Es schreibt: Veronika Tuckerová
(E*forum, 12. 6. 2024)Am 30. April verstarb in New Jersey der in Prag geborene Germanist Peter Demetz (1922–2024), Autor zahlreicher literaturwissehschaftlicher Studien und mehrerer spannender Bücher über Prag. In seinem Buch Prague in Danger: The Years of German Occupation, 1939–45: Memories and History, Terror and Resistance, Theater and Jazz, Film and Poetry, Politics and War (2010) über Prag im Protektorat erinnert er sich daran, wie er als Angestellter einer Buchhandlung in der Prager Vodičkova-Straße die politischen Neigungen der Kunden einzuschätzen suchte, die auf der Suche nach damals „gefährlichen“ Autoren waren. Es hätte Provokateure unter ihnen geben können, und ihnen einen Döblin oder sogar einen Kafka anzubieten, hätte wahrscheinlich tragische Folgen gehabt (S. 119).
Nur wenige Jahre später, aber unter anderen politischen Umständen, verteidigte Demetz seine Dissertation mit dem Titel Einfluss von Franz Kafka auf die englische Literatur (1948) an der deutschen Abteilung der Karls-Universität. Bereits ein Jahr zuvor hatte er einen Beitrag im Sammelband Franz Kafka a Praha [Franz Kafka und Prag] veröffentlicht, einer Anthologie, die sowohl mit ihrem Titel als auch mit der Aufnahme von Dokumenten, Fotografien und Karten der mit Kafka verbundenen Orte verschiedene spätere Veröffentlichungen ähnlicher Art vorwegnahm. Für die Publikation steuerte Hugo Siebenschein eine kurze Studie über Kafka als Surrealisten bei, Emil Utitz erinnerte sich persönlich an den ehemaligen Klassenkameraden Kafka, und Edwin Muir (er und seine Frau Willa waren die ersten Übersetzer Kafkas ins Englische) schrieb eine Notiz über Kafkas Universalität und den epischen Charakter seiner Texte. In seinem Beitrag Franz Kafka a český národ [Franz Kafka und die tschechische Nation] erörterte Demetz Kafkas Verhältnis zu den Tschechen, wobei er die Methode des „kontrastiven Vergleichs“ mit R. M. Rilke anwendete. Rilke erntete hier harsche Worte: „Er, der sich einst weigerte, Tschechisch zu lernen, brüstet sich hier mit seinen Sprachkenntnissen. Es sind Worte, die er ohne große Mühe auf der Straße geschnappt hat […] ‚Prosím, hej, Slované, krejcar‘ usw.; alles vereinzelte Krümel, die als Beute eines Touristen wirken.“ Was Demetz bei Rilke fehlt, findet er aber bei Kafka („eine echte, intime und herzliche Beziehung“).
Demetz zitiert zustimmend Eisners Charakterisierung von Kafka, der „den dreifachen Fluch der Prager deutschen Juden bis ins Letzte durchlebte und durchdachte“, und verurteilt die Art und Weise, wie Rilke sich zu Julius Zeyer verhält: „Es ist peinlich genug, dass dieser Dichter, ein katholischer Mystiker seiner Generation, hier in Anspielung auf sein Jüdischsein als ‚Orientale‘ bezeichnet wird.“
Demetz war aufgrund seines familiären Hintergrunds als Sohn einer tschechisch-jüdischen Mutter und eines deutsch-katholischen Vaters sensibel in den Fragen des Judentums und des vielsprachigen und multiethnischen Prags. Demetz‘ Großvater, ein Schnitzer und Kaufmann, stammte aus Südtirol, einer Gegend, in der Ladinisch gesprochen wurde, zog in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts nach Prag und ließ sich in der Týnská-Straße nieder. Demetz‘ Vater, der Dramatiker, Regisseur, Dichter und Theaterleiter Hans Demetz, wirkte in Prag, Brünn, Berlin und Wien. Seine Eltern ließen sich vor dem Krieg scheiden, seine Mutter starb in Theresienstadt, Demetz wurde kurzzeitig in Berlin zwangseingesetzt, und später wurde die deutsche Buchhandlung in der Vodičkova-Straße zu seinem Zufluchtsort, dem er in seinen bereits erwähnten Memoiren „Prag in Gefahr“ ein Kapitel widmet, in dem er die historischen Kapitel auf originelle Weise mit persönlichen Erinnerungen durchsetzt, die kursiv gedruckt sind. Demetz widmet ein Kapitel dem Dichter Jiří Orten und seinem Freund Hans Werner Kolben, der 1945 in Dachau an Typhus starb. Demetz war der Herausgeber von Kolbens deutschsprachigem Gedichtband, der 2011 unter dem Titel Das Schwere wird verschwinden erschien.
Das Prager Umfeld bleibt Demetz‘ lebenslanges Thema. Seine Einschätzung der Koexistenz von Tschechen, Deutschen und Juden, so ungenau und fluid diese Kategorien auch sein mögen, haben sich allerdings mit der Zeit verändert. Es handelt sich dabei jedoch nicht unbedingt um einen Widerspruch, sondern eher um eine natürliche Unterscheidung zwischen den Beziehungen in verschiedenen Zeitspannen. Während er in einem Interview für Roš chodeš im Jahr 2010 die gegenseitige Abkapselung von Tschechen, Deutschen und Juden ablehnte (Eisners Konzept des dreifachen Ghettos käme „in der Literaturgeschichte gut an“, würde aber der Realität nicht entsprechen) und beschrieb, wie jeder mit jedem sprach und „es keine Grenzen gab“ (Roš chodeš, 6/2020), erwähnt er in seinen Erinnerungen an das Protektorat strikte Restriktionen: Die ethnische Zugehörigkeit drückte sich deutlich in der Kleidung aus, und wer in seiner Kleidung neutral bleiben wollte, hatte etwas zu verbergen; ein tschechisches Mädchen würde etwa niemals mit einem Deutschen ausgehen (S. 42–43). Prag, so schreibt Demetz, sei immer ein doppeltes oder dreifaches Ghetto gewesen, eine Behauptung, die meines Erachtens vor allem zeigt, inwieweit die Erinnerung an bestimmte Ereignisse allgemeine Behauptungen prägen kann und inwieweit bei ihrer Verwendung als methodischer Rahmen Vorsicht geboten ist.
