der selbst die Namenssituation (Bibiana, Maria, Lili, Liliana) unklar war: „Nun also die Geburts- und Taufbücher der zwölf Linzer Pfarren. Wieder Abend um Abend und Nacht für Nacht im heißen Sommer 2018, bis ich am 9. August um 2.30 Uhr früh bei der römisch-katholischen Pfarre ‚Heilige Familie (ehemalig St. Josef)‘ fündig wurde. Da ging ich dann ungern schlafen, es könnte ja, wenn ich aufwachte, alles nicht mehr wahr sein“ (S. 153).
Sympathisch selbstironisch gewährt hier ein Biograph Einblicke in sein Handwerk. Das ist nicht selbstverständlich. Eigene Arbeitsweisen und Erkenntniswege offenzulegen, macht sie kritisierbarer. Demgegenüber lässt der Absolutheitsanspruch von so manchem biographischen Großprojekt wenig Raum für alternative Sichtweisen. Viele bieten jene Ordnung und Gewissheit von Tatsachen, durch die sich LeserInnen „im Chaos geborgen“ fühlen (Der Mann ohne Eigenschaften, 1930, S. 1044). Dagegen zielt Schüblers unscheinbares Büchlein – es umfasst bei kleinem Format 180 Seiten; die Register und den Anmerkungsteil miteingerechnet – auf das ab, was man Ambiguitätstoleranz nennt: das Vermögen von Menschen, Uneindeutigkeiten zu akzeptieren. Das ist eine Grundbedingung nicht bloß für fachlichen Diskurs, sondern für pluralistische Demokratien überhaupt. Bibiana Amon. Eine Spurensuche zählt vor allem konzeptuell zu den spannendsten wissenschaftlichen Biographien der letzten Jahre.
Walter Schübler: Bibiana Amon. Eine Spurensuche. Wien: Edition Atelier, 2022, 184 S.