Es schreibt: Václav Petrbok

(E*forum, 10. 4. 2024)

In der Geschichte der tschechischen Literatur gelten die 1850er Jahre gewöhnlich als die Zeit der „lebendig Begrabenen“. Dieses aus dem Zusammenhang gerissene Bonmot stammt von einem der Akteure dieser noch immer wenig erforschten Phase und ist zu einer Art bequemen Beschwörungsformel geworden, die von einer weniger voreingenommenen Betrachtung immer noch abzuschrecken scheint. Es fehlen nach wie vor Untersuchungen, die u. a. die damals noch übliche mehrsprachige Praxis der später nur tschechisch schreibenden Autoren und auch die Existenz damit verbundener Publikationsorgane – Zeitungen, Zeitschriften, Verlage, die sich auch sozusagen außerhalb des Milieus befanden, reflektieren würden. Einige kanonische Werke der tschechischen Literatur aus dieser Zeit (etwa Erbens Kytice, Němcovás Babička) sowie die kreativen Leistungen der damaligen Debütantinnen (S. Podlipská, K. Světlá) und Debütanten (V. Hálek, J. Neruda) werden aus der Perspektive ihres späteren Werks betrachtet, ohne dass der literarische Kontext der Zeit berücksichtigt wird, etwa die dezentralisierte Literatur in deutscher Sprache (einheimischer, österreichischer und auch im weiteren Sinne des Wortes deutscher Provenienz), wobei man sich nicht selten auf die Aussagen der Autoren selbst beruft, die ihre Inspirationsquellen – entweder als Teil ihrer erworbenen nationalistischen Überzeugungen oder aus einem natürlichen literarischen Emanzipationsbedürfnis heraus – verleugneten.

 

Zuzana Urválková, die sich seit langem und auf hohem Niveau mit den tschechisch-deutschen Literaturbeziehungen vor allem in den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts beschäftigt, demonstriert in ihrer Publikation Tajemství úspěchu. Německojazyčná knižnice Album nakladatele Ignáce Leopolda Kobra v širších literárních souvislostech [Das Geheimnis des Erfolgs. Die deutschsprachige Bibliotheksreihe Album des Verlegers Ignác Leopold Kober in einem breiteren literarischen Kontext], wie unhaltbar diese isolationistischen Vorstellungen über eine Art „Abgeschottet-Seins“ des tschechischen Schrifttums in der Zeit des „Bach-Absolutismus“ sind. Es muss allerdings nicht gleich das Gegenteil behauptet werden – es wäre auch nicht glaubwürdig: Die Literatur stand zu dieser Zeit, genauso wie der gesamte öffentliche Raum (wenn auch mit unterschiedlicher zeitlicher Intensität), unter dem wachsamen Auge der staatlichen Behörden, die nicht zögerten, zu drastischen Präventivmaßnahmen zu greifen, um für „Ruhe und Ordnung“ zu sorgen. Umso bemerkenswerter muss es erscheinen, wie Kober, der allenfalls als Verleger in Erinnerung geblieben ist, sich aktiv für die Literaturen beider Sprachen einsetzte. Man muss sein Organisationstalent, der sich auf ungewöhnlich tiefe literarische und journalistische Kenntnisse stützte, seinen wirtschaftlichen Scharfsinn und seine Bereitschaft, die gesellschaftlich und künstlerisch noch wenig angesehene tschechische Literatur, ihre Autoren und Leser zu fördern, nur schätzen. Mit geradezu archäologischem Interesse und interpretatorischem Scharfsinn liefert die Autorin zunächst eine gründliche Biographie Kobras (einschließlich des bisher selten erwähnten Engagements für die deutschsprachige Produktion), verfolgt dann gezielt das Schicksal des „Flaggschiffs“ seines Verlags – des erwähnten Albums sowie eine Reihe von parallelen Editionsreihen, korrigiert unzutreffende Aussagen über die angeblichen Nachdrucke oder das Überwiegen sogenannter Trivialwerke in seinem verlegerischen „Portfolio“. Völlig neu sind die Feststellungen zu den „externen Faktoren des kommerziellen Erfolgs“ des Albums, darunter die Zeitgeistreflexion oder die Höhe der Honorare. Mit dem Kapitel über die Verlegerin Kateřina Jeřábková und deren tschechisch sprachige Romanreihe legt Urválková den Grundstein für ihre weitere Forschungen, die im Titel allzu bescheiden als „breiterer literarischer Kontext“ bezeichnet werden, und präsentiert glaubwürdige genologische und übersetzungswissenschaftliche Analysen von Texten, die in tschechischer und deutscher Sprache (z. B. von K. Gutzkow) verfasst wurden und beiderseits inspirierend in dem von beiden Verlagen geschaffenen literarischen Feld zirkulierten. Insbesondere das damals literarisch fortschrittliche „Genrebild aus dem Leben“ war bereits seit den 1840er Jahren ein Markterfolg, sowohl im deutschsprachigen als auch im tschechischen Umfeld. Das lag natürlich auch an den zahlreichen Übersetzungen aus dem Französischen ins Deutsche, und andererseits regte das Interesse an dieser Gattung die ersten Übersetzungen dieser Literatur aus dem Englischen ins Tschechische an. Die Autorin lässt den Leser jedoch nicht verschnaufen und analysiert im sechsten Kapitel ausführlich die komplexen Beziehungen zwischen den Texten von Paul de Musset, Karl Gutzkow und Božena Němcová, wobei sie Berührungspunkte im narratologischen, thematischen und poetologischen Bereich aufzeigt, die auch zu einer Transformation der ursprünglichen Gattungsposition führen. Anschaulicher als die Autorin kann man die damals üblichen kreativen Adaptionspraktiken kaum beschreiben, die – wie ich oben allgemein angedeutet habe – die Überzeugung von einer isolierten Entwicklung einer Literatur (sei es der tschechisch oder deutschsprachigen) unterlaufen. Im letzten Kapitel des vorliegenden Buches wird das Streben nach einer „realistischen“ Literatur, die sich von der bisherigen spätromantischen Literatur unterscheidet, durch programmatische Studien bestätigt, die in Kobers kunst- und literaturkritischem Organ Kritische Blätter für Literatur und Kunst veröffentlicht wurden. Aus Platzgründen war Urválková nicht mehr in der Lage, andere möglichen Parallelen zu verfolgen, z. B. zwischen den Überlegungen von Sabina oder Neruda und den Ansichten der Herausgeber der Kritischen Blätter Schmidt Weisenfels oder I. J. Hanuš.

 

Summa summarum: Zuzana Urválková ist es gelungen, eine faszinierende Publikation nicht nur über den Verleger Kober und seine verdienstvolle Belletristik-Edition zu verfassen, sondern auch die eher immer noch nur geahnten Konturen der literarischen Landschaft der böhmischen Länder in den 1850er Jahren überzeugend darzustellen, die trotz des politisch repressiven Regimes in beiden Sprachen effektiv zum Wohle der Kultur des gemeinsamen Landes zusammenwirkten.

 

 

Zuzana Urválková: Tajemství úspěchu. Německojazyčná knižnice Album nakladatele Ignáce Leopolda Kobra v širších literárních souvislostech. Brno: Host, 2022, 444 S.


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