1949 floh Demetz mit seiner ersten Frau Hanna über die Grenze nach Bayern. Er arbeitete zunächst in der tschechoslowakischen Redaktion von Radio Freies Europa (Radio Free Europe) und ging dann in die Vereinigten Staaten, wo er 1956 erneut an der Yale University in New Haven studierte und daselbst Professor für deutsche und vergleichende Literaturwissenschaft wurde (1962). Nach 1990 kehrte er häufig nach Prag, Brünn und Wien zurück, hielt bei diversen Anlässen Vorträge und veröffentlichte tschechische Versionen seiner Bücher.
Seine amerikanische Alma Mater schrieb nach seinem Tod, er sei ein Titan der Germanistik und Komparatistik gewesen: „Sein Leben und sein Werk gingen über die typischen akademischen Spezialisierungen nach Teilgebieten oder Epochen hinaus: Sein weiter intellektueller Horizont umfasste die deutschen und europäischen Klassiker, die tschechische und europäische Literatur und viele Generationen moderner und zeitgenössischer Literatur.“ Demetz‘ berufliche Interessen wurden in seiner Gymnasialzeit geprägt, und zu seinen wichtigsten Leitfiguren gehörten Rilke, Theodor Fontane und Kafka. Auf Deutsch veröffentlichte er ein Buch über Rilke, René Rilkes Prager Jahre (1953, tsch. 1998), Kafkas und Brods gemeinsame Italienreise war Thema in The Air Show at Brescia 1909 (dt. 2002 als Die Flugschau von Brescia. Kafka, d’Annunzio und die Männer, die vom Himmel fielen), das auch Demetz‘ Interesse am italienischen Modernismus zeigt; Bernard Bolzano widmete er einen deutschen Essayband (2013). Einen wichtigen Schwerpunkt stellte die Geschichte des Kinos dar, vgl. sein Buch Diktatoren im Kino. Lenin, Mussolini, Hitler, Goebbels, Stalin (2019, s. e*forum 13.1.2021); mit der Filmkultur beschäftigte er sich auch im bereits erwähnten Buch Prague in Danger. Die Geschichte Prags ist auch das Thema des Bandes Prague in Black and Gold (1997; dt. 2004 als Prag in schwarz und gold. Sieben Momente im Leben einer europäischen Stadt), der zu einem klassischen Handbuch über die Geschichte Prags von den Anfängen bis zur Beerdigung von T. G. Masaryk geworden ist, an der der junge Demetz teilnahm.
Die Verbindung von literarischer und historischer Gelehrsamkeit mit persönlichen Erinnerungen bildet in Demetz‘ Werken eine natürliche Einheit. Hinter dem Werk steht die Persönlichkeit. Er war einer der wenigen Menschen, die bis vor kurzem Zeugnis über die Welt vor dem Zweiten Weltkrieg ablegen konnten – eine andere solche Persönlichkeit war zum Beispiel die Germanistin Marketa Goetz Stankiewicz. Ich bin dankbar, dass ich Peter Demetz persönlich über das Prag seiner Jugend befragen konnte, zunächst im September 2008 in New York – er war aus New Jersey gekommen, wo er mit seiner Frau, der Romanistin Paola Gambarota, lebte –, als wir an der New York Public Library entlangliefen, und auch beim Mittagessen im Club der Yale University erzählte er mir von dem Buch mit Gedichten von Hans Kolben, an dem er arbeitete. Das zweite Mal traf ich ihn 2010 in Prag im Hotel an der Kreuzung I. P. Pavlova, an einer Hauptverkehrsstraße, in der Nähe vieler Pornoläden, was einen gewissen Kontrast zu dem Club in Manhattan, dem Ort unseres vorherigen Treffens, darstellte. Die Wahl des Ortes erschien mir seltsam, bis mir einfiel, dass er diesen Ort durch das Prisma seiner Jugenderinnerungen wahrnahm, die von dem heutigen Gesicht der Stadt nicht gestört werden können. Er kam gerne hierher zurück, in das Kaffeehaus Demínka, in die italienische Trattoria Cicala in der Žitná-Straße. Der Widmung des Buches fügte er seinerzeit in New York „with apologia“ hinzu. Ich weiß nicht, wofür sich dieser geborene Gentleman entschuldigt hat.
In seiner Einleitung zu Prag in Danger verglich er das Prag des Fin de Siècle mit New York; Prag erfinde sich als ausgesprochen multikulturelle Stadt neu, meinte er. Nach Böhmen und Mähren kehrte er wieder in seinem Essay, der 2017 im Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder veröffentlicht wurde, zurück. In der Einleitung wendet er sich gegen nationalistische Versuche, die Prager tschechische und die Prager deutsche Literatur gegeneinander auszuspielen. „Es ist eine schönere Aufgabe,“ schreibt Demetz, „die Horizonte offen zu halten, die anderen Prager Literaturen in ihrem Zusammenspiel zu betrachten und Prag zu einer europäischen Literaturmetropole ersten Ranges zu erheben“ (S. 412). Demetz‘ Beitrag und seine Botschaft sind eindeutig, unbestreitbar und unüberhörbar.
Übersetzung: Lukáš Motyčka